Konjunkturen Konfessioneller Differenz? Zur gesellschaftlichen Interaktion von Lutheranern und Reformierten zwischen 1648 und den Kirchenunionen des 19. Jahrhunderts

Konjunkturen Konfessioneller Differenz? Zur gesellschaftlichen Interaktion von Lutheranern und Reformierten zwischen 1648 und den Kirchenunionen des 19. Jahrhunderts

Organisatoren
Marianne Taatz-Jacobi, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Jan Brademann, Evangelische Landeskirche Anhalts, Landeskirchliches Archiv
Ort
Lutherstadt Wittenberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.03.2016 - 18.03.2016
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Von
Jana Tempelhoff, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; Thomas Throckmorton, Universität Hamburg

Vom 17. bis 18. März 2016 fand in Wittenberg eine Tagung zu Fragen der Interaktion von Lutheranern und Reformierten zwischen Westfälischem Frieden und der Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Während im Vorfeld des Reformationsjubiläums in der Regel eine gesamtprotestantische Erinnerung profiliert wird, wurde auf dieser Veranstaltung die Aufmerksamkeit auf die Nichtidentität beider Konfessionen gelenkt. Trotz wachsender theologischer Schnittmengen blieben sie bis in die Moderne hinein getrennte Großgruppen, die insbesondere in den Territorien der so genannten „Zweiten Reformation“ auf engstem Raum interagierten.

In seiner Einleitung verdeutlichte JAN BRADEMANN (Dessau) das heuristische Design der Tagung, indem er konfessionelle Differenz als Phänomen sozialer Praxis profilierte. Für die Frage, unter welchen Umständen es dazu gekommen sei, dass die zumeist latente Nichtidentität von Lutheranern und Reformierten verkörpert, erfahren, thematisiert und unter Umständen konfliktreich verstärkt wurde („Konjunkturen konfessioneller Differenz“), sei eine Herangehensweise nötig, die neben religiösen auch soziale, politische, kulturelle und ökonomische Bedingungsfaktoren berücksichtigt. In Anlehnung an Philipp Sarasin stellte Brademann die Frage nach den „privilegierten Signifikanten“ der Gruppen und ihrem Wandel als zentral heraus.

GEORG RAATZ (Hannover) ordnete dem Begriff Konfession in seinem systematisch-theologischen Vortrag drei religionssoziologische Konzepte zu. Sie fassen unterschiedliche Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit und sind daher als heuristische Instrumente für Historiker voneinander zu trennen. Hierbei benennen sie tendenziell auch unterschiedliche historische Entwicklungsphasen: Konfession als Textur bzw. mentale Repräsentationsform (U. Barth), als religiös-segmentäres Sozialsystem (N. Luhmann) und als Kultur. Raatz plädierte, für die Zeit nach 1648 (Ende des ius reformandi), mit der weitgehend abgeschlossenen Segmentierung der Konfessionen und einem abnehmendem staatlichen Konformitätsdruck, Konfession auf einer Meso- und Mikroebene als Kultur zu untersuchen.

Hieran anschließend boten FRANKA SCHÄFER und ANNA DANIEL (beide Hagen) eine am Bourdieuschen Praxis-Begriff orientierte kultursoziologische Annäherung an das Phänomen Konfession. Dabei betonten sie die Eigendynamik sozialer Praxis und legten den Begriff des Religiösen Feldes ausführlich dar. Konfessionelle Praxis sei dort zu analysieren, wo die routinierten Einzelpraktiken der dezentrierten Akteure sich zu Praxisformen und Praxisformationen verstetigten. Die Referentinnen schlugen den Historikern nicht nur konkrete Untersuchungsfelder vor, sondern reflektierten auch auf die methodisch zentrale Frage, dass eine direkte Beobachtung der religiösen Praxis für Historiker nicht möglich, sondern sie immer auf Repräsentationen dieser Praxis angewiesen sei.

ALEXANDER SCHUNKA (Berlin) untersuchte im ersten Fallbeispiel der ersten Sektion Brandenburg-Preußen um 1700 im Hinblick auf binnenkonfessionelle Pluralität. Im Kontext der Beschreibungen des Irenikers Daniel E. Jablonski zum „Theatrum des Kirchenkrieges“ stellte er irenische Initiativen zu einer innerprotestantischen Verständigung dar. Diese waren nicht nur von der Asymmetrie aus regierender reformierter Minder- und regierter lutherischen Mehrheit, sondern von Konfliktlinien beeinflusst, die quer zu den Konfessionslagern verliefen: zwischen Pietisten und Orthodoxen sowie zwischen Partikularisten und Universalisten. Am Beispiel symbolischer Kommunikation im Rahmen kirchengeschichtlicher Jubiläen konnte der Referent eine Erinnerungskonkurrenz rekonstruieren, die auf der Repräsentation von Alleinstellungsmerkmalen durch die Konfessionsgruppen basiert habe.

