Ständische Grenzüberschreitungen

Ständische Grenzüberschreitungen

Organisatoren
Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e.V.
Ort
Reichenau
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.03.2016 - 18.03.2016
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Von
Simona Generelli / Regula Schmid, Historisches Institut, Universität Bern

Die Frühjahrstagung „Ständische Grenzüberschreitungen“ des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte fokussierte auf das Spannungsfeld zwischen normativer Ständelehre und der Wirklichkeit sozialen Wandels und sozialer Abgrenzungsvorgänge. In seiner Einleitung umriss CHRISTIAN HESSE (Bern) die Problemstellung. Das von Adalbero von Laon entwickelte, an Augustins „Gottesstaat“ orientierte Modell einer gemäss ihrer Tätigkeit in drei Ständen geordneten Gesellschaft wurde im Lauf des Mittelalters zunehmend als Formel zur Ordnung der sozialen Wirklichkeit aufgefasst. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Modell und Realität vermochten auch Versuche der Differenzierung, wie sie etwa Christine de Pizan für den „dritten Stand“ vornahm, nicht aufzuheben. Trotz der anerkannten Unzulänglichkeiten entfaltete das Ordo-Modell zunächst im spätmittelalterlichen Frankreich zunehmend Wirkung, indem die Überschreitung ständischer Grenzen – etwa bei kaufmännischer Tätigkeit von Adligen – gerichtlich geahndet werden konnte. Mit grossen regionalen und zeitlichen Unterschieden wurde auch andernorts in Europa die ständische Zugehörigkeit zum Thema des öffentlichen Diskurses. Besonders intensiv waren die zunehmenden, regional und kontextuell aber unterschiedlich ausgeprägten Auseinandersetzungen über ständische Grenzüberschreitung innerhalb des Adels. Dies wirft gemäss Hesse die Fragen auf, ob das Ordo-Modell nur in Krisensituationen herbeigezogen wurde und wieweit dessen Geltungsbereich überhaupt reichte.

Als sozialhistorischer Zugriff hat sich das von Otto Gerhard Oexle für mittelalterliche Gesellschaften adaptierte Konzept der sozialen Gruppe als besonders erkenntnisfördernd erwiesen, unter anderem, weil es den Hinweis auf die unscharfen Ränder und die Dynamik solcher gesellschaftlicher Formationen in sich trägt. Historiographisch ähnlich erfolgreich, vor allem im Bereich der Adelsforschung, war zudem das erweiterte Kapitalmodell Pierre Bourdieus mit seiner Vorstellung von ineinander überführbaren Kapitalsorten und von der Bedeutung des Auftretens einer Person (Habitus). Wenig thematisiert wurden dagegen bislang die Verschränkungen von sozialer Zugehörigkeit und auf ständische Vorstellungen rekurrierender Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung. Hier setzte die Tagung ein. Die soziale Wirkung des Ordo-Modells sollte in den vier Themenbereichen Politik und Herrschaft, Kirche, Stadt und Hof sowie (übergreifend) Habitus betrachtet und dabei nach Wahrnehmung, räumlicher Situierung, Ursachen, Faktoren, welche etwa die rechtliche Abgrenzung beförderten, Begründung und Legitimation von Standeswechseln, Regelung, Wirksamkeit und Geltungsbereich der Normen in der Praxis und schließlich Zusammenarbeit zwischen Ständen gefragt werden.

Zum Auftakt erörterte ANDREAS THIER (Zürich) in einem das frühe bis ausgehende Mittelalter umfassenden Referat aus rechtshistorischer Sicht, wie die Abgrenzung sozialer Gruppen untereinander auch mit den Mitteln rechtlicher Normativität bewirkt wurde. Er entwickelte seine These, dass die Transzendierung der Ständegrenzen fester Bestandteil mittelalterlichen Rechtsdenkens gewesen sei an den Beispielen Ehe, priesterlicher Ordination und Dispens für Kleriker. Gerade die priesterliche Ordination zeige die Begrenzung des Konzepts „Grenzüberschreitung“, begründe sie doch einen (neuen) Stand – denjenigen der Geistlichkeit – dauerhaft. Die Dynamik des rechtlichen Standeskonzepts zeige sich schließlich in der Definition der nobilitas. Diese habe sich zunächst verfestigt, im frühen italienischen Humanismus aber „regelrecht verflüssigt“. Das 15. Jahrhundert erweist sich dabei als Umbruchszeit: Der Rechtsdiskurs habe zwar die – in Realität bereits überkommenen – Grenzen betont, die Rechtspraxis aber in hohem Mass Grenzüberschreitungen zugelassen und gar befördert. Erst die frühe Neuzeit habe dann die Fixierung von Standesgrenzen mithilfe der Gesetzgebung regelhaft etabliert.

