Neue Forschungen zu Problemen der ländlichen Welt

Neue Forschungen zu Problemen der ländlichen Welt

Organisatoren
Gesellschaft für Agrargeschichte (GfA)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.06.2016 - 11.06.2016
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Von
Friederike Scholten, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Münster; Gunter Mahlerwein, Universität Mainz

Auch in diesem Jahr veranstaltete die Gesellschaft für Agrargeschichte (GfA) ihre traditionelle Jahrestagung: In Kooperation mit dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. (ISGV) trafen sich vom 10. bis 11. Juni im Hauptstaatsarchiv Dresden Agrar- und Sozialhistoriker, Agrarökonomen, Politologen und Ethnologen zum interdisziplinären Austausch. An den zwei Tagen behandelten vier Sektionen unterschiedlichste Forschungsfelder des ländlichen Raums. Nach den Grußworten von Guntram Martin (Leiter des Hauptstaatsarchivs Dresden) und Winfried Müller (Direktor des ISGV) startete, unter Moderation von Stefan Brakensiek (Essen), die erste Sektion mit Hauptaugenmerk auf den Wandel des Geschlechterverhältnisses auf dem Lande in der Zeit vom 18. Jahrhundert bis heute – ein Thema das, so der Befund, lange Zeit Stiefkind in der Geschichte der ländlichen Welt darstellte. DENNY BECKER (Berlin) befasste sich als erster Vortragender mit der Arbeitsteilung in ländlichen Soldaten- und Invalidenhaushalten in Preußen 1740 bis 1806. Nach einer Einführung der verschiedenen Familientypen und Haushaltsrollen stellte er heraus, dass die geschlechterbezogene Arbeitsteilung in Familien der bäuerlichen Schicht deutlich ausgeprägter war als in unterbäuerlichen. Die Studie von bäuerlichen Suppliken ergab, dass die Vereinbarkeit von Militär- und Zivilstand in Ostpreußen scheinbar deutlich schwieriger war als in Mitteleuropa. Allgemein waren die Rollen von Männern und Frauen klar festgelegt. Arbeitsaufgaben des anderen Geschlechts wurden vor allem bei dessen Abwesenheit übernommen, was vor allem in Notzeiten der Fall war. Darüber hinaus waren Invalidenhaushalte nur dann überlebensfähig, wenn eine weibliche Arbeitskraft vorhanden war.

Die emotionale Seite der Beziehungen zwischen Mann und Frau im ländlichen Polen wurde von JÁSMINA KORCZAK-SIEDLECKA und DIETLIND HÜCHTKER (beide Leipzig) in den Blick genommen. Die geschichtliche Erfahrung von Liebe und Hass wurde vor dem Hintergrund der Mentalitäten- und Mikrogeschichte betrachtet und konkret überlegt: wie werden Emotionen erforscht und gab es unter Umständen besondere Emotionen auf dem Land? Gefühle, verstanden als soziales Konstrukt und nicht als flüchtiges, nicht greifbares Phänomen, seien demnach vor allem interdisziplinär zu erforschen (in sozio-ökonomischer und psychologischer Perspektive). Anhand ausgewählter Filmbeispiele, die konkret Gefühle auf dem Land im Polen des 20. Jahrhunderts thematisieren, zeigten die beiden die Bedeutung von Gefühlen als neue Ebene der Geschichtsforschung („Emotion als Sonde in die Vergangenheit“) auf.

Die zweite Sektion, die von Johannes Bracht (Halle-Wittenberg) moderiert wurde, behandelte zunächst das Problem der Ertragssteigerung und der Effizienz bäuerlichen Wirtschaftens im 19. Jahrhundert. OSCAR DUBE (Halle-Wittenberg) untersuchte bäuerliche Aufzeichnungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert und nutzte die darin enthaltenen Angaben zum Ackerbau (Anbau, Düngung, Ernte und Verkauf), um die Produktivität der sächsischen Landwirtschaft statistisch auszuwerten. Sein Ansatz verfolgte vor allem die langfristige Beobachtung des Flächenertrags. Eine Steigerung des Flächenertrags (aufgrund technischer und ökonomischer Bedingungen) sei ein Indikator für den Beginn der Agrarrevolution und könne unter Umständen beantworten, in welcher Form sich diese ausdrückte. Neben der vielseitigen Quellenbasis (wie Anschreibebücher verschiedener Betriebsarten) stellten die Berechnung des Ertrages und ihr Vergleich mit zeitgenössischen Niederschriften den Kern seiner Studie dar.