Anschließend kamen mit Köpenick (ehemalige Residenz), Templin (säkularisiertes Kloster) und Brandenburg an der Havel (ehemaliger Bischofssitz) drei hinsichtlich ihrer Sakraltopographie unterschiedlich geprägte Mittel- und Kleinstädte in Kurbrandenburg in den Blick. MATHIS LEIBETSEDER (Berlin) – krankheitsbedingt verlesen von Jan Brademann – setzte mit seinem Blick auf die dort bestehenden Gleichzeitigkeiten einen besonderen Akzent. Für die vielfachen Konjunkturen konfessioneller Differenz war neben der fortgesetzten Parteilichkeit der reformierten Obrigkeit und älteren Vorstellungen religiöser Homogenität in der Stadt das allen Akteuren inhärente Bemühen um Repräsentation ihrer Gruppe ausschlaggebend. Die Konflikte waren also zum Großteil Sichtbarkeitskonflikte. Für die brandenburgischen Simultaneen sei nicht die strikte Unterteilung des Raums, sondern die der Zeit typisch gewesen, durch die Konjunkturen begünstigt worden seien.

Im Herzogtum Berg existierten katholische, lutherische und reformierte Konfessionen mit unregelmäßiger Streuung nebeneinander, weshalb STEFAN GORISSEN (Bielefeld) die Frage aufwarf, wie diese Konfessionsvielfalt mit einem katholischen Landesherrn und dem Prinzip des „cuius regio – eius religio“ möglich gewesen war. Die konfessionelle Identitätsbildung sei im Bergischen ein langwieriger und aufgrund fehlender landesherrlicher Unterstützung bzw. fehlenden obrigkeitlichen Zwangs ein komplizierter Prozess „von unten“ gewesen. Ihm habe es nicht nur an institutionell-organisatorischer Kraft gefehlt, sondern ihm habe eine starke Tendenz zur Ausdifferenzierung und Pluralisierung innegewohnt. Auf deren Basis seien, so Gorißen, im Lauf des 18. Jahrhunderts die Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten schneller als andernorts eingeebnet worden.

Im öffentlichen Abendvortrag referierte UDO STRÄTER (Halle) zu dogmatischen Entwicklungen hinsichtlich des Verhältnisses von Lutheranern und Reformierten seit dem Westfälischen Frieden. Für ihn waren die Religionsgespräche in Brandenburg-Preußen und die Versuche zur Begründung einer Kirchenunion von zentraler Bedeutung. Die Differenz zwischen Reformierten und Lutheranern blieb auf einer impliziten Ebene von Belang, indem sich in theologischen Diskussionen andere Konfliktfelder entwickelten – die Frage etwa, inwieweit eine Kirchenunion möglich und angesichts auch zunehmender Toleranz nötig sei, aber eben auch die Frage, inwiefern einem orthodoxen oder einem auf die lebenspraktisch-ethische Umsetzung orientierten Christentum die Zukunft gehöre. In diesen Diskussionen näherten sich beide Konfessionen subkutan einander an, doch die Differenzen blieben und wurden immer wieder neu bestätigt, ohne dass dies beabsichtig gewesen sei.

ANDREAS ERB (Dessau) behandelte die konfessionelle Dreiecksbeziehung in Hecklingen, einem Dorf im Fürstentum Anhalt-Bernburg, zwischen einer überwiegend lutherischen Bevölkerung, den ebenso lutherischen Herren von Trotha und den reformierten Landesherren. Der im 17. und frühen 18. Jahrhundert anhaltende Widerstand gegen die landesherrliche Einsetzung von Predigern sei dabei Ausdruck der altständischen Ordnungsvorstellungen des Landadels gewesen. Nicht nur als Glaubensgenossen, sondern auch als Gutsherren hätten die Trothas den Widerstand der Bevölkerung unterstützt, der sich selbst noch nach der Kirchenunion 1820 im Festhalten am lutherischen Abendmahlsritus geäußert habe. Somit seien die religiösen Spannungen stets auch ein politisches Ringen im Kontext der Territorialisierung gewesen, während die politische Komponente mit dafür verantwortlich gewesen sei, dass man über lange Zeit hinweg keine religiöse Einigung fand.

