Der Wiener Kongress. Mehr als ein Historisches Datum?

Der Wiener Kongress. Mehr als ein Historisches Datum?

Organisatoren
Gesellschaft für internationalen Kulturaustausch und Politische Bildung e.V. (GIK); Deutsch-Ägyptische Gesellschaft Bonn-Kairo e.V.; Deutsch-Italienische Gesellschaft Società Dante Alighieri Bonn; Heinz-Kühn-Bildungswerk
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.11.2015 - 28.11.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Tom C. Finette, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Der in diesem Jahr jubilierende Wiener Kongress stand am 27. und 28. November bei der gemeinsamen Tagung der Gesellschaft für internationalen Kulturaustausch, der Deutsch-Ägyptischen sowie der Deutsch-Italienischen Gesellschaft und dem Heinz-Kühn-Bildungswerk im Blickpunkt.

Die „Gesellschaft für Internationalen Kulturaustausch und Politische Bildung e.V.“ (GIK) entstand 1988 aus einem deutsch-italienischen Jugendprojekt. In Kooperation mit mehreren internationalen Organisationen werden Studienfahrten ins europäische und außereuropäische Ausland durchgeführt, davon allein sechsmal in die Volksrepublik China, außerdem nach Peru, Italien, Türkei und Griechenland. Innerhalb Deutschlands gibt es sogenannte geschichts- und kulturorientierte Fahrrad- und Wandertouren. Auf dem Programm der Gesellschaft stehen Vortragsveranstaltungen und Filmvorführungen zu kulturgeschichtlichen und philosophischen Themen. Die GIK ist eingebunden in einen Zusammenhang internationaler Gruppierungen und kooperiert mit verschiedenen Organisationen und der Stadt Bonn, etwa bei der Ausrichtung des jährlichen „Kultur - und Begegnungsfestes der Internationalen Stadt Bonn“ und im Rahmen von Städtepartnerschaften.

Die „Deutsch-Ägyptische Gesellschaft Bonn-Kairo e.V.“ wurde 1980 in Bonn gegründet und versteht sich als Ort für die Verständigung unter den Völkern, speziell als ein Freundschaftsbekenntnis zwischen dem deutschen und dem ägyptischen Volk. Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ist der öffentliche Dialog und Netzwerkpflege mit deutschen und ägyptischen Institutionen und Menschen. In Bonn veranstaltet die Gesellschaft mehrere Vorträge jährlich zu einem Themenspektrum vom pharaonischen Ägypten bis in die Gegenwart. Sowohl in der deutschen (z.B. Die Welt) als auch in der ägyptischen Presse (z.B. Al-Ahram) wurde über die Gesellschaft berichtet.

Die „Deutsch-Italienische Gesellschaft Società Dante Alighieri e.V.“ wurde 1971 neu gegründet. Die Aktivitäten der Gesellschaft zielen auf die Vermittlung von Kunst und Kultur Italiens. Regelmäßig sprechen renommierte Referenten zu unterschiedlichen Themen, die sich auf die überreiche Tradition des Landes – von der Antike bis zur Gegenwart – beziehen. Über den Schwerpunkt hinaus, der auf Kunst und Kultur oder einfach den Schönheiten des Landes Italien liegt, beschäftigt sich die Gesellschaft auch mit historischen oder tagespolitischen Fragen, Kammerkonzerten, Reisen nach Italien, aber auch Tagesfahrten und Ausflügen, die zu Ausstellungen oder anderen Sehenswürdigkeiten mit besonderem Bezug zur italienischen Kultur und Geschichte führen.

Das Heinz-Kühn-Bildungswerk ist eine 1923 gegründete staatlich anerkannte Weiterbildungseinrichtung mit dem Schwerpunkt auf politischer Bildung in Nordrhein-Westfalen. Träger ist der SBG-Zentralausschuss e.V. Als Ziele verfolgt das Heinz-Kühn-Bildungswerk die Förderung des Föderalismus und des europäischen Einigungsprozesses, die Festigung des demokratischen Verantwortungsbewusstseins, die Verbesserung der kritischen Urteilsbildung sowie die Zusammenführung unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Gruppen.

MANFRED JASTRZEMSKI (Bonn), Vorsitzender der GIK, eröffnete die Tagung. Als „Eckpfeiler für Friedenskongresse“, sollten die verschiedenen Facetten des Wiener Kongresses beleuchtet und unter anderem auch der Frage nachgegangen werden, welche „politischen Nuancen“ von einst auch heute noch nutzbar seien, um etwa Frieden im Nahen Osten zu schaffen.