Auf Grundlage der Frage „Wer vertritt wen in den Ständeversammlungen des Spätmittelalters?“ stellte JÖRG FEUCHTER (Berlin) strukturelle, individuelle und politische ständische Grenzüberschreitungen fest. Nach einem klärenden Ausholen in die Forschungsgeschichte des Repräsentationskonzepts zeigte er an zahlreichen Beispielen, dass ständische Grenzüberschreitungen auf Versammlungen „keine Abweichung, sondern Normalität“ waren. Es war durchaus üblich, dass ein Vertreter nicht nur seinen eigenen, sondern auch einen anderen Stand repräsentierte oder eine Person für alle Stände sprach. In der Versammlung erscheinen die Standesgrenzen als „porös“. Nicht „wer steht für wen“, sondern „wer redet für wen“ erweist sich entsprechend als die zentrale Frage in der Praxis. Feuchter diagnostizierte abschließend, dass Grenzüberschreitungen der ständischen Ordnung inhärent waren.

MARTINA STERCKEN (Zürich) widmete sich in der Folge am Beispiel der habsburgischen Einungen im Gebiet der heutigen Schweiz den Landfrieden als interständischen Projekten. Durch die Gegenüberstellung der Landfrieden von 1333 und 1410 konnte sie aufzeigen, wie sich innerhalb der habsburgischen Städte ein gewisses Mass an ständischer Identität ausbildete. Die Landfrieden wirkten ihrerseits auf die Ausformung der Stände ein. Allerdings seien mit dem Landfrieden von 1410 die Grenzen ständischen Engagements erreicht worden. Eine erfolgreiche Weiterführung hätte erneut aktives Eingreifen der Herrschaft benötigt, wie dies in Klageschreiben der Städte auch gefordert wurde.

In der Folge zeigte KARL-HEINZ SPIESS (Greifswald) die Problematik ständischer Zuordnungen anhand der Ein- und Austritte von Mitgliedern des Fürsten- und Grafenstandes in Klöstern und Stiften als Instrument zur Erhaltung adligen Stands und Namens auf. Das Erbrecht der hochadligen Regenten verlangte einerseits die prinzipielle Gleichbehandlung der – aus genealogischen Gründen möglichst zahlreichen – männlichen Mitglieder der Familie, andererseits durfte das Territorium als Ziel und Grundlage der Herrschaft aber nicht zersplittert werden. In diesem Dilemma stellte die oft erzwungene „Abschichtung“ von Söhnen ein wichtiges Instrument dar. Hausverträge setzten fest, welcher Sohn die Grenze zum geistlichen Stand zu überschreiten hatte. Im Gegenzug standen Renten und kleinere Herrschaften in Aussicht, wobei die Höhe des familiären Unterhalts an das Pfrundeinkommen gekoppelt war. Geldzahlungen verhalfen zudem zu den nötigen Dispensen, welche im familiären Notfall auch die Rückkehr des Sohnes in die weltliche Rolle ermöglichten. Der (welt)geistliche Stand stellte sich so als optimale Karrieremöglichkeit und als „Grenz- oder Mischzone“ heraus, blieben doch die Söhne von Fürsten und Grafen in der Regel auch als Kleriker dem Denken und Handeln ihres adligen Standes verbunden. Die Kritik an dieser hochadligen Versorgungspraxis beförderte im Übrigen die Reformation. Nach diesem Umbruch mussten die Grafen neue Versorgungskanäle finden, während sich die Verpfründungsmöglichkeit der wenigen katholisch gebliebenen Fürsten schlagartig günstiger gestaltete.

Auch KERSTIN HITZBLECK (Ahrensburg) stellte zunächst fest, dass der Klerus die „Schnittmenge“ zwischen dem Modell der drei Ordines und dem kirchlichen, bipolaren Modell von Klerikern und Laien darstellte. Dann nahm sie die Zuhörenden mit auf die Jagd mit Erzbischof Robert de Mauvoisin, der sein Wild in skandalöser Weise mit Geschrei und Hörnerschall – und nicht, wie im Kirchenrecht vorgesehen, lautlos – durch den Wald jagte. Im geschilderten päpstlichen Prozess gegen den Erzbischof standen Vorwürfe der ständischen Grenzüberschreitung im Zentrum. Tatsächlich aber habe die Anklage politischen Zielen gedient. Mit der Analyse dieses und anderer Fälle wies Hitzbleck nach, dass im 14. Jahrhundert in Frankreich bei der Bewältigung politischer Konflikte der Prozess neben militärische und diplomatische Mittel trat und im Zuge dieser Entwicklung ständische Normen Teil eines juristischen Argumentariums wurden.

