HT 2016: Diskursräume der Aushandlung von Wissen und Meinungen im klassischen Athen

HT 2016: Diskursräume der Aushandlung von Wissen und Meinungen im klassischen Athen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael Zerjadtke, Arbeitsbereich Alte Geschichte, Historisches Seminar, Universität Hamburg

In der von WERNER RIESS (Hamburg) geleiteten Sektion „Diskursräume der Aushandlung von Wissen und Meinungen im klassischen Athen“ wurde der Gegensatz von Glauben und Wissen in den Blick genommen. Wissen als Gut an sich musste in einer Gesellschaft einerseits ausgehandelt, andererseits verbreitet werden. Im klassischen Athen sei seine Weitergabe durch die strenge Kompetenzenteilung erschwert gewesen, doch aufgrund der niedrigen sozialen Schranken sei zugleich der freie Austausch von Meinungen und Wissen in bisher unbekannter Weise gefördert worden. Die Vorträge der Sektion verbanden die Forschung zum Wissenstransfer mit dem „spatial turn“, indem der Fokus auf die unterschiedlichen Diskursräume der Polis gelegt wurde.

Eingangs betrachtete HANS BECK (Montréal) die Rolle des öffentlichen Raumes, explizit der Straße, als Ort der Aushandlung der beiden beiden Wissenskategorien Erfahrungswissen und Alltagsinformiertheit. Nach einer kurzen Betrachtung des Öffentlichkeitsbegriffes schloss Beck die Agora, die in der Forschung als öffentlicher Raum der Demokratie schlechthin gelte, aus seiner Betrachtung aus. Die Straße spiele insofern eine Sonderrolle, als dass der dortige Diskurs gerade nicht vorrangig von Bürgern geprägt war, sondern auch von Nichtbürgern, Frauen, Fremden und Sklaven und er damit einer anderen Dynamik unterlag. Die Quellen, vor allem die Reden von Lysias und Demosthenes, zeigten, dass das Teilhaben an der Öffentlichkeit, indem man Läden und Werkstätten um die Agora aufsuchte, ohne dort Geschäfte zu tätigen, als normales Verhalten galt. Das „Socializen“ in den Läden ging teilweise nahtlos in nächtliche Gelage über. Eine Fluchtafel, in der eine Reihe von „kapeloi“ erwähnt sind, skizziert ein Viertel verschiedener Gewerbetreibender und Kunden, in denen sich die Sozialstruktur der Polis wiederspiegelt. Das Beispiel illustriere die Gestaltung der attischen Viertel, in denen die Kommunikation von Integration geprägt war und wo der Bürgerstatus kaum eine Rolle spielte. Beck schlussfolgerte, dass es zur politischen und gesellschaftlichen Kultur gehört habe, viel Zeit in informellen, öffentlichen Räumen zu verbringen. Auf diese Weise habe das Wissensnetzwerk der Politen weit über den Kreis der Bürgerschaft hinaus gereicht. Dies wiederum habe den politischen Prozess beeinflusst, da auch Gruppen, denen die Mitbestimmung verwehrt war, eine Rolle in der Aushandlung von Wissen zukam.

Anschließend betrachtete CHRISTIAN MANN (Mannheim) die Rolle von Gerüchten als eine spezifische Form von Wissen im politischen Diskurs. Zu Beginn stellte er eine Passage aus dem Gesandtschaftsprozess vor, in der Aischines das Gerücht lobte, wobei man zwischen guter pheme und schlechter sykophantia unterscheiden müsse. Während Erstere beim breiten Volk angesiedelt sei, würde Letztere von Einzelnen erfunden, die damit eigene Interessen verfolgten. Die große Bedeutung, die Gerüchten in Athen zugebilligt wurde, stellte für die Demokratie ein Problem dar. Die für den politischen Betrieb unverzichtbaren Demagogen seien besonders gefährdet gewesen, zum Opfer von Gerüchten zu werden, welche wiederum für Verurteilungen, beispielsweise der Ostrakisierung, ausreichend waren. Mann stellt die Frage, wie sich Demagogen vor Gerüchten schützen konnten, wofür der Blick auf die Diskursräume außerhalb der demokratischen Institutionen gelenkt werden müsse. Das „Wissen“ um Politiker konstituiere sich im öffentlichen Raum. Da den Politikern keine Medien zur Verfügung standen, durch die sie ihr Image hätten kontrollieren können und sie nicht, wie im Rahmen der römischen salutationes, in einem geschützten Raum direkt mit den Bürgern kommunizieren konnten, sei den öffentlichen Auftritten eine hohe Bedeutung zugekommen. Da das klassische Athen keine face-to-face-society mehr gewesen sei, konnten Politiker nur durch ihre öffentlichen Auftritte ihr „Standing“ beeinflussen. Eine wichtige Kategorie hierbei sei die Ausbildung von Vertrauen gewesen, die durch die Betonung von Loyalität zur Polis zu erreichen versucht wurde. Mann ging auf verschiedene Strategien ein, durch die man das Vertrauen des Volkes habe gewinnen können. Hier führte er erstens die ständige Betonung des eigenen Patriotismus an, zweitens den Versuch der Verringerung der sozialen Distanz zu den Zuhörern und drittens das Bestreben, authentisch zu wirken. Habe ein Demagoge auf diese Weise das Vertrauen gewinnen können, war er in größerem Maße vor der schädlichen Wirkung von Gerüchten sicher.