INGO RADCKE (Bonn) von der Deutsch-Französischen Gesellschaft betonte in einem spontanen Grußwort die zentrale Rolle, die Frankreich als Verlierer der napoleonischen Kriege einnahm, als Teilnehmer am „Katzentisch“ der Verhandlungen. Der französische Hang zur gloire spiegle sich gerade angesichts wachsender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unsicherheit in einer Rückbesinnung auf die „Großen Zeiten“ der Nation.

MANFRED JASTRZEMSKI leitete schließlich mit dem Verweis auf den Titel der Veranstaltung „Mehr als ein historisches Datum“ unter dem Stichwort des „historischen Bewusstseins“ zum ersten Podiumsbeitrag über.

MICHAEL FRÖHLICH (Bonn) widmete sich dem Wiener Kongress in seiner Funktion als Höhepunkt der zeitgenössischen Kongressdiplomatie. Besondere Schwerpunkte setzte er dabei auf dem historischen Bewusstsein und der daraus resultierenden Bedeutung des Wiener Kongresses während des fortschreitenden 18. und 19. Jahrhunderts. Hierzu beleuchtete er einerseits die Interessen und Ziele der Kongressteilnehmer, jedoch auch zeitgenössische Kritik und „historische Defizite“, sowie die spätere fachliche Würdigung durch Historiker.

SIEBO JANSSEN (Heinz-Kühn-Bildungswerk) strukturierte im Anschluss an die Diskussion des vorhergehenden Vortrags die Ideengeschichte für die Zeit nach dem Wiener Kongress und zielte darauf, welche Lehren sich heute noch aus dem Wiener Kongress ziehen ließen. Der Grund dafür war die kontrovers diskutierte Frage im Nachgang zu Fröhlich, ob sich aus der Geschichte lernen lasse – die nicht zum letzten Mal aufkommen sollte. Janssen betonte insbesondere die Diplomatie als Mittel der Politik, auch im Diskurs mit neuen antieuropäischen Strömungen, sowie die Einbeziehung von Randstaaten in Entscheidungsprozesse, was bereits der Wiener Kongress – und nachträglich positive Evaluationen desselben – vorgemacht habe.

Den zweiten Tag der Konferenz leitete VOLKER LUDWIG (Bonn), Geschäftsführer der Deutsch-Ägyptischen Gesellschaft, ein, indem er die lange Tradition politischer Konferenzen für gegenseitigen Kultur- und Interessensaustausch hervorhob. Für die aktuellen Konflikte in Nordafrika, die einer Lösung bedürfen, wünschte er weitere vergleichbare Lehren.

Den ersten Vortrag des Tages hielt THOMAS BECKER (Bonn) über Preußen und das Rheinland – eine schwierige Beziehung, die erst im Laufe mehrerer Jahrzehnte wirklich zustande kam. Einerseits seien die Rheinländer etwa durch den Hungerwinter 1815/16 von der preußischen Verwaltung enttäuscht worden, andererseits war Preußens „Wacht am Rhein“ lediglich als unzureichende Kompensation für das wirtschaftlich wesentlich interessantere und potentere Sachsen gedacht. So blieb der code civil bis zum Beginn des Wiener Kongresses im Rheinland in Kraft, und auch darüber hinaus konnten die Rheinländer ihr auf dem code civil geprägtes „Rheinisches Recht“ durch Nachgeben des preußischen Königs bis zur Reformierung des preußischen Rechts behalten. Die Zusammenlegung der Provinzen Jülich-Kleve und Niederrhein zur Rheinprovinz könne hingegen erstmals als Identitätsfindung zum „Rheinland“ stehen. Der Weiterbau des Kölner Doms war ein bedeutsames Symbol der Verständigung zwischen Rheinländern und Preußen.

Im Anschluss daran ging MARKUS MELCHERS (Bonn) der Frage „Was heißt historisches Bewusstsein?“ nach. Gemäß dem philosophischen Praktiker entstand historisches Bewusstsein, wie es heute verstanden wird, im Umkreis der hegelschen Philosophie. So sei es nicht darin erschöpft, historische Tatsachen auch in lexikalischer Abfassung zu verwahren, sondern unterscheide zwischen Erklären und Verstehen; denn nur das menschliche Verstehen selbst sei für die Entwicklung eines historischen Bewusstseins relevant, das als Selbsterkenntnis einzelner oder von Kollektiven dienen könne. Melchers Ausführungen sprach insbesondere die anderen Referenten an, die darüber heftig diskutierten.

