Du bist, was du nicht isst! Gesundheit und Ernährung seit 1850

Du bist, was du nicht isst! Gesundheit und Ernährung seit 1850

Organisatoren
Norman Aselmeyer, Florenz; Veronika Settele, Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.02.2016 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Malte Fischer, Freie Universität Berlin

Ernährung ist dieser Tage überall: Vegetarismus und Veganismus ethischer und globalisierungskritischer Provenienz, immer neue Risiko-Berechnungen und Diäten, die meist mit „low-“ oder „no-“ beginnen. Diese aktuelle Beobachtung, dass Essen zur gesundheitlichen Bedrohung geworden zu sein scheint, gab der internationalen Tagung „Du bist, was du nicht isst! Gesundheit und Ernährung seit 1850“ ihren Namen. Eingeladen waren Historiker/innen und Expert/innen verschiedener Disziplinen, um über das sich wandelnde Verhältnis von Gesundheit und Ernährung in der Moderne nachzudenken. Das taten sie in den drei Panels „Selbstregulierung“, „Perspektiven Global“ und „Wissen und Wissenschaft“, in denen das Zusammenspiel von Ernährung und Gesundheit diskutiert wurde als, erstens, Quelle der eigenen Identität, zweitens, wissensgeschichtliches Verhältnis und, drittens, Gegenstand staatlicher Regulierung. Der Zugriff über das Nicht-Essen im Spannungsfeld zwischen Freiwilligkeit und erzwungenem Verzicht einte die Vorträge.

Die Organisator/innen VERONIKA SETTELE (Berlin) und NORMAN ASELMEYER (Florenz) eröffneten die Tagung mit einer historischen Annäherung an den Themenkomplex Gesundheit und Ernährung. Sie erklärten den Titel „Du bist, was du nicht isst!“ als Imperativ-Umkehrung von Ludwig Feuerbachs materialistischer These „Der Mensch ist, was er isst“. Diese gebe Auskunft über einen Wahrnehmungswandel, der von der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, Gesundheit durch ausreichende Versorgung zu gewährleisten zur selbstverantwortlichen Erhaltung der Gesundheit führt. Das Nicht-Essen richte den Blick auf „Essen als Bedrohung“, wenn Ernährung als Grundlage von Gesundheit wahrgenommen werde, und auf Fragen von falscher und krankmachender Ernährung, die in der Wohlstandsgesellschaft an die Stelle der Angst vor dem Hunger getreten sei. Der Vortrag veranschaulichte anhand konkreter historischer Schlaglichter das Zusammenwirken der drei Dimensionen „Subjektivierung“, „Regulierung“ und „Verwissenschaftlichung“, die um 1850 grundlegende Umbrüche erfuhren. Subjektivierung beschreibe Ernährung als Identitätsquelle, die sich nicht erst in der Wohlstandsgesellschaft seit den 1960er- und 1970er-Jahren entwickle, sondern sich auch mit frühen Vegetariervereinen in Deutschland und England in der Mitte des 19. Jahrhunderts und der Lebensreformbewegung um 1900 belegen lasse. Die Verwissenschaftlichung verändere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Zusammenwirken von Gesundheit und Ernährung entscheidend. Neue wissenschaftliche Lehren wie Justus von Liebigs Eiweißtheorie, neue Maßeinheiten wie die Kalorie und neue technische Produktionsverfahren wie die Konserve hätten zu einer Ausdifferenzierung berechenbaren Wissens geführt und die über Jahrhunderte wirkmächtigen Vorstellungen der Diätetik und Humoralpathologie abgelöst. Ebenso wurde auf den sozialdarwinistischen Gehalt der Vorstellung von Ernährung als Prävention von Krankheit und das Konzept der „Volksgesundheit“ sowie auf die Verwissenschaftlichung als Voraussetzung für „Regulierung“ hingewiesen. Diese staatliche Regulierung werde im betreffenden Zeitraum im Zuge von Krisen wie der Cholera-Epidemie und den beiden Weltkriegen besonders sichtbar und wirke mit dem Ziel der kollektiven „Erhaltung von Gesundheit“ vielfältig auf Gewohnheiten und Wahrnehmungen des Essens und Nicht-Essens ein.