JOHANNES BENNINGER (Regensburg) zeigte in seinem Beitrag wiederum äußerst anschaulich verschiedenste Sätechniken (für bäuerliche Betriebe ohne Gespann) des Zeitraum 1851-1920. Mittels Patentanmeldungen von Sägeräten in den Vereinigten Staaten war die Fortentwicklung dieser Gerätegattung genau nachvollziehbar. Dabei konzentrierten sich Innovationen zunächst auf den Osten der Vereinigten Staaten und wanderten dann allmählich Richtung Westen. Teilweise kämen diese Geräte, so Benninger, auch heute noch in einzelnen Ländern zum Einsatz.

Einen Blick auf die innerdörfliche Wahrnehmung des ökonomischen Wandels in der deutschen Geflügelwirtschaft nach 1945 warf zum Abschluss dieser Sektion dann BARBARA WITTMANN (Regensburg), die mit dieser Studie auch den diesjährigen Förderpreis Agrargeschichte gewann. Nach einem Abriss des Forschungsfelds Huhn konzentrierte sich die Kulturhistorikerin auf die Entwicklung des Mensch-Nutztier-Verhältnisses in der deutschen Geflügelwirtschaft von 1948-1980. Auf Basis der Zeitschrift des Zentralverbandes der deutschen Geflügelwirtschaft machte sie drei Phasen im ausgewählten Zeitraum aus. Auf eine Aufbauphase (1948-1960) folgte eine Intensivierung (-1972), die eine erfolgreiche Züchtung und dadurch eine entsprechende Ertragssteigerung der Hennen (von 180-190 auf 230-240 Eier je eingestallter Henne) mit sich brachte. Ab 1973 setzte dann eine Tierschutzdebatte ein, in deren Rahmen sich auf der einen Seite Halter und Zuchtwissenschaftler und auf der anderen Seite Tierschützer und Ethnologen um das Wohl der Tiere stritten. Im Fazit wurde dann auch der Blick auf die heutige Situation mit der Diskussion um Käfighaltung gelenkt.

Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete dann die Vorstellung der neuesten Publikation aus dem Kreis der GfA und dem ehemaligen Arbeitskreis für Agrargeschichte. Die „Grundzüge der Agrargeschichte“, herausgegeben von Stefan Brakensiek, Rolf KIießling, Werner Troßbach und Clemens Zimmermann ist das seit Jahrzehnten erste Überblickswerk zur Agrargeschichte, das sich in drei Bänden mit der Agrargeschichte des Mittelalters, der Frühen Neuzeit und der Moderne auseinandersetzt. Es behandelt klassische wirtschaftsgeschichtliche Aspekte wie die Steigerung der Produktivität und bietet neue Akzente – etwa durch vielseitige Wechselbezüge zwischen Land- und Stadtökonomien. Wiederholt werden kulturgeschichtliche Schwerpunkte gesetzt und dabei besonders die Faktoren Bildung und Wissen betont. Umweltgeschichtliche Themen wie der Klimawandel und sozialgeschichtlichen Themen werden bis in die Gegenwart hinein verfolgt. Aber nicht nur die großen historischen Prozesse werden nachgezeichnet, sondern auch regionale Differenzierungen stehen im Blickfeld. Zudem werden unzählige Fakten und Begriffe der Agrargeschichte auf verständliche Weise erläutert.

