Ökonomien tierischer Produktion. Mensch-Nutztier-Beziehungen in industriellen Kontexten

Ökonomien tierischer Produktion. Mensch-Nutztier-Beziehungen in industriellen Kontexten

Organisatoren
Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
29.05.2015 - 30.05.2015
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Von
Kjell Blank, Institut für Europäische Ethnologie Universität Wien

In dem Eröffnungsvortrag setzte DOROTHEE BRANTZ (Berlin) thematische Schwerpunkte, die im Verlauf der Tagung immer wieder eine Rolle spielen sollten. Zum einen behandelte sie die historische Dimension der Kategorie ‘Nutztier’, die einen Wandel vom ‘Nutzvieh’ zum ‘-tier’ erfahren hat. Zum anderen wurde die ‘Unsichtbarkeit’ von Nutztieren im Alltag angesprochen und ebenfalls aus einer historischen Perspektive von Industrialisierung und Globalisierung betrachtet. Brantz forderte, dass die Forschung zu Mensch-Tier-Beziehungen interdisziplinär zwischen Sozial- und Naturwissenschaften stattfinden müsste und weniger die Unsichtbarkeit von Nutztieren zum Thema haben, sondern vielmehr deren Sichtbarkeit deutlicher machen sollte. Dazu würde es ein radikales Infragestellen der Grenzen zwischen Mensch und Tier brauchen, um Tiere soweit in die Forschung zu integrieren, dass man mit ihnen forsche und nicht bloß über sie.

Im ersten Panel der Tagung referierten BARBARA WITTMANN (Regensburg) und VERONIKA SETTELE (Berlin) über Tiernutzungen. Barbara Wittmann ging in ihrem Beitrag auf die intensivierte Tierhaltung im genannten Zeitraum ein, indem sie die Verbandszeitschrift der deutschen Geflügelwirtschaft einer Diskursanalyse unterzog. Ihr Anliegen war es, branchenimmanente Argumentationsstrategien offen zu legen und damit gleichzeitig auf gesellschaftlichen Strukturwandel zu verweisen. Wittmann zeichnete die Phasen der Intensivierung der Nutztierhaltung am Beispiel des Huhnes nach, von den ersten, experimentierenden Versuchen, sich auf einen gesteigerten Konsum nach dem zweiten Weltkrieg seitens der Landwirtschaft einzustellen, über den Zenit der Intensivierung während der 1960er-Jahre, wo ein Positivdiskurs in der Geflügelindustrie hinsichtlich der Ökonomie herrschte, bis zur Tierschutzdebatte Anfang der 1970er-Jahre, die ein Hinterfragen der massiven Käfighaltung zur Folge hatte.

Veronika Settele widmete sich zwar einer anderen Spezies, doch auch sie thematisierte gesellschaftliche Veränderung durch die Betrachtung von Tierhaltung und den dort stattgefundenen Prozess von Modernisierung. Im Vortrag wurde die Frage nach agency des Tieres aufgeworfen, weil die Haltung des Tieres insofern auf dessen Wohlbefinden ausgerichtet würde, als dass die produktive Leistung bei schlechten Haltungsbedingungen nachließe. So würde das Tier quasi seine Lebensbedingungen mitbestimmen. Während der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass sich gerade diese Fragen nach agency und den Akteuren, die legitim über Tierwohl sprechen und entscheiden dürfen, bei vielen TeilnehmerInnen akut aufdrängten.

JAN TAUBITZ (Erfurt) und RAFFAELA SULZNER (Wien) knüpften thematisch an das Thema Tiernutzungen an, betrachteten jedoch andere Formen von Nutztieren. In den 1980er-Jahren brach die bis dorthin florierende Pelzindustrie in Deutschland wirtschaftlich zusammen. Jan Taubitz nahm die abrupte Transformation dieses Wirtschaftszweiges als Ausgangspunkt seines Vortrages, um einerseits diesen Wandel in der Industrie nachzuvollziehen, andererseits eine gesellschaftliche Zäsur in gewissen Lebensbereichen zu behaupten, wie dem Aufkommen von neuen sozialen Bewegungen, die sich dem Tierschutz widmeten. Außerdem würde man anhand des Stellenwertes vom Pelz einen Wandel im Selbstbewusstsein von Frauen ablesen können. So hätte einmal auf dem Höhepunkt einer erfolgreichen Ehefrauenkarriere der vom Ehemann geschenkte Pelz gestanden, der aus der Perspektive von emanzipierteren, berufstätigen Frauen in dieser Lesart als Symbol für Unfreiheit gegolten haben musste. So kristallisierte sich als das fundamentale Problem der Pelzindustrie, das sich verändernde Frauenbild während der 1980er-Jahre heraus.

