Heraus aus der Vergessenheit. Deutsche und Polen in Niederschlesien - zwischen Ablehnung, Anpassung und Annäherung

Heraus aus der Vergessenheit. Deutsche und Polen in Niederschlesien - zwischen Ablehnung, Anpassung und Annäherung

Organisatoren
Haus Schlesien; Dokumentations- und Informationszentrum für schlesische Landeskunde, Königswinter; Kulturreferentin für Schlesien, Görlitz
Ort
Wałbrzych
Land
Poland
Vom - Bis
01.10.2015 - 04.10.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Inge Steinsträßer, Bonn; Adam Wojtala, Königswinter

70 Jahre nach Kriegsende rücken Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus den bei der Sowjetunion verbliebenen polnischen Gebieten nochmals in den gesamtgesellschaftlichen Focus. Millionen von Menschen wurden als Folge des Zweiten Weltkrieges gewaltsam ihrer Heimat beraubt und mussten eine neue Bleibe finden. Die von der Bevölkerungsverschiebung betroffenen Staaten in Mittel- und Südosteuropa erhielten ein neues Gesicht. Vor allem in den Medien wurden während des ganzen Jahres 2015 Rückbesinnung, Erinnerungen und politische Konsequenzen unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert.

Schon im Juli 2014 hatte sich eine Fachtagung im Haus Schlesien mit dem in der Öffentlichkeit wenig bekannten Schicksal einer nahezu geschlossenen Gruppe von 30.000 deutschen Bergleuten und Textilfacharbeitern in der Region Waldenburg und Landeshut befasst. Die deutschen Fachkräfte waren im neuen Polen in den Wirtschaftszweigen Bergbau und in der Textilindustrie zum Wiederaufbau des Landes dringend erforderlich. Ausreichend geschulte polnische Kräfte standen nicht zur Verfügung, die in ganz Europa propagierte polnische Siedlungsbewegung brachte mengenmäßig nicht den gewünschten Erfolg. Im Rahmen der Reformationsdekade widmete sich die Tagung im Haus Schlesien schwerpunktmäßig der unfreiwilligen Ökumene zwischen den mehrheitlich deutschen evangelischen Christen und der katholischen Minderheit im Waldenburger Bergrevier.

Bereits im Laufe der Tagung wurde der Gedanke wach, im Folgejahr eine Fortsetzungsveranstaltung in Schlesien anzubieten, unter Einbeziehung der Erfahrungen der heimatverbliebenen Deutschen und den in Schlesien angesiedelten polnischen Neubürgern. Aus Bevölkerungsgruppen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen, Kulturen, Lebens- und Bildungsstandards sowie gegenseitigen Vorurteilen hatte sich hier eine neue Gesellschaft formen müssen, die auf diese Aufgabe nur äußerst unzureichend vorbereitet war. Der Not gehorchend mussten sich die Menschen irgendwie miteinander arrangieren.

Federführend für das Kooperationsprojekt in Waldenburg zeichnete die Kulturreferentin für Schlesien, Annemarie Franke, Görlitz, im Verbund mit dem Dokumentations- und Informationszentrum von Haus Schlesien, der Kirchlichen Stiftung Evangelisches Schlesien, Görlitz und Inge Steinsträßer, Bonn. Kooperationspartner in Schlesien waren die Staatliche Fachhochschule Waldenburg/ Wałbrzych (Państwowa Wyższa Szkoła Zawodowa im. Angelusa Silesiusa) und der Deutsche Freundschaftskreis Waldenburg (Niemieckie Towarzystwo Społeczno-Kulturalne w Wałbrzychu). Gefördert wurde die Fachtagung von der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

Tagungszentrum war die Angelus-Silesius-Fachhochschule in Waldenburg. Besonders hilfreich wirkte hier eine Simultanübersetzung, die allen Teilnehmenden das Mithören und -diskutieren in der jeweiligen Muttersprache ermöglichte. Insgesamt nahmen fast 100 Interessenten an der Veranstaltung teil.