Juristisch letztlich nie fest fassbar waren die auf Standesvorstellungen bezogenen Grundlagen der Elitenbildung in deutschen Städten des 15. Jahrhunderts, wie PIERRE MONNET (Frankfurt am Main / Paris) hervorhob. Zwar orientierten sich die neuen Eliten des Spätmittelalters an adligen Standesmustern, ihr Referenzpunkt war aber stets die Stadt, deren Regeln des Zusammenlebens sie zu respektieren hatten. Dabei zeichnete sich die Elite gerade durch die Fähigkeit aus, die eigene gesellschaftliche Führungsposition durch ständisch orientierte Bezeichnungssysteme zu definieren. Aus Sicht des landsässigen Adels stellten der Erwerb adelstypischer Attribute und die Adaption adliger Verhaltensweisen durchaus ständische Grenzüberschreitungen dar. Um aber die sozialen Prozesse insgesamt fassen zu können, so Monnet, sei das soziologische Konzept der Elite wesentlich besser geeignet, als noch so differenzierte Standeskonzepte.

Die „hybride Kultur“ des spätmittelalterlichen Stadtadels in oberdeutschen Handelsstädten stellte anschließend GERHARD FOUQUET (Kiel) ins Zentrum seines Vortrages. Soziale Grundlage dieser sich aus der städtischen Genossenschaft abkapselnden Gruppen waren (möglichst alter) Reichtum und „adlige“ Lebensweise. Die von Fouquet aufgeführten Fälle von Ullmann Stromer, Henmann Offenburg und Christoph Fürer zeigen deutlich, wie prekär letztlich die Stellung dieses städtischen Adels war, dessen Legitimations- und Behauptungsstrategien einem ständigen Balanceakt zwischen städtisch-genossenschaftlicher Anpassung und adliger Ostentation glichen.

In der Folge zeigte ANDREAS RÜTHER (Bielefeld) die Dynamiken sozialer Differenzierung in ständisch heterogen zusammengesetzten Gruppen auf. Der Zuwendung zu den Bruderschaften in der Devotio Moderna ging die Überschreitung des eigenen Standes voraus. Mit der Einbettung der lockeren Verbände von Brüdern und Schwestern in regulierte Verbände entstand aber wiederum ein normativer Rahmen, in welchem sich ständische Grenzziehungen manifestierten. Die nun sichtbaren Grenzen konnten anschließend genutzt werden, um auf eine paritätische Vertretung der Stände in den Zusammenschlüssen zu pochen. Rüthers Ausführungen zeigten beispielhaft einerseits die Fluidität ständischer Grenzen, andererseits ihr ordnendes, normierendes Potenzial.

MARC VON DER HÖH (Bochum) stellte in seiner Darlegung zu „Kulturen der Distinktion“ in Köln abschließend klar, dass ein blosses Ersetzen des Standesbegriffs als Begriff „mit geringer analytischer Schärfe“ (Oexle) durch den Gruppenbegriff nicht ausreiche, sei doch Stand in der frühen Neuzeit eindeutig Teil einer politischen Praxis. Er plädierte demzufolge für die konsequente Historisierung von „Stand“ als Ordnungskategorie, die von Akteuren hervorgebracht wurde und in konkreten historischen Situationen entstand. Die Forderung löste er überzeugend am Fall Köln ein. Die komplexen Überlagerungen von Denkmodellen, Quellensprache und Akteuren wurden in der Konfrontation hergebrachter Vorstellungen, etwa über die Rolle der Geschlechter, mit der historischen Analyse besonders deutlich. Geschlechter als agnatische Abstammungsgemeinschaften spielten im Köln des beginnenden 14. Jahrhunderts keine Rolle. Erst nach der Jahrhundertmitte spitzten sich ständische Deutungen zu. Die Engführung städtischer Herrschaft auf 15 „seit alters her“ führende Geschlechter im 15. Jahrhundert ist demnach eher in den Kontext überhöhender Gründungsmythen zu stellen und stellt keinen Ausdruck sozialer Realität des 14. Jahrhunderts dar.

