HT 2016: Indien und wir

HT 2016: Indien und wir

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Christopher Goebel, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen / Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven, Leibniz-Institut für deutsche Schifffahrtsgeschichte

Bereits im Programm zum Historikertag 2016 hatten die Veranstalterinnen und Veranstalter mit Blick auf das Partnerland Indien zu transnationalen und globalgeschichtlichen Perspektiven eingeladen. Die unter dem Titel „Indien und wir“ abgehaltene Sektion vereinte drei Referent/innen, die diesem Aufruf mit ganz unterschiedlichen Vorträgen nachkamen. Die Sektion als Ganze verstand sich epochenübergreifend, inhaltlich bildeten Kontakt, Beziehungen und Verflechtungen zwischen Europa und dem südasiatischen Subkontinent den weiteren Analyserahmen. Je nach Vortrag standen Themen der Politik-, Wirtschafts-, Kultur- und Religionsgeschichte auf dem Programm. Ein Ziel der Sektion war es auch, die zahlreichen Anknüpfungspunkte für die Lehre aufzuzeigen sowie für ein globaleres Geschichtsverständnis im Schulunterricht zu werben.

Den Auftakt machte WOLFGANG GEIGER (Frankfurt am Main) mit seinem Vortrag „Indien und Europa – eine interkulturelle Beziehung seit mehr als 2000 Jahren. Themen und curriculare Anknüpfungspunkte.“ Der Vortrag gab einen weitgefächerten Überblick über europäisch-indische Beziehungen aus vornehmlich europäischer Perspektive, untermauert durch zahlreiche Quellenbeispiele, von denen hier nur eine Auswahl in der präsentierten Reihenfolge diskutiert werden kann. So glaubte beispielsweise Hartmann Schedel in seiner Weltchronik von 1493 Indien durch den Apostel Thomas zum christlichen Glauben bekehrt. Die Ebstorfer Weltkarte von circa 1300 zeigte Indien am Fluss Ganges, der als einer von vier Strömen dem Paradies entspringen sollte, als einen mystischen Ort. Gleichsam ließen sich kulturelle Kontakte bereits in der Antike nachweisen: In Marcus Gavius Apicius Kochbuch „De Re Coquinaria“ aus der Zeit des Kaisers Tiberius fänden bereits Gewürze aus Indien Erwähnung, eine Tradition, die dann auch Kochbüchern des Mittelalters erhalten blieb. Der frühe Kulturkontakt trieb jedoch auch Mythenbildung voran. In Herodots „Historien“ würden etwa Goldameisen beschrieben. Diese Fabelwesen von enormer Größe sollten Tunnel graben und Gold fördern. Auf dieser Grundlage übernahm Plinius der Ältere die Goldameisen in seiner „historia naturalis“. Der Vortragende vermutete hier eine mögliche Fehlinterpretation von Kaurischnecken, die in Teilen Südasiens als Währung dienten.