VERONIKA ALBRECHT-BIRKNER (Siegen) interpretierte die langanhaltenden Schwierigkeiten bei der Einführung der preußischen Kirchenunion im presbyterial-synodal geprägten Siegerland als einen Konflikt zwischen den Anhängern verschiedener kirchlicher Organisationsformen und verortete sie zugleich im Kontext der Erweckungsbewegung. Nach anfänglichem Widerstand gegen das obrigkeitliche Einheitsstreben und partiellen Kompromissen seien die Siegerländer Gemeinden nach 1850 dazu übergegangen, den Konformitätszwang bei gleichzeitiger Einhaltung der Gesetze durch die Gründung von Vereinen und Missionsgesellschaften geschickt zu unterlaufen. In ihnen konnten sie die für ihre Identität zentralen Aspekte ihrer Kirchenordnung, wie das Pfarrerwahlrecht, aber auch bestimmte religiöse Praktiken beibehalten.

LENA KRULL (Münster) widmete sich dem Reformationsjubiläum von 1817 in der Grafschaft Lippe und der damals aufgeworfenen Frage einer Kirchenunion. Sie arbeitete heraus, dass eine Annäherung der evangelischen Konfessionen im Zuge der Jubiläumsfeier von Untertanen, Geistlichen wie auch der Fürstin Pauline begrüßt, eine Union allerdings mehrheitlich abgelehnt wurde. Wie der Fall Detmold verdeutliche, hätten die Lutheraner großen Wert auf ihre Identitätspflege gelegt, obwohl sie nur eine kleine Minderheit bildeten. Am Beispiel Lemgos zeigte Krull, dass die Skepsis gegenüber der Union auch mit der Ablehnung des Rationalismus zusammenhing, den die meisten Unionsbefürworter vertraten. Lediglich in Blomberg sei ein Vereinigungswunsch von der Gemeinde ausgegangen, auf den die Fürstin allerdings zurückhaltend reagiert habe. Unterschiede in Glauben und Liturgie seien zwar insbesondere im Abendmahlsritus und der Ubiquitätslehre wahrgenommen, jedoch nicht als Hindernis für eine Union betrachtet worden.

HANS SEEHASE (Magdeburg) zeichnete ein breites Panorama von der Kirchenprovinz Sachsen zwischen 1817 und 1846. Dabei skizzierte er, wie die einstmals politisch und religiös stark fragmentierte Provinz sich seine konfessionelle Vielfalt auch unter der Evangelischen Kirche in Preußen bewahrte. Sowohl mit dem Unionsaufruf 1817 als auch mit der Einführung der Provinzagende für Sachsen 1829 sei das Oberkonsistorium auf den Widerstand der Gemeinden gestoßen, die ihre Autonomie verteidigt hätten, indem sie sich der Zusammenarbeit mit den Behörden entzogen oder Konflikte um Einzelfragen eröffnet hätten. Statt einheitlicher Regelungen mussten so Einzelfalllösungen gefunden werden.

NIELS GRÜNE (Innsbruck / Freiburg) beschäftigte sich mit trikonfessionellen Dorfgemeinden in der Rhein-Neckar-Region zwischen 1750 und 1850. Er argumentierte, dass potentielle innerprotestantische Differenzen unter kurpfälzischer – und damit katholischer – Herrschaft durch einen Solidaritätsdruck und im 19. Jahrhundert durch die badische Kirchenunion eingehegt worden seien. So hätten Reformierte und Lutheraner ihre Mitbestimmungsrechte bei der Besetzung des Schultheißenamts genutzt, um sich gegen die katholische Obrigkeit zu behaupten, indem sie möglichst unfähige Amtmänner einzusetzen versucht hätten. Noch unter der etablierten Union sei es zu Spannungen zwischen den Gruppen gekommen, jedoch habe man sehr schnell auf konfessionelle Zuschreibungen verzichtet.

CLAUDIA DRESE (Halle) beschäftigte sich mit dem Unionsprozess in Anhalt-Bernburg zwischen 1816 und 1820, der von den Protagonisten Herzog Alexius Friedrich Christian und dem General-Superintendenten Friedrich Adolf Krummacher geprägt war. Letzterer habe die Union zunächst als Formalie betrachtet, sei jedoch zu der Überzeugung gekommen, dass eine Vereinigung von der Basis ausgehen müsse. Alexius habe 1820 hingegen eine Verwaltungsunion nach Berliner Vorbild forciert, die auch Krummacher entgegen seiner Überzeugung unterstützt habe, sodass in der Bernburger Union Glaubensinhalte weitestgehend ausgelassen worden seien. Durch den Fokus auf Gemeinsamkeiten seien im Unionsprozess transkonfessionelle Elemente hervorgehoben worden, jedoch sei der Fürst damit lediglich einem Trend der Zeit gefolgt und habe theologische Kontroversen vermieden.

