Fünfte Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

Fünfte Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.04.2016 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Giovanni Rubeis / Maximilian Schochow, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Am 20.4.2016 fand die „Fünfte Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte“ in Halle (Saale) statt. Die Konferenz wurde vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin unter der Leitung von Florian Steger ausgerichtet. Auch dieses Jahr war es das Ziel der Konferenz, Einblicke in die aktuelle medizin- und wissenschaftshistorische Forschung in der Region und darüber hinaus zu geben. In seinem Eröffnungsvortrag stellte Steger die diesjährigen Themen vor und zog eine kurze Zwischenbilanz. In ihrem fünfjährigen Bestehen habe die Mitteldeutsche Konferenz die große Bandbreite an Forschungsaktivitäten in der Region dokumentiert. Sie sei fest im Veranstaltungskalender etabliert und sollte auch in den kommenden Jahren dem wissenschaftlichen Austausch dienen. In diesem Sinn begrüßte Steger einen Gast aus der Demokratischen Republik Kongo. Dudu Musway forscht derzeit im Archiv der Franckeschen Stiftungen zur Geschichte von Ebola anhand von Missionarsberichten des 17. und 18. Jahrhunderts.

Den Anfang machte SUSANNE RADESTOCK (Leipzig) mit ihrem Vortrag zu Semiotiken ägyptischer medizinischer Texte. Dabei ging Radestock schwerpunktmäßig auf den Papyrus Ebers und den Papyrus Smith ein. Beide Papyri entstanden im Neuen Reich (circa 1540–1070 v. Chr.). Neben diagnostischen und therapeutischen Anweisungen enthalten die Texte auch Angaben zum Untersuchungsvorgang, für welchen das Deuten von Zeichen der Erkrankung – die Semiotik – entscheidend war. Bei den Papyri handelt es sich vermutlich um medizinische Lehrtexte, was sich unter anderem an den verwendeten Fachbegriffen erkennen lässt, die nur teilweise übersetzbar sind.

Im anschließenden Vortrag widmete sich FRANK URSIN (Halle/Saale) der Podagra und ihrer Rolle im antiken Wohlstandsdiskurs. Den Schwerpunkt setzte Ursin auf die römische Kaiserzeit. Er verglich dabei satirische Texte von Lukian (125–180) und Juvenal (um 60–nach 127) mit medizinischen Fachschriften von Celsus (25 v.Chr.–50 n.Chr.), Plinius (23/24–79) und Galen (129– ca. 210). Des Weiteren stellte er die antike Auseinandersetzung mit dem Podagra der frühneuzeitlichen Auffassung der Erkrankung gegenüber. Dabei konnte er zeigen, dass in der antiken Diskussion das Podagra als Makel angesehen wurde, während sie in der Frühen Neuzeit als Auszeichnung im Sinn einer „patrizischen Krankheit“ galt.

Frühneuzeitliche niederländische Schriften zur Syphilis und ihre Rezeption im mitteldeutschen Raum standen im Mittelpunkt der Präsentation von BETTINA NOAK (Berlin). Dabei setzte sie sich mit Steven Blankaarts (1650–1704) Schrift „Die belägert- und entsetzte Venus“ (1689) sowie Nicolaas Heinsius’ (1656–1718) „Schmachtende Venus“ (1700) auseinander. Beide Texte waren in Leipzig erschienen, was für einen Wissenstransfer von den Niederlanden in den mitteldeutschen Raum spricht. Sowohl Blankaart als auch Hensius widmeten sich der Syphilis vom Standpunkt der cartesianischen Medizin und wendeten sich gegen die zeitgenössische Schulmedizin, die sich vorwiegend auf antike Autoritäten berief. Als therapeutische Methoden wurden von beiden Autoren Schwitzkuren, Purgation, Pharmaka sowie die Verabreichung von Quecksilber empfohlen.

Gegenstand des Vortrages von HILDE MICHAEL (Rostock) waren die Statuten der Medizinischen Fakultät der Bützower Akademie (1760–1789). Konkret widmete sie sich der Frage, ob es sich bei diesen Statuten um einen Entwurf oder um rechtskräftige Festlegungen handelte. Dazu wertete Michael die „Statuta Facultatis Medicae in Academia Bützowiensi“ (1786) aus, das Statutenbuch der Bützower Akademie, das sich im Rostocker Universitätsarchiv befindet. Die bisherige Lehrmeinung ging davon aus, dass es sich bei den Statuten um einen provisorischen Entwurf handelte. Anhand ihrer akribischen Aufarbeitung des Statutenbuchs konnte Michael zeigen, dass die dort angeführten Festlegungen sehr wahrscheinlich rechtskräftig waren.