Gar aus eigenen Erfahrungen berichten konnte Megasthenes. Der griechische Diplomat gastierte als Gesandter am Hofe des Chandragupta Maurya, dem ersten Herrschers des Maurya-Reiches. Er schöpfte neben eigenen Beobachtungen von Informationen aus den vor Ort geführten Gesprächen und beschrieb diese in seiner „Indiká“. Des Weiteren wurden Handelsbeziehungen und Warenströme anhand von Quellen wie der „Periplus Maris Erythraei“ diskutiert, die von einem anonymen Autor – offenbar einem Handelsreisenden – im ersten Jahrhundert n. Chr. verfasst wurde und Einblicke in die maritimen Netzwerke zwischen Südasien bis zum Mittelmeer lieferte. Die Bewegung von Gütern und Geld zwischen Europa und Indien, so der Referent, könne anhand von archäologischen Funden römischer Münzen auf dem südasiatischen Subkontinent gut belegt werden. Als wichtige Ausgrabungsstätte gelte Muziri im heutigen Pattanam in Kerala an der Malabarküste. Der Ort war nicht nur auf der „Tabula Peutingeriana“ verzeichnet, die im Original aus dem späten 12. Jahrhundert stammte und als Faksimile in den Besitz von Konrad Peutinger (1465–1547) gelangte, er fand auch in tamilischen Texten Erwähnung. In Muziri fand man einen Papyrus in griechischer Sprache, der als Handelskontrakt den Warentransport dokumentierte und eine wichtige Quelle des frühen Zahlungsverkehrs darstelle. Bis in das Mittelalter hatten sich vor dem Hintergrund des regen Handels Umschlagsplätze wie die Insel Kish im Persischen Golf etabliert, wovon Berichte des jüdischen Reisenden Benjamin von Tudela aus dem 12. Jahrhundert zeugten. Weitere Beispiele folgten unter anderem aus der „Tabula Rogeriana“, die der arabische Geograph Al-Idrisi 1154 am Hofe des Königs Roger II. von Sizilien mit zahlreichen Illustrationen und Bemerkungen versah, sowie aus dem „Katalanischen Weltatlas“ von 1375. Abraham und Jehuda Cresques produzierten den Atlas auf Mallorca und sammelten hierfür Informationen von Seefahrern. Vor Ort war der Dominikaner Jordanus Catalanus de Séverac (1280–ca. 1330), dessen Indienbeschreibung unter dem Titel „Mirabilia Descripta“ mehrfach publiziert wurde. Auch er bemerkte den regen Gewürzhandel im indischen Ozean.

Was Geigers Panoramablick auf die europäisch-indischen Beziehungen eindrucksvoll deutlich machte, war der Facettenreichtum kultureller Kontakte. Schon lange vor Vasco de Gama war der indische Subkontinent ein Teil europäischer Vorstellungswelten, materiell manifestiert in Kartenwerken, in Literatur und Kunst verschiedenster Epochen. Interkultureller Austausch wurde von Handel, aber auch von Mission getragen und hält sich bis heute. Exemplarisch stehen hierfür die Goethe-Institute Indiens, welche den Namen Max Mueller-Bhavan tragen, benannt nach jenem deutschen Indologen, dessen Ruf 1868 an die Universität Oxford als Professor für vergleichende Religionswissenschaft aufgrund seiner Indienaffinität zu ausgedehnten Debatten führte.

Die britische Kolonialherrschaft und die indische Unabhängigkeitsbewegung in Südasien diskutierte GITA DHARAMPAL-FRICK (Heidelberg) mit besonderem Augenmerkt auf das „Endspiel des British Raj“ in Indien. Der Unabhängigkeit Indiens am 15. August 1947 und der damit einhergehenden Gründung eines unabhängigen Pakistans folgte eine massive Migrationsbewegung, welche zu Recht bis heute zu den größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts zählt und im Kashmir-Konflikt ihren Nachhall findet. Die historische Aufarbeitung der Vorgänge hat zu heftigen Kontroversen unter Fachleuten gleichermaßen wie in der Öffentlichkeit geführt. Umso erfreulicher war es, dass die Vortragende die damit verbundenen umstrittenen Fragen an den Beginn ihrer Überlegungen stellte. So herrsche in der komplexen Gemengelage mitunter Uneinigkeit über die Rolle der britischen Administration auf der einen Seite, welche sich zeitgenössisch gerne als Richtungsweiser der nahenden Unabhängigkeit und dann der jungen Nation verstand und die Machtübergabe als Akt der eigenen Staatskunst inszenierte, und einer nicht homogenen indische Unabhängigkeitsbewegung auf der anderen Seite, die ihrerseits der britischen Herrschaft keine andere Wahl als den Abzug zu lassen glaubte.