KRZYSZTOF RUCHNIEWICZ (Wrocław), Direktor des Willy Brandt-Zentrums für Deutschland und Europastudien an der Universität Wrocław, eröffnete den gesamten Fragenkomplex durch ein Grundsatzreferat über die Nachkriegszeit in Niederschlesien. Ruchniewicz erläuterte zunächst kurz die komplizierten Folgen der polnischen Teilungen, insbesondere im Verhältnis zwischen dem 1918 neu erstandenen polnischen Staat und dem benachbarten Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in Polen bezüglich der Gebietsveränderung und der Bevölkerungsverschiebung ein „scharfer Kampf“ zwischen den polnischen Kommunisten und ihren Gegnern. Nach den Leiden unter der deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 hatte sich in Polen gesamtgesellschaftlich eine massive antideutsche Haltung aufgebaut, die sich bei der Vertreibung der deutschen Bevölkerung entlud. Polen hatte kein Mitleid mit dem Schicksal der Deutschen. Erst nach der politischen Wende entstand ein Bewusstsein für das deutsche Leid. Wurde zuvor die Vertreibung insgesamt als gerecht akzeptiert, kamen jetzt Zweifel auf, ob bei der Durchführung grundlegende Menschenrechte missachtet worden waren. Das „Was“ der Vertreibung wurde nach wie vor als richtig betrachtet, die Fragestellung richtete sich nun auf das „Wie“. Häufig begangene Plünderungen im großen Umfang deutete Ruchniewicz nicht nur mit fehlender Sicherheit und öffentlicher Ordnung, sondern er sah deren Ursache in einem „bestimmten Gefühl“ vieler Polen, nicht für immer in den neuen Gebieten bleiben zu dürfen. Als Ursache für die mangelnde pflegliche Behandlung des deutschen Kulturgutes bezeichnete der Referent das Erbe des Totalitarismus in Polen.

In der politisch wie menschlich überaus schwierigen Situation nach 1945, verschärft durch die bitteren Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, waren Deutsche und Polen aufeinandergetroffen und mussten sich irgendwie miteinander arrangieren. Dies betraf neben der staatlichen und gesellschaftlichen Situation auch die religiöse Praxis. Da die deutschen kirchlichen Strukturen zusammengebrochen waren, wurde das Gemeindeleben von wenigen verbliebenen deutschen Geistlichen beider Konfessionen, aber auch von einer rührigen Laienarbeit, getragen. Für die überwiegend katholischen Polen hatte es zuvor kaum Gelegenheit gegeben, mit evangelischen Christen zusammen zu treffen. Die bisherige evangelische deutsche Kirchenprovinz Schlesien (Evangelische Kirche der altpreußischen Union) wurde nach 1945 mit ihren Kirchenkreisen östlich von Oder und Neiße in die Evangelisch-Augsburgische Kirche Polens (Kościół Ewangelicko-Augsburski w Polsce) eingegliedert. Die Schwierigkeiten der Bekennenden Kirche in Schlesien vor und nach Kriegsende, die geistliche Situation der verbliebenen evangelischen Christen im Waldenburger Land und die Hintergründe des nicht konfliktfreien Eingliederungsvorgangs machte MARGRIT KEMPGEN (Görlitz) von der Kirchlichen Stiftung Evangelischer Schlesier deutlich, ergänzt durch ein Referat von Pfarrer ULRICH HUTTER-WOLANDT (Berlin) über den evangelischen Seelsorger Werner Schmauch sowie einen praktischen Bericht aus der deutschsprachigen Seelsorge von ANDRZEJ FOBER (Wrocław), Pfarrer an der evangelischen Christophorikirche.

Die katholische Deutschenseelsorge wurde nach 1945 mehr oder weniger von der polnischen Kurie in Breslau geduldet, jedoch letztlich nicht aktiv unterstützt. Darüber informierte INGE STEINSTRÄSSER (Bonn) exemplarisch anhand ihrer Ausführungen über Pater Nikolaus von Lutterotti OSB und dessen Wirken für die katholische Restgemeinde und die ökumenische Seelsorge in Grüssau und im oberen Waldenburger Bergrevier. Etwa ab 1948 ließ sich ein Wandel zum Besseren im Verhältnis der polnischen Zuwanderer und der deutschen Restbevölkerung registrieren. Bei den Polen verminderten sich allmählich die kriegsbedingten Ressentiments und bei der deutschen Restbevölkerung führte das jahrelange Zusammenleben mit den polnischen Neubürgern zum Abbau mancher Vorurteile. Mit Beginn der 1950er-Jahre, nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR, gestattete die polnische Regierung den verbliebenen Deutschen in dieser Region eine rege muttersprachliche Tätigkeit auf schulischem, kulturellem und kirchlichem Gebiet. Die meisten Deutschen reisten jedoch Ende der 1950er-Jahre im Wege der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik Deutschland aus. Durch diese späte Aussiedlung entwickelten sich in Einzelfällen deutsch-polnische familiäre Bindungen, was das deutsch-polnische Verhältnis in der Region positiv beeinflusste.