CLAUDIA TIERSCH (Berlin) konzentrierte sich auf Beschreibungen der Demokratie bei den attischen Rednern. Es sei überraschend, dass der theoretische Unterbau der attischen Demokratie so dürftig gewesen sei, angesichts der hohen Problemlösungskapazitäten dieser Regierungsform, auch unter den erheblichen Schwierigkeiten des vierten Jahrhunderts v. Chr. Die bekannten Theorien stammten allesamt von Denkern, die der Demokratie distanziert bis ablehnend gegenüberstanden. Am Ende des fünften und zu Beginn des vierten Jahrhunderts sei die Demokratie noch in der Ausbildungsphase gewesen und die Verirrungen im Rahmen der Umstürze zeigten das Fehlen einer anerkannten Definition auf. In den Reden trete die Demokratie als Hort der Freiheit und der Gerechtigkeit auf. Sie sei bereits als institutionelle Ordnung wahrgenommen worden, und insbesondere ihre Rechtsordnung habe ein gewisses Institutionenvertrauen erzeugt. Andere Reden offenbarten die Distanz zur sozialen Ordnung in der Demokratie, die zwar Engagement einforderte, doch im Gegenzug wenig Loyalität gegenüber der Oberschicht geboten habe. Aus den Reden und Traktaten des Isokrates gehe zwar eine Akzeptanz der Demokratie hervor, jedoch auch die Favorisierung einer elitären Ausprägung, welche Athen wieder zur politischen Führungsrolle verhelfen sollte. Isokrates habe die Rolle von Einzelpolitikern stärken wollen, um die zeitgenössische Demokratie wieder in eine Herrschaft der Besten zu verwandeln. In der Machtverschiebung zum Demos habe er den Grund für den Niedergang der außenpolitischen Bedeutung gesehen. Trotz aller Kritik sei ein Bekenntnis zur Demokratie erwartet worden und ein Ignorieren dieser Anforderung hätte in politischem Bedeutungsverlust resultiert. Das Verschwinden des Demokratiebegriffes aus dem rhetorischen Diskurs in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts zeige, dass die Regierungsform sich in einem solch hohen Maße etabliert hatte, dass eine Diskussion der demokratia selbst mangels Alternativen nicht zu führen war. Statt der Beschäftigung mit der Regierungsform selbst wurde sie nun in den Reden als Argument oder Begründung herangezogen um einen Feind als Demokratiegegner zu brandmarken. In den Reden des Kranzprozesses werde die Ansicht des Demosthenes deutlich, dass eine Elite und die Demokratie durchaus kompatibel seien, solange Erstere absolut loyal gegenüber Letzterer sei. Durch den dargestellten Wandel der Semantik des Demokratiebegriffes könne der Wandel nachempfunden werden, durch den die einstmals verfemte Vokabel demokratia zu ihrer positiven Konnotation gefunden habe.