Der Vortrag von Raffaela Sulzner bot einen Einblick in ihre Masterarbeit und handelte von städtischen Imkerinnen und Imkern und deren Verhältnis zur Biene und der Praxis des Imkerns. Ein interessanter und immer wiederkehrender Aspekt in dieser Forschungsarbeit war, die Rolle der Biene als Akteurin zu betrachten. Beispielsweise wenn es um die Gestaltung des Arbeitsalltages ging, worauf die Bienen einen großen Einfluss ausüben würden. Andererseits wird der ‘Arbeitsalltag’ der Biene wiederum von den Imkerinnen und Imkern beeinflusst. Raffaela Sulzner sprach in diesem Zusammenhang von “Hybridakteuren”, die innerhalb eines Netzwerks zueinander in Beziehungen stünden. So würde allein der Begriff ’Imker’ ohne die Biene keinen Sinn ergeben.

Im anschließenden Panel stand der Schlachthof als Forschungsgegenstand im Mittelpunkt. Der Beitrag von MARKUS KURTH (Hamburg) richtete einen soziologischen Blick auf den Schlachthof mit der Frage, wie man die Tiere und tierische agency in die Theorie bekommen könnte. In der Außenwahrnehmung von Schlachthöfen würden in erster Linie Dinge wie Technik, Automatisierung oder Arbeit im Fokus stehen, das Tier dabei keine Rolle spielen. Als Zugang für seine Überlegungen wählte Kurth zwei Geschichten von Kühen, die aus einem Schlachthof geflohen sind, um daran auf Brüche und Widersprüche hinzuweisen, die in der medialen Betrachtung dieser Ausbruchsszenarien und der in der Folge individualisierten Kühe entstehen. Im Moment des Ausbruchs und dem Ausgebrochen-sein der Kuh, würde ihr Subjektivität zugesprochen werden, die sie als Schlachtvieh nicht bekommen würde. Durch solche Ausbrüche und die dazu gehörigen Narrative würde die Distanz der Menschengesellschaft zur Tierproduktion sichtbar werden. Subjektivität, Lebendigkeit und agency wären unter der Oberfläche des Schlachthofes vorhanden.

LUKASZ NIERADZIK (Wien) ging auf den Aspekt der Sichtbarmachung ein. Bei dem von ihm untersuchten Schlachthof St. Marx handelte es sich um den größten Schlachthof der Habsburger Monarchie. In der historischen Kulturanalyse dieses Ortes ließen sich paradigmatische Prozesse gesellschaftlichen Wandels sichtbar machen. Zwei Dimensionen gerieten in diesem Kontext besonders in den Fokus: die Technik und die Körperlichkeit. Mit der Technik hingen zunächst ein Schlachten am Fließband und der Wandel der Fleischerpraktiken zusammen. Durch das Arbeiten im sogenannten Hallensystem wurde die konkrete Arbeit vor Ort sicht- und kontrollierbar. Das Töten der Tiere allerdings wird gesellschaftlich unsichtbar, weil es von den Behörden an die städtische Peripherie ausgelagert wurde und sich nun dort konzentrierte. Zur körperlichen Dimension gehörte es, dass sich die Vorstellung vom Tier änderte und es vermehrt als Roh- und Werkstoff betrachtet wurde. Schlachten, so Nieradzik, wird entsinnlicht, indem man das Tier vor dem Töten betäubt und damit seiner Sinne beraubt.

Am Abend folgte ein öffentlicher Vortrag von ERNST LANGTHALER (St. Pölten/Wien). Langthaler sprach aus einer global-historischen Perspektive von einem modernen Fleischkomplex, den man ab der Mitte des 19.Jahrhundert konstatieren könne, weil sich ab da der Fokus auf Fleisch in der Ernährung manifestiert hätte. Seine Überlegungen sind eingebettet in ein globales Akteur-Netzwerk zwischen verschiedenen Orten. Er teilte den Prozess der Globalisierung in drei historische Phasen, in denen sich der Konsum und die Produktion von Fleisch entwickelten. Hier wurde der Bezug zum Ort des Schlachthofes deutlich, an dem Tiere gesellschaftlich unsichtbar gemacht wurden, nachdem sie durch Zucht und Mästung zur technisch-manipulierten Ware geworden waren. Er sprach von Black Boxes (nach Upton Sinclair) eines globalisierten und industrialisierten Systems, in denen die Fleischproduktion stattfinden würde. Außerdem machte Langthaler den Fleisch-Komplex als Kern der Ursache von inter- und intraregionalen Ungleichheiten aus, die im globalisierten Agrar- und Ernährungssystem vorherrschend wären.