Das Konzept der „ständischen Grenzüberschreitung“ erwies sich insgesamt als fruchtbare Aufforderung, das Spannungsfeld von normativen Ordnungsvorstellungen und sozialer Praxis sowie von Argumentationsmustern und gesellschaftlicher Konkurrenz historisch verortet auszuloten. Wie STEPHAN SELZER (Hamburg) in der Zusammenfassung hervorhob, wurden explizit theoretische Überlegungen zugunsten reicher Fallanalysen und Grundsatzdebatten in den Hintergrund gerückt, ohne dass diese aber ganz fehlten: Vor allem Oexles soziologischer Gruppenbegriff wie auch die Modellbildung und der erweiterte Kapitalbegriff Bourdieus haben sich für die empirische Erfassung gesellschaftlicher Dynamiken im Wechselspiel von Wahrnehmung, Selbstdeutung und Handeln als besonders hilfreich erwiesen. Selzer ist ebenfalls darin zu folgen, dass die – in einzelnen Vorträgen angeklungene – Umformung der mit ständischen Ordnungsvorstellungen handelnden Gesellschaften des Mittelalters zu den geschlossenen, ständisch explizit strukturierten Gesellschaften des 16. Jahrhunderts einer eigenen Betrachtung wert gewesen wäre.

Schließlich wurde die Vorstellung von Grenzen recht eigentlich aufgeweicht, indem Referate und Diskussionsbeiträge in der Praxis stets „flüssige Grenzen“, „Mischzonen“, „Porosität“ der Grenzziehung, aber auch eine „gläserne Decke“ sozialen Aufstiegs erkannten. Eine konsequente Problematisierung der Standesgrenze als Prämisse hätte einen zusätzlichen analytischen Impetus geben können. Die dichten Vorträge und die lebhaften Diskussionen bewiesen aber, dass das 15. Jahrhundert eine Phase besonders intensiven Wandels war, nicht nur mit Blick auf die (im Vergleich zur Landesherrschaft wohl viel zu prominent heraustretenden) Städte, sondern auch auf die Bedeutungszunahme des Prozesses als Form der Konfliktaustragung. In der Praxis manifestierten sich ständische Ordnungen gerade in der – wahrgenommenen und kommentierten – Grenzüberschreitung. Insbesondere städtische Eliten, welche per definitionem ihren „Wurzelgrund“ in der städtischen Gemeinschaft wie in der Adelsorientierung fanden, fanden sich Balanceakten ausgesetzt, die eine ständige Gefährdung in sich trugen. Grenzüberschreitungen boten aber stets auch Chancen; sie sind, wie von Christoph Dartmann in der Diskussion des Vortrags von Kerstin Hitzbleck hervorgehoben, nicht nur defizitär.

Die Tagung machte deutlich, dass Stand als zeitgenössisches Normensystem sehr wohl für die Erfassung mittelalterlicher Gesellschaften fruchtbar gemacht werden kann, aber die zeitliche, räumliche und nach Handlungskontexten vorgenommene Historisierung noch konsequenter angegangen werden sollte. Soziologische, konzeptuelle Zugänge zur Erfassung sozialer Ungleichheiten und sozialen Wandels werden dadurch selbstverständlich nicht ersetzt. Im Gegenteil: Gruppenbegriff, Habitus-, Kapital- und Elitenkonzept, Rang und Rolle bieten Handhaben, um Stand und ständische Ordnung als schillerndes Instrument sozialer Verortung und Movens gesellschaftlicher Dynamik überhaupt zu begreifen.

Konferenzübersicht:

Christian Hesse (Bern): Einführung in das Tagungsthema

Andreas Thier (Zürich): Deutungsmuster und Regelungsansätze ständischer Grenzüberschreitungen in Recht und Rechtswissen

Jörg Feuchter (Berlin): Wer vertritt wen? Ständeordnung und Ständeversammlung im Spätmittelalter

Martina Stercken (Zürich): Landfrieden als interständisches Projekt. Habsburgische Einungen im Gebiet der heutigen Schweiz

Karl-Heinz Spieß (Greifswald): Ein- und Austritte von Mitgliedern des Fürsten- und Grafenstandes in Klöstern und Stiften

Kerstin Hitzbleck (Ahrensburg): Al lebrier e a la lebre! Geistliche Würdenträger im Spätmittelalter zwischen klerikalem Amt und adeligem Selbstverständnis

Pierre Monnet (Frankfurt am Main / Paris): Patriziat, Obere Schicht, Stadtadel. Überschreitungen, Lebensformen und Selbstwahrnehmungen bei den städtischen Eliten im spätmittelalterlichen Reich

Gerhard Fouquet (Kiel): Shakespeares Bassanio und das bleierne Kästchen. Chancen und Risiken sozialer Grenzüberschreitungen im mitteleuropäischen Großhandel des Spätmittelalters

Andreas Rüther (Bielefeld): Gemeinsames Leben ohne gemeinsamen Stand. Strukturelle Zwänge und soziale Praktiken innerhalb der nordwestdeutschen Devotio moderna

Marc von der Höh (Bochum): Kulturen der Distinktion. Ständische Markierungen in der spätmittelalterlichen Stadt

Stephan Selzer (Hamburg): Zusammenfassung


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