Der Eröffnungsvortrag von MAREN MÖHRING (Leipzig) griff den analytischen Dreischritt der Tagung (Subjektivierung, Verwissenschaftlichung und Regulierung) auf und verwendete unter dem Titel „Essen als Selbsttechnik. Gesundheitsorientierte Ernährung um 1900“ die drei Prozessbegriffe, um das arbeitsfähige, selbstverantwortliche und gesunde Ideal des „erfolgreichen Subjekts“ auf Formen von Selbsttechniken und -regulierung zu befragen. Anhand der Eiweißtheorie Justus von Liebigs, dem Messen von Gewicht und der Entstehung der Kalorie als Bewertungs- und Normierungseinheit, der Geschichte der systematischen Wissensproduktion und der Normierung von Ernährung beschrieb Möhring die spezifische Vermittlung von Subjekt und Gesellschaft durch Ernährung. Während der erste Teil des Vortrags Prozesse von Moralisierung und Selbstverantwortlichkeit eng an rassistische, schichtspezifische und geschlechtliche Diskurse band, die diese befeuern und sagbar machen, widmete sich der zweite Teil einem Fallbeispiel: dem Vegetarier, Abstinenzler und Lebensreformer Richard Ungewitter (1868–1958). Dieser sei durch die Reichweite seiner Publikationen und der detaillierten Dokumentation seiner Diäten, seines Körpers und seiner Lebensführung eine zentrale Figur der Körperkulturbewegung um 1900 und ein aufschlussreiches Beispiel für Praktiken der „Arbeit am Selbst“. Im Anschluss an den Vortrag wurden vor allem die genuin bürgerliche und urbane Herkunft des frühen Vegetarismus und die antisemitische und völkische Ideologie, mit der Ungewitter seine Konzepte an einigen Stellen verbindet, diskutiert. Dabei stellte sich heraus, dass die Lebensreformbewegung und der Vegetarismus um 1900 Teil einer bürgerlichen Identitätssuche und Teil eines Diskurses über Klassen- und Männlichkeitsbilder waren.

Das erste Panel, „Selbstregulierung“, wurde von DOROTHEE BRANTZ (Berlin) geleitet. Der Vortrag zu „Body Politics. Food Restriction, Subjectivity and the East German State“ von NEULA KERR-BOYLE (London) beschäftigte sich mit Selbsttechniken der Körperregulierung und deren staatlicher Wahrnehmung und Regulierungsversuchen in der DDR seit den 1960er-Jahren. Entgegen der staatlichen Darstellung des produktiven „sozialistischen Körpers“ habe sich nach einer kurzen Phase des unfreiwilligen und auf Mangel basierenden Nicht-Essens nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der DDR der freiwillige Verzicht auf Nahrung aus ästhetischen Gründen verbreitet. Die Subjektivierung, also Ernährung als Identitätsquelle und Nicht-Essen als Technik des Selbst und die Regulierung im Sinne des Propagierens „sozialistischer“ und „imperialistischer“ Formen von Ernährung und Diäten, strukturierten den Vortrag. Sie untersuchte Diskurse um Anorexie und Diäten in Magazinen wie „Für Dich“, die sich gegen „Hungerkuren“ aussprachen. Der Vortrag bot Erkenntnisse zu Ernährungsweisen als identitätsstiftende Praktiken in der DDR und zur Limitierung staatlicher Zugriffsmöglichkeiten auf ihre Bürger/innen.