KLAUS KOSACK (Bonn) beleuchtete das Schicksal der polnischen Nation im Hinblick der Entscheidungen auf dem Wiener Kongress. Nach der Fassung eines kontextualen Rahmens, der die Drei Polnischen Teilungen sowie die Koalitionskriege umfasste, stellte Kosack die erneute Aufteilung des ab 1807 neugegründeten und gewachsenen Herzogtums Warschau vor. Im Weiteren spannte Kosack den Bogen über die weitere russische Oberherrschaft über Polen, bis zur Gründung der Republik Polen 1918. Der Hinweis auf den 3. Mai, dem polnischen Nationalfeiertag, der auf die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 zurückgeht und an die faktische 123-jährige Nichtexistenz Polens erinnert, auch zementiert durch den Wiener Kongress, ließ die Bedeutung des Wiener Kongresses als ein zentrales Ereignis für die Gegenwart erkennen.

TORSTEN RIOTTE (Bonn) analysierte Großbritanniens Rolle auf dem Wiener Kongress. Besonderes Gewicht erhielt dabei die konfessionelle Nähe der katholischen Iren zu den ebenfalls katholischen Franzosen. Die britische Gesellschaft sei konfessionell stark gespalten gewesen, eine Lösung der Spannung fand man erst 1829. Zentral ist daher die These, dass Castlereigh auf dem Wiener Kongress unter einem enormen innenpolitischen Druck stand, Frieden zu schaffen. Unter dem Stichwort „we won the war, we lost the peace“ sei es damals leichter gewesen, Kriege zu gewinnen, als den anschließenden Frieden zu gestalten. Abseits davon, insbesondere eingedenk der in den Köpfen fortlebenden Ideen der Französischen Revolution, habe Castlereigh in Wien auch agiert, um diese virulenten Probleme im Geiste der Balance of Power der restaurierten Großmächte einzudämmen.

WOLFGANG OELKERS (Bonn) oblag es, Frankreichs Position auf dem Wiener Kongress näher zu beleuchten; angefangen bei der ehelichen Geschichte des französischen Königspaares Louis XVI. und seiner Gattin Marie Antoinette über den ereignisgeschichtlichen Verlauf der französischen Revolution. Anschließend an den terreur der Jakobiner, rückt der politische Aufstieg Napoléon Bonapartes ins Zentrum der Ausführungen. Nach dem Fall Napoléons übernahm der französische Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord die zentrale Rolle auf dem Wiener Kongress, dem es durch geschicktes politisches Taktieren als Vermittler zwischen den Siegermächten gelang, Frankreich aus der Außenseiterrolle zurückzubringen. Insgesamt lag der Schwerpunkt des Vortrages freilich auf der innenpolitischen Vorgeschichte Frankreichs, wohingegen die tatsächlichen Geschehnisse auf dem Kongress nur kurze Erwähnung fanden.

In seinem zweiten Vortrag wandte sich SIEBO JANSSEN (Bonn) den Benelux-Staaten zu. Im Falle Belgiens ging er auf Ursachensuche, ob Belgien im Lichte des Wiener Kongresses tatsächlich als failed state gelten könne. Beginnend bei der Zuordnung Belgiens an die Niederlande auf dem Wiener Kongress riss Janssen die weiterlaufende Geschichte des Staates über den Ersten Weltkrieg bis in die 1960er-Jahre ab, um Belgien den Status eines „gelungenen politischen Experimentes“ zu konstatieren. In den Niederlanden stellte Janssen eine „versäulte“ und stark separierte Gesellschaft fest, wo jedoch keine der separaten Gruppen jemals stark genug gewesen sei, um eine oder mehrere opponierende Gruppen zu marginalisieren. Auf Staatsebene habe stets ausreichender Konsens bestanden, während insbesondere auf Kommunalebene politischer Diskurs geherrscht habe. Diese „Kompromiss- und Konsenskultur“ in den Niederlanden erlebe seit den 1970er-Jahren jedoch einen Niedergang, was den Wunsch nach Reformen zunehmend erhöhe. Janssen schloss mit dem Fazit, dass sowohl Belgien als auch die Niederlande durch den Wiener Kongress stabilisiert worden seien, im Folgenden aber auch weiter im Auge für die europäische Entwicklung behalten werden sollten.