Am Samstag eröffneten SUSANNE WAIBLINGER (Wien) und MICHAELA FENSKE (Berlin) mit ihren öffentlichen Vorträgen den Tagungstag. Mit einem Blickwinkel der angewandten Ethnologie betrachtete Susanne Waiblinger das Verhältnis des Tierhalters zum Nutztier. Sie plädierte für eine tiergerechte Haltung, die sich nach den Bedürfnissen der Tiere richte. Da der Mensch den Rahmen der Tierhaltung und damit auch den der Beziehung zum Tier vorgeben würde, müsste auf dieser Seite ein größeres Verständnis für die Tiere geschaffen werden. Das sollte außerdem einen positiven Effekt auf die Leistung des Tieres zur Folge haben.

Michaela Fenskes Vortrag thematisierte aus kulturwissenschaftlicher Sicht ebenfalls die Unsichtbarkeit von Nutztieren in der öffentlichen Wahrnehmung. So würde in der Beschäftigung mit Tieren immer noch eine anthropozentrische Perspektive dominieren. Auch in Wissenschaftszweigen wie den Human-Animal-Studies, die vorwiegend Haus- und Wildtiere in den Fokus nehmen würden. So wäre es angebracht, diesen Fokus auf Nutztiere zu erweitern.

Das anschließende Panel begann mit einem Vortrag von INA BOLINSKI (Bochum) und ging vom Zaun als Verhandlungsort zwischen Mensch-Tier-Beziehungen aus. So gab es innerhalb einer Kulturgeschichte der Domestizierung von Tieren immer schon eine Kulturtechnik des Errichtens von Zäunen. An dieser Praxis ließen sich Fragen nach Wirkung von Begrenzungen auf die Beziehung von Mensch und Nutztier, nach Besitzansprüchen durch Einzäunung und Markierung oder nach Aushandlungen und Transformationen von sozialen zum ökonomischen Gefüge der Menschen in Bezug zu ihren Tieren stellen. Bolinski nahm als untersuchenswertes Beispiel das sogenannte smart farming, in dem Zäune nur noch virtuell existieren, um zu schauen, ob und auf welche Art sich die Beziehungen dadurch veränderten.

MARCEL SEBASTIAN (Hamburg) bot ebenfalls eine Perspektive auf den Schlachthof, allerdings konzentrierte er sich auf die ArbeiterInnen. Er beschrieb die systematisierte und industrielle Tötung von Tieren als ambivalente soziale Praxis, die von den Akteuren auch als solche wahrgenommen würde. Durch die Akteurszentrierung seiner Forschung, versuchte er Strategien zur Bewältigung der Ambivalenzen offenzulegen.

JADON NISLY (Bamberg) nahm aus einer umwelthistorischen Perspektive einen schon vorher während der Tagung diskutierten Punkt auf: die Frage nach der agency von Tieren. Man könnte bei Nutztieren nicht nur von Produkten sprechen, sondern müsste sie auch als Produzenten in den Blick nehmen. An dem historischen Fallbeispiel hinterfragte er, wie wirkmächtig Vorstellungen von eingesperrten und immobilen Tieren waren oder es noch sind.

Der Vortrag von KERSTIN WEICH (Wien) thematisierte Repräsentationen von Nutztieren. Sie nahm die These vom Verschwinden der Tiere aus modernen Gesellschaften zum Ausganspunkt, um zu untersuchen, wie bestimmte Topoi in der Wahrnehmung von Nutztieren dominant wären.

CHRISTIAN DÖLKER (München) ging auf populäre Zuschreibungen von nützlichen Tieren ein, indem er Artikel über Tiere in der Gartenlaube analysierte, einem illustrierten Familienblatt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Vortrag versuchte über den populären Diskurs über Tiere, die Fragmentierung derselben nachzuvollziehen.

Die Podiumsdiskussion konzentrierte sich auf ethische Fragen, einerseits aus einer aktivistischen Perspektive (MARTIN BALLUCH, Wien), andererseits aus einer philosophischen (HARALD LEMKE, Lüneburg / Salzburg). Vor allem die Frage nach der ethisch legitimen Nutzung von Tieren wurde diskutiert, hinsichtlich kulinarischer Bedürfnisse und ökonomischer Zwänge. In der Behauptung des Tieres als Subjekt, also als agent, würde die Anwendung von Gewalt gegenüber dem Tier hinsichtlich seiner Nutzung zum Problem werden.