MAXIMILIAN BUSCHMANN (München) richtete den Blick auf das Selbst in den USA. Der Vortrag „Hungerstreik. Zur Geschichte der Nahrungsverweigerung als Praxis politischen Protests in den USA, 1880er–1930er Jahre“ erkannte in der Nahrungsverweigerung eine Geschichte der Entpathologisierung. Diese reiche von religiösen Deutungen als „Strafe Gottes“ und der medizinischen Wahrnehmung als wahn- und krankhaft zur politischen Praxis des Hungerstreiks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damit gehe eine spezifische Rationalität einher, die der Askese als „Beherrschung bzw. Verteidigung des Selbst“ innewohne. Im Kontext anarchistischer und anderer politischer Gruppen sei diese Praxis Mittel der Vergewisserung der eigenen (politischen) Subjektivität, Beleg über die persönliche Willenskraft, und durch die notwendige Öffentlichkeit eine Politisierung des Körpers und Materialisierung des Protestes.

Das Panel beschloss ANNETTE LEIDERER (Freiburg) mit Überlegungen zum „Vegetarismus im Deutschen Kaiserreich und heute“. Den Vergleich zwischen dem im Kaiserreich sonderbar anmutenden und heute boomenden Vegetarismus strukturierte der Vortrag nach ernährungsphysiologischen und medizinischen, wirtschaftlichen und politischen sowie ethischen Motiven. Sozial könne das Phänomen im Kaiserreich im Kleinbürgertum und auch heute als Phänomen der urbanen Mittelschicht eingeordnet werden. Der Vergleich zeige, dass der Vegetarismus in beiden zeitlichen Ausprägungen als die eine Problemlösung vieler Ambivalenzen der Moderne betrachtet werde und häufig auf vermeintliche (Ur-)Zustände menschlicher Natürlichkeit verweise. Auch die Hinweise auf jeweilige historische Rahmenbedingungen wie das „wachstumskritische Klima der Gegenwart“ oder die das Gesellschaftsklima des Kaiserreichs prägende Evolutionstheorie trugen weit.

In ihrem anschließenden Kommentar betonte Dorothee Brantz, dass Fragen gesunden Essens in breitere gesellschaftliche Diskurse eingebettet seien, die über körperliche Konzepte hinausgehen und politischen Widerstand und Gegenrepression umfassen. Sie fragte außerdem nach der Lebenserwartung und der Optimierung von Arbeitskraft als Größen gesellschaftlichen Fortschritts und der Wehrhaftigkeit und Deutungshoheit über den eigenen Körper gerade in Zeiten von Kriegen und Krisen. Das Plenum diskutierte für die DDR die Anpassung der Ernährungspropaganda an die Versorgungspolitik in Krisenzeiten. Die Frage nach der Notwendigkeit von Überfluss für den Hungerstreik richtete den Blick auf das für die gesamte Tagung wichtige Spannungsverhältnis von Mangel und Verzicht, konnte aber für die anarchistischen Akteure in Maximilian Buschmanns Vortrag nicht bestätigt werden.

Das zweite Panel, „Perspektiven Global“, wurde von HUBERTUS BÜSCHEL (Groningen) moderiert. CORNELIA REIHER (Berlin) sprach zu „Aushandlungen von Lebensmittelrisiken in Japan seit den 1960er Jahren“ und analysierte die Nutzung und Bewertung von Pestiziden und Insektiziden als diskursiven Wandel von der Wahrnehmung „gefährlicher Substanzen“ hin zu „gefährlichen Anbaugebieten“ zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren.

Anhand mehrerer Lebensmittelskandale ergäben sich (spezifisch weibliche) Formen zivilgesellschaftlicher Bewegungen gegen die Verwendung von Pestiziden. Die Aufwertung japanischer landwirtschaftlicher Produkte und eine Abwertung von Importen besonders aus China, die zusammen mit dem nationalen Plan zur „Nahrungsmittelerziehung“ als Teil staatlicher Regulierung verstanden werden können, seien die Folge gewesen.