Der Vortrag skizzierte die lange Prozesshaftigkeit der britischen Kolonialherrschaft in Indien, welche über Jahrhunderte hinweg Widerstand und Kollaboration gleichermaßen hervorbrachte. Während der Wandel von Handelskompanie mit vereinzelten Stützpunkten über schrittweisen Gebietsgewinn bis hin zum Government of India Act (1858) und dem Beginn des British Raj in den Nachwehen des Aufstandes von 1857 die Grundlage der fast vollständigen Durchdringung des Subkontinentes lieferten, sei es seit dem späten 19. Jahrhundert zur zunehmenden politischen Willensbildung unter der westlich ausgebildeten Elite in den Hauptstädten der britisch-indischen Präsidentschaften gekommen. Der 1885 gegründete Indian National Congress war zunächst eine Interessenvertretung vor der Kolonialmacht. Allerdings kam es nach der Teilung Bengalens 1905 zu weitreichenden Protesten, zu Radikalisierungen und zu terroristischen Aktionen. Fast gleichzeitig wurde mit britischem Wohlwollen die All India Muslim League (1906) gegründet, ab 1909 wurden separate Wahlkreise für Muslime und Hindus eingeführt. Der Vortrag zeigte, dass sich die britische Herrschaft bis zur Unabhängigkeit immer wieder darauf verstand, die indischen Interessengruppen zum eigenen Vorteil geschickt gegeneinander auszuspielen. Unumstritten war die britische Herrschaft allerdings keineswegs. In Gandhis Kampagnen des zivilen Ungehorsams und der Nichtzusammenarbeit zeigten sich die Massentauglichkeit indischer Selbstbestimmungsbestrebungen und fanden ein mediales Echo über den Subkontinent hinaus. Aber auch die Entfremdung zwischen Muslim-Liga und Nationalkongress kennzeichnete die Lage vor dem Zweiten Weltkrieg.

Vor diesem Hintergrund müsse das „Endspiel“ der britischen Kolonialherrschaft verstanden werden, dessen strategischer Wert für Großbritannien nunmehr größer denn je war. Dass der britische Vizekönig den Kriegseintritt Indiens auf britischer Seite in den Zweiten Weltkrieg ohne die Zustimmung indischer Politiker proklamierte, führte aufgrund unzureichender Zugeständnisse zum Rückzug der Mitglieder der Kongresspartei aus ihren Ämtern. Die Muslim-Liga hingegen nutzte die Situation zur Stärkung der eigenen Position und sprach ihre Unterstützung aus. Die Verweigerung von Regierungsbeteiligung führte schließlich mit Gandhis Quit-India-Bewegung von 1942 zur Forderung des vollständigen Abzugs der britischen Kolonialherrschaft. Massenhafte Verhaftungen insbesondere von Kongressmitgliedern sowie zahlreiche Todesopfer unter den Aufständischen waren die Folge.

Mit dem Sieg der Labour Party unter Clement Attlee hatten sich kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges die politischen Verhältnisse in England und damit die Position zur Indienfrage geändert. Gleichzeitig kulminierten die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus in bürgerkriegsähnlichen Zuständen. War Attlees Cabinet Mission zur Ausarbeitung einer Verfassung für ein unabhängiges Indien zugunsten eines starken Commonwealth noch im Vorjahr gescheitert – und selbst diese Idee erschien unter Churchill noch völlig unmöglich – verkündete Attlee am 20. Februar 1947 öffentlich die geplante Machtübertragung für den 30. Juni 1948.

So zeichnete Gita Dharampal-Frick ein ausdifferenziertes Bild der Unabhängigkeit. Die Zweistaatenlösung, welche die Muslim-Liga unter Muhammad Ali Jinnah bereits in der Lahore-Resolution von 1940 in Grundzügen forderte, wurde mit dem so genannten Mountbattenplan Wirklichkeit. Dass die Grenzverläufe de facto erst zur Unabhängigkeit bekanntgeben wurden, mag ebenso wie der drastisch vorgezogene Termin auf den 15. August 1947 den Ausschlag für die massiven Migrations- und Fluchtbewegungen in den Tagen nach der Teilung gegeben haben. Umjubelte Unabhängigkeit und Katastrophe gingen Hand in Hand und beeinflussen Gesellschaftsstrukturen bis heute.