SASKIA GEHRMANN (Halle/Saale) berichtete von ihrem Dissertationsprojekt, das von Florian Steger betreut wird. Darin untersucht sie die Organisation der Krankenversorgung in den Franckeschen Stiftungen im 18. und 19. Jahrhundert. Es geht Gehrmann darum, die medikale Institution der Franckeschen Stiftungen als Netzwerk voneinander abhängiger Akteure zu beschreiben. Gehrmann stellte den „Entwurf zu einer Instruction eines Medici ordinarii“ (1753) von Johann Juncker (1679–1759) vor. Dieser Entwurf war bis ins 19. Jahrhundert gültig und wurde stets an aktuelle Erfordernisse der Krankenversorgung angepasst. Anhand dieser Quelle konnte Gehrmann Aufschluss über Aufgabenfelder einzelner Akteure geben. Wie die Versorgung im 19. Jahrhundert umgesetzt wurde, zeigte Gehrmann anhand von Briefen aus der Krankenstation.

ELENA ROUSSANOVA (Leipzig) sprach in ihrem Vortrag über die Schlüsselrolle der Universität Jena für die Entwicklung der Pharmazie im Russischen Kaiserreich. Sie bezog sich auf den Zeitraum 1794 bis 1871 und konnte zeigen, dass viele an der Universität Jena promovierte Pharmazeuten später zur Elite der russischen Pharmazie gehörten. Besonders hob Roussanova das Wirken von Carl Christian Traugott Friedemann Göbel (1794–1851) und Carl Claus (1796–1864) in der russischen Pharmazie hervor. Darüber hinaus betonte Roussanova die Bedeutung des Wissenschaftsraumes Jena-Erfurt-Weimar für den deutsch-russischen Wissenschaftstransfer. Dabei ging sie auch auf die Rolle der wissenschaftlichen Gesellschaften, wie der „Naturforschenden Gesellschaft zu Jena“ und der „Societät für die gesammte Mineralogie zu Jena“ ein.

Die ehemalige Lehrmittelsammlung des Karl-Sudhoff-Instituts war Thema des Vortrages von MARCEL KORGE (Leipzig). Dabei ging er auf die Bildersammlung des Instituts ein. Die Aufarbeitung dieser Bildersammlung gestaltet sich als schwierig, da die Kartei und das Eingangsbuch verschollen sind. Das persönliche Ordnungssystem von Karl Sudhoff (1853–1938), der die Sammlung ab 1905 aufgebaut hatte, lässt sich heute nicht mehr vollständig nachvollziehen. Aus diesen Gründen ist die Bildersammlung bisher unerforscht. Korge sprach sich für eine wissenschaftliche Bearbeitung aus, da die Bildersammlung einen wichtigen Beitrag zum Fach Medizingeschichte wie auch zur Geschichte des Karl-Sudhoff-Instituts liefern kann.

MAXIMILIAN SCHOCHOW (Halle/Saale) berichtete von einem gemeinsamen Projekt mit Florian Steger. Anhand von BStU-Akten konnte gezeigt werden, dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bereits Ende der 1950er-Jahre einen Dermatovenerologen als inoffiziellen Mitarbeiter (IM) gewinnen konnte. Über diesen IM-Arzt erhielt das MfS bis zum Ende der DDR Sach-, Stimmungs- und Personenberichte und hatte umfangreiche Kenntnisse über Patienten, die in geschlossene Venerologische Stationen in Halle oder Leipzig zwangseingewiesen wurden. Die Informationen über Patienten nutzte das MfS gezielt zur Anwerbung und Zersetzung einzelner Personen. Gleichzeitig war der IM-Arzt an der Planung operativer Vorgänge gegen Patienten beteiligt.