SÖREN BRINKMANN (Erlangen-Nürnberg) lenkte den Blick nach Brasilien. Der Vortrag zu „Ernährungswissenschaft und Ernährungspolitik im Brasilianischen Estado Novo, 1930–1945“ betrachtete Aspekte der „Verwissenschaftlichung“ und „Regulierung“ vor und während der Vargas-Herrschaft. Er beschrieb die Wahrnehmungsverschiebung des sozialmedizinischen Paradigmas von der „Rasse“ zur „Ernährung“. Im Kampf des Estado Novo gegen die Mangelernährung, die nun anstelle ererbter Gene als Auslöser gesellschaftlichen Rückstands wahrgenommen worden sei, habe die angebliche Einzigartigkeit der Nährstoffe in Kuhmilch eine herausragende Rolle gespielt; ihre Akzeptanz und hygienisch wie preislich adäquate Produktion wurden zur Stellgröße für den Erfolg oder Misserfolg der staatlichen Ernährungspolitik. Der Vortrag beantwortete Fragen staatlichen Eingreifens, der Halbwertszeit ernährungswissenschaftlicher Erkenntnis und zum Verhältnis von gesellschaftlicher Identität und Ernährung.

LUTZ HÄFNER (Göttingen) führte das Panel in das Zarenreich und betrachtete dort „Lebensmittelkonsum, Lebensmittelhygiene und Verbraucherschutz vor dem ersten Weltkrieg“. Der Vortrag verortete das Nicht-Essen der russischen Bevölkerung als „Ausdruck fehlenden Vertrauens in einer ambivalenten Moderne“. Er schilderte das Bewusstsein von und die Skepsis gegen ungesunde, falsch etikettierte und mit giftigen Stoffen versetzte Lebensmittel im Wechselverhältnis von Konsumenten, Staat und Selbstverwaltung. Ein Beispiel ist das für die Mehrheit der russischen Bevölkerung unkalkulierbare Risiko von mit Tbc-Erregern infizierter Milch. Diskurse von Technologie-Skepsis und Volksgesundheit spielten ebenso eine Rolle wie fehlender Verbraucherschutz und das Verhältnis zu, besonders europäischen, Handelspartnern.

Hubertus Büschel stellte zur Diskussion, wie sich diese Beiträge aus dem Gebiet der Area Studies expliziter als Globalgeschichte schreiben lassen könnten. Besonders der transnationale Austausch Japans mit den USA und – weit negativer bewertet – China, so Reiher, stellte sich als eminent wichtig für die Risikobewertung von Lebensmitteln heraus. Ebenso wurde gefragt, inwiefern Brasiliens Ernährungspolitik das Symptom einer globalen Entwicklung und von Biopolitik(en) sei. Der (staatliche) Umgang mit globalen Krisen- und Mangelsituationen verband die Vorträge ebenso wie eine, so Häfner, „globale Entfremdung vom Essen“. Anschließend wurde die kritische Publikationstätigkeit zu den Themen in Brasilien und Russland diskutiert. Fragen nach den betroffenen Akteuren fokussierten besonders im Zarenreich die treibende Rolle von Wissenschaft und Staat und in Brasilien und in Japan das Wechselspiel zwischen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren.

Das von PAUL NOLTE (Berlin) geleitete dritte und letzte Panel „Wissen und Wissenschaft“ eröffnete der Vortrag „Watch Your Weight, Don’t Overeat. On the History of the Calorie in the USA, 1880s–1920s“ von NINA MACKERT (Erfurt). Anhand der drei Prozessdimensionen analysierte der Vortrag die Entstehung der Kalorie als eine dominante Größe für Diäten in den USA um 1900: Die „Entdeckung“ der Kalorie sei Teil einer Verwissenschaftlichung der Ernährung und des Körpers, dessen Effizienz immer präziser berechenbar geworden sei. Ernährung und Krankheit sowie Adipositas und Diabetes auf der einen und „Overeating“ auf der anderen Seite seien kausal immer stärker verknüpft worden. Als Praktiken, die auf immer Weniger- oder Nicht-Essen basieren, seien Selbstregulierung und Subjektivierung hier stark zusammenzudenken. Diäten, die auf dem Zählen von Kalorien basieren, verlangten ein hohes Maß an Kontrolle des eigenen Verhaltens und betonten, dass gerade dabei Freiwilligkeit und Genuss erhalten bliebe.