Den Beginn des zweiten Teils der Tagung bildete Sektion III, geleitet von Ira Spieker (Dresden), die sich dem beschleunigten Strukturwandel in der europäischen Landwirtschaft seit 1945 widmete. Die großen Agrarstrukturmaßnahmen in den 1950er-Jahren behandelte KARL PETER BECKER (Paderborn) am Beispiel der Stadt Brilon. Detailliert und anekdotisch zeigte er den genauen Ablauf des von dem damaligen Bundesernährungsminister und späteren Bundespräsidenten Heinrich Lübke entwickelten Zehnjahresplans, bei dem seine Heimatstadt als Modell fungieren sollte. Die Aussiedelung der Bauern aus der Stadt und die Flurbereinigung sollten der Stadt letztendlich eine Ausdehnungsmöglichkeit geben. Ursprünglich als „Modell für Europa“ angedacht, gab es jedoch auch enormen Widerstand der Bevölkerung („Wenn das mit Zwang durchgeführt wird, dann gibt es hier noch Gewalttätigkeiten), was schließlich zu einer Spaltung der Briloner Bevölkerung führte.

Das sozioökonomische Umfeld der sogenannten Wiedereinrichter in den östlichen Bundesländern nach 1990 erörtere dann die Volkskundlerin UTA BRETSCHNEIDER (Dresden). Nach einem kurzen Abriss der Kollektivierungsprozesse in den 1960er-Jahren (Einführung der LPG) und erster Dekollektivierungsmaßnahmen nach der Wende stellte sie die für ihre Untersuchung wichtigen Konzepte von Raum, Handlung, Diskurs und Identität vor, welche bei der Untersuchung der Transformationsphase nach der LPG unabdingbar seien. Mithilfe der Bewusstseinsanalyse stellte sie abschließend den Erfahrungshorizont eines einzelnen Akteurs in den Mittelpunkt und zeigte den für den Einzelnen erheblichen Einschnitt der Umstrukturierungsprozesse auf.

Den Abschluss dieser Sektion bildete schließlich die niederländische Kollegin FLOOR GROEFSEMA (Groningen) mit einem Diskurs über die Beharrungskraft der bäuerlichen Familienwirtschaft im transregionalen Vergleich (Irland, den Niederlanden und den östlichen Regionen Deutschlands) in der Nachkriegszeit. Dabei nahm sie vor allem die weitgreifenden Modernisierungsprozesse in der Landwirtschaft in den Blick: Die Mechanisierung führte zu einem unvergleichlichen Produktivitätsanstieg, Skalenerträgen und in der Folge einem drastischen Sinken der Arbeitsnachfrage. Die Entstehung der Agrarindustrie und damit zusammenhängend die Einführung einer produktivistischen Agrarpolitik verstärkten Intensivierungs-Entwicklungen und Wettbewerb. Als Resultat, so Groefsema, wurden kleine Familien zunehmend durch kapitalintensive Höfe ersetzt. In ganz Europa, so der Befund, sinke so die Anzahl der Familienbetriebe drastisch. Kern ihrer Studie sei es, dies auch empirisch zu beweisen.

In der letzten, von Clemens Zimmermann moderierten Sektion ging es um „Politik auf dem Land“. ANETTE SCHLIMM (München) stellte ihre Überlegungen zu „Besonderheiten ländlicher Politisierungsprozesse in der Hochmoderne“ vor. Dabei machte sie deutlich, dass trotz umfangreicher Forschungen mit gegenteiligen Aussagen in Teilen der aktuellen Zeitgeschichtsschreibung die ländliche Teilgesellschaft immer noch als „Hort der Tradition“ begriffen werde. Der These, der ländliche Raum sei in der Hochmoderne ein unpolitischer Raum gewesen, setzte sie die Beobachtung entgegen, dass das Bild von „Gemeinschaft“ nicht nur ein intellektuelles Konstrukt gewesen sei, sondern auch zur Selbstbeschreibung der ländlichen Gesellschaft diente und dadurch auch politisch wirkte, etwa indem Landgemeindeverwaltungen sich ihrer zugedachten Rolle als lediglich administrative Organe erwehrten und auch politische Relevanz beanspruchten. So war auch die Stadt-Land-Differenz nicht nur im Konflikt zwischen Agrar- und Industrielobby politisch aufgeladen, sondern wurden Versuche, kommunale Verwaltung zu reformieren, die lokal auf Widerstand stießen, im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch von landesweit agierenden Parteien instrumentalisiert. Dass auch ländliche Akteure bei der „Durchstaatlichung“ aktive Rollen einnahmen, lenkte den Blick auf die lokale Ebene, auf der durch die Verstaatlichung von Funktionen Kompetenzen abgegeben werden mussten, deren Vertreter durch die Aufgabendelegation aber auch aufgewertet wurden. In der Diskussion wurde insbesondere an diesen letzten Punkt angeknüpft und auf den Beginn dieses Prozesses im Spätmittelalter hingewiesen.