Der politische Verrat war Thema des Beitrages von DOROTHEA ROHDE (Bielefeld). Dieser sei durch eine „dreipolige Figuration“ charakterisiert: eine verratende, eine verratene und eine profitierende dritte Partei. Die Anschuldigung des Verrates sei bis zu einem gewissen Grad willkürlich gewesen, da das Verhalten, welches als Bruch des Loyalitätsverhältnisses gewertet wurde, nicht genau bewertet werden könne. Rohde betrachtete, auf welchen Grundlagen die politische Gemeinschaft eine Handlung als Verrat bewertete und nannte als Grundtypen den politischen Umsturz, die Schwächung der äußeren Sicherheit und die Verletzung der Pflichten eines Gesandten (parapresbeia). Letzteren Typ untersuchte sie anhand des Prozesses gegen Aischenes wegen Gesandtschaftsverrates. Aischines hatte in einer schwierigen Lage zur Anerkennung eines nachteiligen Friedens geraten und wurde drei Jahre später von Demosthenes hierfür angeklagt unter der Anschuldigung, er habe sich bestechen lassen. Dieses Vergehen war schwer nachzuweisen, da Gesandtschaften zumeist mit der Annahme von Gastgeschenken einhergingen. Daher sei die innere Einstellung der Person entscheidend gewesen. Weiterhin wurde nach der Rückkehr eine ausführliche Stellungnahme erwartet, die in politische Entscheidungen einfloss. Sollten sich Ratschläge von Gesandten als kontraproduktiv erweisen, konnte hierin auch Verrat gesehen werden. Demosthenes musste somit nachweisen, dass es Aischines an patriotischer Gesinnung mangelte. Der Verlauf des Prozesses sei nach heutigen oder römischen Maßstäben höchst problematisch gewesen, da er im Wesentlichen auf Vermutungen basierte. Am Ende verdankte Aischines seinen Freispruch Eubulos, der ihm eine einwandfreie Gesinnung bescheinigte. Die Richter hatten nicht anhand von Beweisen geurteilt, sondern aufgrund der Tatsache „was für einer man war“. Somit entschied nicht das Wissen um Beweise, sondern vielmehr der Glaube, dass der Beklagte ein loyaler Bürger sei. Rohde sieht diese Praxis nicht als Irrweg an, sondern deutete Verratsanklagen, die durch den Primat des Meinens vor dem Wissen gekennzeichnet waren, als Fundament für die unbedingte politische Gleichheit der Bürger.

KATHARINA NEBELIN (Rostock) referierte über Selbstoptimierung durch Wissen im klassischen Athen. Sie begann mit einer Episode aus dem Dialog Alkibiades maior, in welchem Sokrates den jungen Alkibiades überzeugt, „so vortrefflich wie möglich“ zu werden, was jedoch nur durch Wissen zu erreichen sei, vor allem über sich selbst. Da die Absichten und Ziele der beiden Gesprächspartner so verschieden gewesen seien, konstatiert Nebelin auch zwei unterschiedliche Ausprägungen der Selbstoptimierung – eine „politische“ und eine „philosophische“ – und stellte die Frage nach der Kompatibilität beider, wobei sie auf vier Aspekte einging. Erstens betrachtete sie die philosophisch-idealistische Selbstoptimierung als Selbstzweck, die bereits von Heraklit umrissen worden sei. Der Versuch, sich selbst wie auch die Welt zu verstehen, würde die Vortrefflichen auszeichnen. Weiterhin sei die Ablehnung der etablierten Eliten und ihrer Wertvorstellungen charakteristisch. Als zweiten Punkt nannte Nebelin die politische Selbstoptimierung, die darauf abzielte, sich selbst so zu verbessern, dass man der Polis am effektivsten nützlich sein konnte. Drittens folgte die philosophisch-pragmatische Selbstoptimierung, die vor allem im sophistischen Denken eine Rolle spielte, was auch an der sozialen Situation der Sophisten gelegen habe, die einerseits die Bedeutung von Wissen betonten, doch andererseits auch auf Entlohnung angewiesen waren. Die Lehrer hätten ihren Unterricht nicht als Ersatz aristokratischer Erziehung gepriesen, sondern als deren Ergänzung. Der vierte Punkt betraf die Bedeutung der philosophischen Vortrefflichkeitsvorstellungen für die politische Kultur Athens. Sophisten gehörten zum Alltagsbild und unterrichteten im vierten Jahrhundert auch in institutionalisierten Schulen. Nebelin sah deren pluralistische Mitgliederschaften als „free spaces“ innerhalb der Polis an, in denen nicht auf demokratische Praktiken Rücksicht genommen werden musste. Bürger seien für die Teilnahme nicht kritisiert worden, solange sie nur einen Teil der Zeit dort verbrachten, denn die „Liebe zum Geist“ sei in Maßen wichtiger Bestandteil der Selbstoptimierung gewesen.