BJÖRN BENTLAGE (Halle) vertrat kurzfristig Daniel Gerlach (Berlin) mit einem Vortrag über die Auswirkungen der Ergebnisse des Wiener Kongresses auf die ägyptische Staatenentwicklung. So stellte der Wiener Kongress eine Zäsur für die bisherige Diplomatie dar, was sich fortan auch im internationalen Umgang mit Ägypten niederschlug. In den folgenden Jahrzehnten konnte Ägypten seine Position im nahöstlichen Staatensystem unter khedivischer Herrschaft stark ausbauen. Unter britischem Protektorat hingegen wuchs ab 1882 nachhaltig der europäische Einfluss in Ägypten, was sich insbesondere in der Prägung der sich in diesem Zuge heranbildenden kolonialen und kolonialisierten Elite widerspiegelte. 1922 begann die sogenannte „Liberale Phase“ Ägyptens mit der Loslösung von seinem kolonialen Protektor, die bis in die 1950er-Jahre anhalten sollte. Ausgehend von einem erstarkten Einfluss der Militärs ab Mitte der 1950er-Jahre über die Entwicklungen des Arabischen Frühlings schlug Bentlage den Bogen hin zur aktuellen Situation. Schließlich betonte er, dass Ägyptens Entwicklung in den nächsten Jahren noch vollkommen ungewiss sei. Die aktuelle Verfassung des Staates allerdings gestatte Hoffnung für die Zukunft. Den Gehalt eines historischen Vergleiches zwischen dem Wiener Kongress und der gegenwärtigen Lage sah Bentlage nicht in der Erklärung von Zwangsläufigkeiten oder der identischen Übernahme von vermeintlichen Lösungen; vielmehr könnten historische Bezüge dabei helfen, eine andere Perspektive einzunehmen und das Augenmerk von kleinteiliger Tagespolitik hin zu Strukturen und auf Prozessen zu lenken. Insofern stünden die gegenwärtigen Gesellschaften vielleicht tatsächlich vor einer neuen großen Verhandlungsaufgabe.

Ausklang fand die Tagung, die sich reger Diskussion zwischen den Beiträgen erfreute, mit musikalischen Variationen zu Zeiten des Kongresses, moderiert von Ulrich Forster, dem Präsident der Deutsch-Italienischen Gesellschaft.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch Manfred Jastrzemski (GIK) und Dr. Volker Ludwig (DÄG)

Manfred Jastrzemski (Vorsitzender GIK): Einführung in das Thema dieser Tagung

Michael Fröhlich, Bonn: „Der Wiener Kongress in der Geschichte und Perzeption im 19. Und 20. Jahrhundert.“, Konsequenzen für das „Historische Bewusstsein“

Siebo Janssen, Bonn: „Abriss der historischen Situation Europas zu Beginn und im Verlauf der napoleonischen Kriege“

Abschluss des ersten Tages mit Musik und Literatur aus d. Zeit

Volker Ludwig (Geschäftsführer DÄG): Begrüßung – Rückblick auf den ersten Tag

In diesem zweiten Teil sollen die grundlegenden Konsequenzen, die politischen Auswirkungen und die gesellschaftlichen Veränderungen aufgezeigt werden, wie sie durch die Napoleonischen Kriege und im Rahmen der Beschlüsse des Wiener Kongresses offenkundig geworden sind. Beispielhaft sollen einige der „Siegerländer“ aber auch solche Länder dargestellt werden, die eher als Objekte der militärischen Auseinandersetzungen wie dann auch der Verhandlungen in Wien anzusehen sind.

Thomas Becker, Bonn, wird sich mit den Auswirkungen in dem damaligen Preussen und den „dortigen“ Weiterentwicklungen bis zur Gegenwart beschäftigen.

Markus Melchers, Bonn, hat es übernommen, philosophische Betrachtungen zur Geschichte und zum historischen Bewusstsein vorzunehmen.

Klaus Kosack, Bonn, untersucht die Situation des mehrfach geteilten Polens und dessen besondere Bedeutung in den Verhandlungen im „Kongress – Spiel“ der Siegermächte.

Torsten Riotte, Bonn, beleuchtet die Situation und die politischen Konsequenzen im Großbritannien des beginnenden 19. Jahrhunderts.

Wolfgang Oelkers, Bonn, stellt die wechselvolle Position Frankreichs als Sieger in den verschiedenen „Napoleonischen“ Kriegen u. als Besiegte im Wiener Kongress, als wiedererstandene europäische Großmacht dar.

Siebo Janssen, Bonn, stellt die Situation in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg dar, staatlichen Neugründungen.

Björn Bentlage, Halle, Von Wien nach Riad. – Das ägyptische Staatsverständnis im Kontext der nahöstlichen Staatenbildung

Ausklang mit Musik, Literatur und bildender Kunst aus der Zeit des Wiener Kongresses.
Moderation: Ulrich Forster (Präsident DA)


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