In ihrem Vortrag präsentierte ANJA WERNER (Halle/Saale) die Ergebnisse des Forschungsprojektes zu Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR zwischen 1983–1990, das von Florian Steger geleitet wurde. Die zentrale Forschungsfrage war, ob klinische Auftragsprüfungen westlicher Arzneimittel in der DDR normgerecht durchgeführt wurden. Dazu wurden vier Einzelfallstudien zum synthetischen Wachstumshormon Saizen, zur „Abtreibungspille“ Mifepriston (RU-486), zum Wirkstoff Timolol in der Augenheilkunde und zu den Antiasthmatika Zaditen und Cromolyn durchgeführt. Zwar ergab die Studie, dass die Aufklärung von Probanden in der DDR weniger umfangreich erfolgte als in der Bundesrepublik. Systematische Normverstöße konnten im Rahmen der Fallstudien nicht festgestellt werden.

ANDREAS CHRISTOPH (Jena) sprach in seinem Vortrag über den Aufbau einer virtuellen Forschungsumgebung für historische Cartographica am Beispiel des Kartenarchivs Plus. Dabei zeigte Christoph die Möglichkeiten der Digitalisierung für eine objekt- und sammlungsbezogene Medizin- und Wissenschaftsgeschichte auf. Das Potential von Bibliotheken, Archiven, Museen und Sammlungen werde oft nicht ausgeschöpft. Im Sinn der Digital Humanities wäre eine institutionenübergreifende Vernetzung nach einheitlichen Standards vonnöten. Die Digitalisierung der Bestände würde in weiterer Folge nicht nur der Forschung zu Gute kommen, sondern ließe sich auch im Rahmen der Popularisierung von Wissenschaft nutzen.

EVA BRINKSCHULTE und ALEXANDER BASTIAN (beide Magdeburg) sprachen über Problematiken der ELSA-Forschung am Beispiel des BMBF-Projekts „Emotion – Mensch-Maschine-Interaktion (EMOAdapt)“. Forschungsgegenstand ist die emotionssensitive Anpassung in der Interaktion von Mensch und Maschine. An eine allgemeine Einführung in das Projekt schloss sich eine kritische Auseinandersetzung mit der ELSA-Begleitforschung an. Die Begleitforschung beziehe sich auf die ethischen, legalen und sozialen Aspekte (ELSA) wissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Dabei bestehe die Gefahr, dass diese Forschung lediglich der Legitimation neuer wissenschaftlich-technischer Entwicklungen diene. So entstehe vor allem aus der historischen Perspektive der Eindruck, dass die ELSA-Begleitforschung funktionalisiert werde, um einer kritischen Debatte vorzubeugen.

In den Vorträgen der „Fünften Mitteldeutschen Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte“ wurde ein weiteres Mal die große Bandbreite an Forschungsaktivitäten im mitteldeutschen Raum deutlich. Dies nahm Florian Steger zum Anlass, eine Publikation im Leipziger Universitätsverlag für 2016 anzukündigen, in der ausgewählte Vorträge der letzten fünf Jahre in Aufsatzform veröffentlicht werden.

Konferenzübersicht:

Susanne Radestock (Leipzig): Zu Semiotiken ägyptischer medizinischer Texte

Frank Ursin (Halle/Saale): Podagra und der kaiserzeitliche Wohlstandsdiskurs

Bettina Noak (Berlin): Frühneuzeitliche niederländische Schriften zur Syphilis und ihre Rezeption im mitteldeutschen Raum

Hilde Michael (Rostock): Die Statuten der Medizinischen Fakultät der Bützower Akademie (1760–1789). Entwurf oder rechtskräftige Festlegungen?

Saskia Gehrmann (Halle/Saale): Organisation der Krankenversorgung in den Franckeschen Stiftungen im 18. und 19. Jahrhundert

Elena Roussanova (Leipzig): Die Schlüsselrolle Jenas für die Entwicklung der Pharmazie im Russischen Kaiserreich

Marcel Korge (Leipzig): Die ehemalige Lehrmittelsammlung des Karl-Sudhoff-Instituts

Maximilian Schochow und Florian Steger (Halle/Saale): Geschlossene Venerologische Stationen in der DDR als Instrument des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)

Anja Werner (Halle/Saale): Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR, 1983–1990: Aktuelle Forschungsergebnisse

Andreas Christoph (Jena): Das Kartenarchiv Plus. Aufbau einer virtuellen Forschungsumgebung für historische Cartographica

Eva Brinkschulte und Alexander Bastian (Magdeburg): Zur Problematik der ELSA-Forschung am Beispiel des BMBF – Projekts „Emotion-Mensch-Maschine-Interaktion (EMOAdapt)“


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