Daran schlossen die Politikwissenschaftlerin KARI TOVE ELVBAKKEN (Bergen) und die Wissenschaftshistorikerin ANNETTE LYKKNES (Trondheim) mit dem Vortrag „In Need of Fat and Vitamins. On Alliances Between Science, Industry and the State in Norway, 1910–1960“ an. Anhand des biografischen Zugangs über den Chemiker, Professor und Wirtschaftsberater Sigval Schmidt-Nielsen (1877–1956) wurde die Verknüpfung von (Ernährungs-)Wissenschaft, staatlicher Regulierung und Wirtschaft analysiert. Dabei ging es vor allem um die Überwindung des Mangels an Fett und Vitaminen insbesondere während und nach dem Ersten Weltkrieg. In diesen Jahren wurde es zu einem Thema von Forschung und Politik, den Bedarf der Bevölkerung an und die Bereitstellung von Fett durch Staat und Wirtschaft zu regulieren. Schmidt-Nielsens Biografie bot die Möglichkeit, regionale, disziplinäre und informelle Verbindungen darzustellen. Er tritt als „Brückenbauer“ und zentrale Figur für das Wechselverhältnis von Staat und Wirtschaft in Bezug auf die stets wiederkehrende Mangelernährung der norwegischen Bevölkerung auf.

Das Panel wurde von CHRISTA SPREIZER (New York) beendet. Ebenfalls biografisch referierte sie zu „Hedwig Heyl, the Berlin Lyceum Club, and Evolving Concepts of Health, Nutrition and Women’s Identity During the Wilhelmine Era“. Heyl sei ein Beispiel der ersten Welle deutscher Feministinnen und ein Paradebeispiel für das Netzwerk aus „Frauenthemen, Sozialreformen und der Rationalisierung von Gesundheits- und Hygienepraktiken in der Wilhelminischen Ära“. Ihre Publikationen „Das ABC der Küche“ und „Die Frau in Haus und Beruf“ illustrierten genuin philanthropisch-bürgerliche Wahrnehmungen von Feminismus und Ernährungs- bzw. Lebensweisen und böten einen spezifisch weiblichen Zugriff auf Fragen von Klassenzugehörigkeit und Liberalismus. Die Standardisierung und Verwissenschaftlichung von Ernährung und Gesundheit könne, wenngleich Heyls Haltung Ambivalenzen bürge, als Ermächtigung der bourgeoisen Frau gelesen werden.

Paul Nolte bündelte in seinem anschließenden Kommentar die Gemeinsamkeiten der Vorträge, die sich allesamt mit einem Zeitraum befassten, der sich für Gesundheit und Ernährung als eigene „Sattelzeit“ zwischen „eat enough“ und „eat too much“ charakterisieren lasse. Die „patterns of high modernity“ (rationality, science, progress) und der Erste Weltkrieg seien zentrale periodische und strukturierende Einheiten, in denen sich mithilfe von biografischen Studien Spannungen zwischen Subjekt und Gesellschaft, Regulation und Disziplin sowie Emanzipation und Liberalisierung untersuchen lassen. Abschließend stellte sich die Frage, welche Rolle Vorstellungen von Ästhetik und Genuss für die Produktion von Wissen und Konzepten von Ernährung spielten. Besonders Christa Spreizer konnte eine Ästhetisierung des Femininen feststellen, während Nina Mackert auf den Begriff „beauty“ als in ihrem Rahmen „leeren Signifikanten“ hinwies. Die Diskussion bestärkte die Annahme, dass die Prozesse von Subjektivierung und Verwissenschaftlichung ineinander wirken: Subjektiver Genuss und Ästhetik beeinflusst Wissensproduktion und umgekehrt.