In seinem abschließenden Kommentar ging MARTIN DREHER (Magdeburg) auf die Nuancierung zwischen „Glauben“ und „Meinen“ ein und stellte fest, dass letzteres einen größeren Bezugsraum habe. Alle Beitragenden hätten sich auf den politischen Bereich konzentriert, obwohl doch nicht sicher sei, dass dieses Themengebiet in den genannten Diskursräumen überhaupt besprochen wurde. Allein Plutarch habe hierfür Belege geliefert, die jedoch angesichts der zeitlichen Distanz kritisch zu hinterfragen seien. Doch Analogie und die Erfahrung mit der immer gleichen menschlichen Natur machten den politischen Diskurs wahrscheinlich. Anschließend ergänzte Dreher mit der Nennung von Festen und dem Militärdienst noch zwei weitere, formellere Diskursräume, in denen alle Gruppen der Polisbevölkerung bzw. alle sozialen Schichten zusammengekommen seien. Dreher ging nochmals auf die Hauptpunkte der vorangegangenen Beiträge ein und stellte fest, dass ihr Hauptgegenstand der Versuch gewesen sei, zu ergründen, wie und wo der „Mann auf der Straße“ seine Meinungen mit Wissen fundierte.

Die sich anschließende Diskussion wurde durch Felix Maier (Freiburg) eröffnet, der Christian Mann nach der Fundierung der Angst vor Gerüchten fragte. Mann wies darauf hin, dass Politiker in Athen nicht über einen größeren Apparat verfügten, die derlei Klatsch hätten unter die Leute bringen können. Alexandra Eckert (Oldenburg) fragte nach Unterschieden zu den Diskursräumen in der römischen Republik. Hans Beck betonte in seiner Antwort die Gemeinsamkeiten mit Athen, nannte jedoch auch den aus dem Römischen bekannten politischen Apparat als Unterschied. Christian Mann ergänzte, die Bedeutung der Volksversammlug sei in Athen ungleich höher gewesen als in Rom. Nebelin wies darauf hin, dass in Rom Amtsträger, sowie Ritter und Senatoren durch ihre Tracht im Stadtbild für jeden zu identifizieren waren. Dreher sah in der Gerichtsrede wiederum eine Gemeinsamkeit, und Rieß wies auf das Klientelwesen als eine in Athen unbekannte Form der Nahbeziehung hin. Die Frage nach der face-to-face-society auf Demen-Ebene beantwortete Christian Mann mit einem Verweis auf das Fehlen von Quellen. Angela Pabst (Halle) wies auf die Unterscheidungsschwierigkeiten von „wissen“ und „meinen“ in den Quellentexten hin, und Uwe Walter (Bielefeld) fügte hinzu, dass der Wissensbegriff präziser gefasst werden müsse und Wissen aus der Summe der Kenntnisse der Bürger nach Art einer „Schwarmintelligenz“ entstehen könne. Sebastian Schmidt-Hofner (Tübingen) ergänzte mit dem Theater einen weiteren Diskursraum, der jedoch, wie Hans Beck entgegnete, anders als die „Straße“ eine Formalisierung aufwies. Martin Dreher merkte zudem an, dass die Athener zur Entschlüsselung der Bedeutungsebenen des Theaters über ein gewisses Wissen verfügt haben müssen. Die letzte Frage nach der Bedeutung von Glauben im Sinne des Vertrauens auf die Götter und speziell von Orakelsprüchen beantwortete Claudia Tiersch. Religion sei von großer Wichtigkeit gewesen, während die Relevanz von Orakeln im politischen Bereich stetig abnahm und zum wenig handlungsrelevanten Zusatzwissen wurde, was Christian Mann abschließend bestätitigte.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Werner Rieß (Hamburg)

Werner Rieß (Hamburg): Einführung

Hans Beck (Montréal): Im Schatten der Pnyx. Die athenische Demokratie und das Wissen der Straße

Christian Mann (Mannheim): Der Ruf der Demagogen: Gerüchte als akkumuliertes Wissen und als politische Waffe

Claudia Tiersch (Berlin): Selbstbeschreibungen der Demokratie in attischen Reden

Dorothea Rohde (Bielefeld): Der politische Verrat als Gesinnungsdelikt. Der Vorzug des Glaubens vor dem Wissen

Katarina Nebelin (Rostock): Selbstoptimierung durch Wissen im klassischen Athen

Martin Dreher (Magdeburg): Synopsis


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