Die Tagung hat deutlich werden lassen, dass die Frage nach agency von Tieren und wie sich diese in Theorie und Forschungspraxis integrieren lassen würde, ebenso dringlich wie kompliziert zu sein scheint. Außerdem wurde erkennbar, dass es viele Momente im Verhältnis vom Menschen zu Nutztieren gibt, in denen man von Unsichtbarkeit der Tiere im Rahmen von Produktionsverhältnissen sprechen kann. Ein Anliegen der verschiedenen Forschungen wird es folglich sein, Nutztiere in ihrem ökonomischen und gesellschaftlichen Stellenwert sichtbar zu machen und implizit zu einer Verbesserung ihrer Situation beizutragen. Um diesem Anspruch wissenschaftlicher Forschung gerecht werden zu können, wird es notwendig sein, verstärkt den interdisziplinären Dialog zwischen Kultur- und Naturwissenschaften zu suchen. Es wird wichtig sein, verschiedene fachliche Expertisen miteinander zu verknüpfen, um wissenschaftlich legitimiert über Themen wie Tierwohl oder Haltungsbedingungen sprechen zu können. Denn der Themenkomplex der Mensch-Nutztier-Beziehungen und seine Problemlagen sind so facettenreich und komplex, dass es verantwortungslos wäre, sich diesen nur aus einer disziplinären Richtung zu nähern.

Konferenzübersicht

Eröffnung

Begrüßung: Claudia Theune-Vogt (Wien)

Einführung: Brigitta Schmidt-Lauber (Wien) und Lukasz Nieradzik (Wien)

Öffentlicher Eröffnungsvortrag
Dorothee Brantz (Berlin): Tierische Ökonomien im Industriezeitalter: Eine Annäherung

Panel „Tiernutzungen I“
Moderation: Christine Leeb (Wien)

Barbara Wittmann (Regensburg): Vom Mistkratzer zum Käfighuhn. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die deutsche Geflügelwirtschaft zwischen 1948 und 1980

Veronika, Settele (Berlin): Gesellschaftliche Modernisierung im Kuhstall: Zur sozialen, politischen und ökonomischen Aussagekraft der Rinderhaltung im 20. Jahrhundert

Panel „Tiernutzungen II“
Moderation: Alexandra Schwell (Wien)

Jan Taubitz (Erfurt): Aus Pelz – Pelz aus. Der Wandel der Pelzindustrie in den 1980er Jahren

Raffaela Sulzner (Wien): Von den guten Bienen – Bienenstock-Interventionen am Beispiel urbaner Imkerei in Wien

Panel „Räume / Zeiten I“
Moderation: Peter Moser (Bern)

Markus Kurth (Hamburg): Ausbruch aus der Schlachthofordnung – Das Ereignis der Flucht als das Außen der industriellen Tierproduktion

Lukasz Nieradzik (Wien): Der Wiener Schlachthof St. Marx 1851-1914: Transformation einer Arbeitswelt

Öffentlicher Abendvortrag
Ernst Langthaler (St. Pölten/Wien): Tiere mästen und essen: Die Fabrikation des Fleisch-Komplexes in der Globalisierung

Moderation: Jens Wietschorke (Wien)

Öffentliche Vorträge zu Mensch-Nutztier-Beziehungen
Moderation: Clemens Wischermann (Konstanz)

Keynote
Susanne Waiblinger (Wien): Die Bedeutung der Mensch-Tier-Beziehung für eine tiergerechte Nutztierhaltung

Keynote
Michaela Fenske (Berlin): Reduktion als Herausforderung. Kulturwissenschaftliche Annäherungen an Nutztiere

Panel „Räume / Zeiten II“
Moderation: Martin Huth (Wien)

Ina Bolinski (Bochum): Von physical zu virtual fences. Zäune als Verhandlungsorte von Mensch-Tier-Beziehungen

Marcel Sebastian (Hamburg): Ambivalenzen der Arbeitssituation und Umgangsweisen von Schlachthofarbeitern

Panel „Perspektiven / Zugänge“
Moderation: Stefan Zahlmann (Wien)

Jadon Nisly (Bamberg): Kühe und Mägde in der Seehofer Schweizerei: Mensch-Nutztier-Beziehung in einem fürstbischöflichen Mustergut der Volksaufklärung (1782-1795)

Kerstin Weich (Wien): Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit. Zu Repräsentationen von Nutztieren

Christian Dölker (München): Produktive Fragmentierungen – Von nützlichen Tieren zu Haus- und Nutztieren

Öffentliche Podiumsdiskussion: Ethik der Mensch-Nutztier-Beziehung
Moderation: Christoph Winckler (Wien)

Martin Balluch (Wien) und Harald Lemke (Lüneburg/Salzburg)

Abschlussdiskussion
Moderation: Lukasz Nieradzik (Wien)


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