Ein ähnlicher zeitlicher Rahmen der jeweiligen Vorträge der Panels und die Zugänge verschiedener disziplinärer, methodischer und geografischer Art waren für die Frage nach dem Zusammenhang von Gesundheit und Ernährung ein analytischer Gewinn. Die Beiträge beleuchteten informelle internationale Netzwerke und Verbindungen, in denen sich die Globalisierung auch in Diskursen von Gesundheit und Ernährung ausdrückt und die in engen nationalen Rahmen nicht abschließend analysierbar sind. Es zeigte sich, dass die Prozessbegriffe Verwissenschaftlichung, Regulierung und Subjektivierung sich als analytisch ergiebig und operationalisierbar für die Komplexität des Verhältnisses von Gesundheit und Ernährung erwiesen. Die Tagung kann und sollte als Plädoyer verstanden werden, Fragen von Gesundheit und Ernährung den Zauber der Über-Zeitlichkeit zu nehmen. Gerade im Hinblick auf ihre Wandelbarkeit im Kontext von Krisen und Mangel auch in der Gegenwart. Gleichzeitig fordert ihre Zentralität für die Konstitution von Selbst und Identitäten wie auch staatlicher Politiken eine Öffnung der verschiedenen Disziplinen, die Diskurse von Gesundheit und Ernährung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmen oder, wie die Geschichtswissenschaft, gerade erst für sich entdecken.

Konferenzübersicht:

Eröffnung
Gesundheit und Ernährung: Eine historische Annährung
Norman Aselmeyer (Florenz) und Veronika Settele (Berlin)

Keynote
Essen als Selbsttechnik. Gesundheitsorientierte Ernährung um 1900
Maren Möhring (Leipzig)

PANEL 1: SELBSTREGULIERUNG
Moderation: Dorothee Brantz (Berlin)

Body Politics. Food Restriction, Subjectivity and the East German State
Neula Kerr-Boyle (London)

Hungerstreik. Zur Geschichte der Nahrungsweigerung als Praxis politischen Protests in den USA (1880er bis 1930er Jahre)
Maximilian Buschmann (München)

Die Lösung aller Probleme? Vegetarismus im Deutschen Kaiserreich und heute
Annette Leiderer (Freiburg)

PANEL 2: PERSPEKTIVEN GLOBAL
Moderation: Hubertus Büschel (Groningen)

„Das kommt uns nicht auf den Tisch!“ Aushandlungen von Lebensmittelrisiken in Japan seit den 1960er Jahren
Cornelia Reiher (Berlin)

„Kein Defekt der Rasse, sondern des Hungers". Ernährungswissenschaft und Ernährungspolitik im brasilianischen Estado Novo (1930–1945)
Sören Brinkmann (Eichstätt-Ingolstadt)

„Die Lebensmittelverfälschung berührt nicht nur die Interessen der Volksgesundheit …“ Lebensmittelkonsum, Lebensmittelhygiene und Verbraucherschutz im Zarenreich vor dem Ersten Weltkrieg
Lutz Häfner (Göttingen)

PANEL 3: WISSEN UND WISSENSCHAFT
Moderation: Paul Nolte (Berlin)

Watch Your Weight, Don't Overeat. On the History of the Calorie in the USA of the 1880s to 1920s
Nina Mackert (Erfurt)

In the Need of Fat and Vitamins. On Alliances Between Science, Industry and the State in Norway 1910–1960
Kari Tove Elvbakken (Bergen) and Annette Lykknes (Trondheim)

Hedwig Heyl, the Berlin Lyceum Club, and Evolving Concepts of Health, Nutrition, and Women's Identity During the Wilhelmine Era
Christa Spreizer (New York)