Der regionale Bezug zum Tagungsthema kam während der Tagung augenfällig zum Tragen durch die intensive Verknüpfung des Bergbaus mit der Stadtgeschichte Waldenburgs. Dies wurde in Stadterkundungen und Exkursionen (darunter der Besuch des Kulturzentrums „Stara Kopalnia“) in die Umgebung deutlich. Das Thema wurde durch den Vortrag von JERZY KOSMATY (Waldenburg) abgerundet: der pensionierte Bergwerksdirektor und ehemaliger Leiter des Bergwerksmuseums in Waldenburg, bestens mit den Verhältnissen vor Ort vertraut, stellte die Entwicklung des regionalen Bergbaus in Vergangenheit und Gegenwart dar.

Einen breiten Raum nahmen während der Tagung verschiedene Zeitzeugengespräche ein, ergänzt von eindrucksvollen Zeitzeugnissen. Gesprächspartner waren sowohl vertriebene Waldenburger, die bereits 1945/46 ihre Heimat verlassen mussten, als auch Spätaussiedler der Fünfzigerjahre und heimatverbliebene Deutsche, die in Waldenburg blieben, sich ins neue Polen integrierten, ohne ihre Identität zu verlieren und sich heute gemeinsam mit polnischen und deutschen Mitstreitern um die Wahrung des deutschen Kulturerbes kümmern. An allen persönlichen Schicksalen wurde nochmals die Unsinnigkeit von Krieg, Gewalt und Vertreibung deutlich, aber auch die sich langsam entwickelnde Annäherung von Polen und Deutschen. Durch das zunächst unfreiwillige Zusammenleben, insbesondere aber durch die jahrelange gemeinsame Arbeit konnten Gräben überwunden, Wunden geheilt und Vertrauen geschaffen werden.

Drei junge Nachwuchswissenschaftler, teilweise aus den Reihen der deutschen Minderheit stammend, hatten sich mit ausgewählten Fallstudien aus der Nachkriegsgeschichte in den Kreisen Waldenburg und Landeshut beschäftigt. Thematisch ging es um die Übernahme der evangelischen Kirchen durch Staat und Kirche, um das Schicksal der evangelischen Kirche in Rothenbach und über Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Region Waldenburg. Anhand dieser Berichte und der regen Diskussion zum Abschluss der Tagung wird deutlich, dass einstmalige Tabu-Themen heutzutage offen und sachlich diskutiert werden und sich wohltuend von mancher Geschichtsklitterung früherer Jahrzehnte absetzen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch die Veranstalter und Vertreter der Stadt

Krzysztof Ruchniewicz (Breslau): Niederschlesien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

Jerzy Kosmaty (Waldenburg): Der Bergbau im Waldenburger Land in den Nachkriegsjahren. Unfreiwillige deutsch-polnische Zusammenarbeit

Margrit Kempgen (Görlitz): Die Situation des geistlichen Lebens der verbliebenen Deutschen. Kirchen und Gemeinden in Waldenburg/Wałbrzych und Landeshut/Kamienna Góra in der Nachkriegszeit

Inge Steinsträßer (Bonn): Die Situation der katholischen Restgemeinde und ökumenische Seelsorge am Beispiel des Wirkens von Pater Nikolaus von Lutterotti, Abtei Grüssau/Krzeszów

Ulrich Hutter-Wolandt (Berlin): Werner Schmauch – ein evangelischer Seelsorger auf gewundenen Pfaden

Parallele Zeitzeugengespräche. Zur Ökumene und zum Verhältnis zwischen Deutschen und Polen in den Jahren 1945-58. Bernhard Grund (Rheinbach), Joachim Köhler (Tübingen), Edgar Kraus (Cottbus), Karl-Heinz Wehner (Oldenburg), Doris Stempowska, (Książ/Fürstenstein)

Andrzej Fober (Breslau): Zur Situation der Ökumene in Niederschlesien aus der Sicht der evangelisch-augsburgischen Kirche in Polen nach 1945 und heute

Tomasz Nochowicz (Waldenburg): Die Übernahme der evangelischen Kirchen im Kreis Waldenburg/Wałbrzych durch Staat und Kirche

Natalia Południak (Gottesberg): Die evangelische Kirche in Rothenbach/Gorce in der Nachkriegszeit

Aleksander Karkosz (Breslau): Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Großraum Waldenburg


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