OLIVER GLADOW und STEFAN EWERT (Greifswald) stellten eine Untersuchung zur Frage, welche Faktoren die landwirtschaftspolitische Ausrichtung der Agrarausschussmitglieder in den deutschen Landtagen bestimmen, vor. Über die Befragung von Abgeordneten versuchten sie, die Genese agrarpolitischer Positionen entlang der kontrastierenden Orientierungen von Postmaterialismus-Materialismus, „Green“- „Growth“ und Multifunktionalismus-Produktivismus durch politische (die Mitgliedschaft in Partei, Fraktion und Verbänden), Wahlkreis- und persönliche Faktoren zu erklären, und kamen zum Ergebnis, dass die ökologisch orientierte agrarpolitische Ausrichtung erklärbar sei mit Parteien- und Verbandsmitgliedschaften, während die produktivistisch orientierte Ausrichtung über ihr Modell nicht zu deuten sei.

Und auch nach dieser GfA-Tagung, die diesmal unter keinem Oberthema stattfand, ist festzustellen wie breit und vielfältig das Untersuchungsgebiet der Agrargeschichte ist. In Dresden ist deutlich geworden, wie wichtig der interdisziplinäre Austausch mit Kollegen verwandter Fachbereiche (wie aus der Ethnologie, Politologie, Ökonomie)ist, denn nur so sind neue Themen wie Emotionen oder Technikgeschichte für die Agrarforschung gänzlich zugänglich. Diese thematische Vielfalt der Tagung lässt das große Potential der Agrargeschichtsschreibung erahnen.

Konferenzübersicht:

Sektion I:
Moderation: Stefan Brakensiek (Essen)

Denny Becker (Berlin): Arbeitsteilung in ländlichen Soldaten- und Invalidenhaushalten (Preußen 1740–1806)
Jaśmina Korczak-Siedlecka / Dietlind Hüchtker (Leipzig): Die Performativität von Liebe und Hass. Emotionen auf dem Land in Polen in epochenübergreifender Perspektive

Sektion II:
Moderation: Johannes Bracht (Halle-Wittenberg)

Oscar Dube (Halle‐Wittenberg): Bäuerliche Aufzeichnungen als statistische Quelle: Der Fall Sachsen
Johannes Benninger (Regensburg): Direktsaat im 19. Jahrhundert – die Entwicklungsgeschichte handbetätigter Säinjektoren
Barbara Wittmann (Regensburg): Vom Mistkratzer zum Käfighuhn. Perspektiven auf die deutsche Geflügelwirtschaft zwischen 1948 und 1980

Sektion III:
Moderation Ira Spieker (Dresden)

Karl Peter Becker (Paderborn): „Wenn das mit Zwang durchgeführt wird, dann gibt es hier noch Gewalttätigkeiten.“ – Die soziale und wirtschaftliche Situation der westdeutschen Landwirtschaft im Vorfeld des Lübke-Plans dargestellt am Beispiel des Modellprojekts Brilon 1950-62
Uta Bretschneider (Dresden): Nach der LPG. Die ostdeutsche Landwirtschaft und ihre Akteure im Transformationsprozess
Floor Groefsema (Groningen): European agriculture in transition: the development of family farming in comparative and regional perspective 1950-2010

Sektion IV:
Moderation Clemens Zimmermann (Saarbrücken)

Anette Schlimm (München): Politik und Politisierung im Dorf. Thesen zu Besonderheiten ländlicher Politisierungsprozesse in der Hochmoderne
Oliver Gladow und Stefan Ewert (Greifswald): Die politische Gestaltung ländlicher Räume durch die Bundesländer: Welche Faktoren bestimmen die landwirtschaftspolitische Ausrichtung der Mitglieder von Agrarausschüssen in den deutschen Landtagen?