Den vorgestellten Fällen gemeinsam war, dass religiöse Spannungen fast immer gewaltfrei ausgetragen wurden. Zahlreiche Vorträge verband die Feststellung einer konfessionellen Differenz in der Latenz, die durch verschiedene Impulse aus ihrem Schlummer geschreckt worden sei, obwohl diese oftmals gerade die Überwindung von Gegensätzen zum Ziel haben konnten, wie etwa Unionsaufrufe. Die Frage nach entsprechenden Konjunkturen lässt sich somit bejahen, wobei eingeworfen wurde, dass Vereinigungsversuche und andere Impulse möglicherweise nicht konfessionelle Differenz (neu) markiert, sondern lediglich ein bestimmtes Quellenmaterial produziert haben könnten, das diese Differenz für Historiker erst sichtbar macht. Die privilegierten Signifikanten, an denen sich konfessionelle Gruppenidentität festmachte, reichten von einzelnen Bestandteilen der Liturgie bis hin zu (z.B. synodalen) Organisationsstrukturen, die aber jeweils nur in bestimmten Kontexten symbolisch aufgeladen worden seien. Insbesondere bei Unionsfragen scheinen Glaubenshinhalte eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben.

Man war sich insgesamt einig, dass Untersuchungen zur Identität und Alterität konfessioneller Gruppen nach 1648 strukturell, aber auch ephemer beeinflusste gesellschaftliche „Interaktionsarenen“ in den Blick nehmen sollten. Die einzelnen Vorträge zeigten somit, dass man über das bloße Feststellen unterschiedlicher konfessioneller Gruppen hinausgehen kann, indem man die institutionelle (kirchlich), sprachliche („reformiert“ – „lutherisch“) und symbolische Markierung konfessioneller Differenz auf ihre gesellschaftliche Bedingtheit hin untersucht. Die Fülle der aufgezeigten Zusammenhänge lässt sich – zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls – noch nicht in allgemeingültige Erklärungsmuster überführen. Die sozialen Kontexte, religiösen Praktiken und die Wahrnehmungshorizonte der Akteure kristallisierten sich damit aber als diejenigen Kategorien heraus, die aktuell die geschichtswissenschaftliche Konfessionsforschung prägen und dies auch weiter tun sollten.

Konferenzübersicht:

Marianne Taatz-Jacobi (Halle): Begrüßung
Jan Brademann (Dessau): Einführung

Sektion 1: Was ist Konfession?

Georg Raatz (Hannover): Was ist „Konfession“? Überlegungen aus systematisch-theologischer Sicht.

Franka Schäfer, Anna Daniel (Hagen): Konfession im Vollzug – eine am Begriff der Praxis orientierte kultursoziologische Betrachtung.

Sektion 2: Fallbeispiele reformiert-lutherischer Interaktion im Alten Reich

Alexander Schunka (Berlin): Das Theatrum des Kirchenkriegs. Konfessionelle Pluralität in Brandenburg-Preußen um 1700 im Kontext der neueren Religions- und Kirchengeschichtsforschung.

Mathis Leibetseder (Berlin): Simultankirchen in Stadt und Land. Mikrostudien zu Brandenburg-Preußen (1648-1806).

Stefan Gorißen (Bielefeld): Interkonfessionelle Konflikte und Kooperationen im Herzogtum Berg zwischen der Mitte des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts.

Udo Sträter (Halle): Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen zwischen Westfälischem Frieden und Altpreußischer Union.

Andreas Erb (Dessau): Zwei Konfessionen, drei Parteien. Pfarrstreitigkeiten in Hecklingen (Anhalt) im Spannungsfeld von Landesherr, Gutsherr und Untertanen (17./18. Jahrhundert).

Sektion 3: Fallbeispiele für die Unionsbemühungen im 19. Jahrhundert

Veronika Albrecht-Birkner (Siegen): Die Einführung der Union und die frühe Erweckungsbewegung im Siegerland.

Lena Krull (Münster): Das Reformationsjubiläum 1817 und das Scheitern der Union in Lippe.

Hans Seehase (Magdeburg): Evangelische Union ohne eigenes Bekenntnis – regionale Wege zwischen Union und Agende in der Kirchenprovinz Sachsen von 1817-1846.

Niels Grüne (Innsbruck): Bekenntnis- oder Dorfgemeinschaft? Reformierte und Lutheraner in multikonfessionellen ländlichen Gesellschaften der Sattelzeit (ca. 1750-1850).

Claudia Drese (Halle): Die „Reconstruction des Protestantismus“ in Anhalt – Transkonfessionalität oder politischer Opportunismus?


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