Globalgeschichte und Religion in Bezug auf deutsch-indische Verflechtung machte RAFAEL KLÖBER (Heidelberg) zum Thema seines abschließenden Vortrags der Sektion. Ausgehend von postkolonialen Theorien und Konzepten der Verflechtungsgeschichte untersuchte der Referent beispielhaft das Leben und Wirken von Akteuren zwischen Indien und Deutschland unter besonderer Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Einflussnahme. Das erste Fallbeispiel widmete sich dem Religions- und Sozialreformer Swami Vivekananda (1863-1902) aus Kalkutta. Vivekananda erlangte durch seine vielzitierte Rede über Toleranz und Akzeptanz aller Glaubensrichtungen auf dem Weltparlament der Religionen von 1893 in Chicago internationale Berühmtheit und zeichnete sich Verantwortlich für die Gründung der ersten Hindu-Organisation außerhalb von Indien. Er war der erste Hindu, der vor dem Weltparlament der Religionen sprach. Seine Hinduismus-Konzeption berief sich auf den Advaita Vedanta des Shankara aus dem 8. Jahrhundert. In seiner Lehre verstand er diesen allerdings als universelle Religion, welche den asketischen Erlösungsweg der Brahmanen der Allgemeinheit öffnete.

Der Referent stellte die Beziehung zwischen Vivekananda und dem deutschen Philosophen und Indologen Paul Deussen (1845-1919) heraus. Deussen, ein persönlicher Freund von Friedrich Nietzsche, beschäftigte sich mit der Advaita Vedanta und vertrat die Auffassung, dass es sich um die vorherrschende Form des Hinduismus in Südasien handeln würde. In den Jahren 1892 und 1893 reiste er selbst nach Indien und hielt dort Vorträge in Bombay. Hier trafen sich beide Akteure, deren Arbeit von gegenseitiger Rezeption geprägt war. Deussen sah im Advaita Vedanta das Ideal eines platonischen Monismus verwirklicht. Es werde deutlich, wie stark die westliche Vorstellung von Indien durch Vivekanandas Interpretation des Hinduismus geprägt wurde. Auf der anderen Seite zeige sich, dass diese ihrerseits nicht ohne westliche Einflüsse denkbar sei. Als Befund äußere sich hier exemplarisch die Multidirektionalität in der Entstehung von religiöser Lehre, die nicht Ausgangspunkt, sondern das Resultat einer zunehmend globalisierten und verflochtenen Welt sei.

Der tamilische Jurist und Religionsreformer J.M. Nallaswami Pillai (1864-1920) und der lutherische Missionar Hilko Wiardo Schomerus (1879-1945) bildeten das zweite Fallbeispiel. Pillai war Vertreter des Shaiva Siddhanta, einer vor allem in Tamil Nadu und Sri Lanka weit verbreiteten Tradition des Hinduismus. Für Pillai war der Shaiva Siddhanta eine überlegende Universalreligion, wofür er sich als Gründer von Zeitschriften und Organisationen öffentlich aussprach. Auch Schomerus, der selbst von Paul Deussen gefördert wurde, interessierte sich für den Shaiva Siddhanta. Zwischen 1902 und 1912 war er für die Leipziger Mission in Südindien tätig, bevor er Indologie und Religionswissenschaften studierte und schließlich Professor für Missionswissenschaften und Religionsgeschichte an der Universität zu Halle wurde. Sowohl Pillai als auch Schomerus nahmen an sivaitischen Konferenzen teil, wobei letzterer den Universalitätsanspruch des Shaiva Siddhanta zumindest als strittig ansah. Seiner Ansicht nach waren die Lehren des Advaita Vedanta nicht nur in Europa bekannter, sondern wurden auch von westlich gebildeten Indern und Inderinnen deutlich öfter kommentiert und beschrieben. Dennoch sei der Shaiva Siddhanta deshalb nicht als von geringerer Bedeutung anzusehen. Beide rezipierten einander und auch Schomerus‘ Ansichten wurden von indischen Zeitgenossen durchaus positiv zur Kenntnis genommen. Dass Schomerus‘ Werk „Der Çaiva-Siddhānta“ noch im Jahre 2000 in das Englische übersetzt wurde und bis heute in Tamil Nadu diskutiert werde, attestiere diesem Fallbeispiel einen globalen Charakter.

In der knappen verbliebenen Zeit folgte eine kurze, gleichwohl anregende Diskussionsrunde über das inhaltlich sehr breit angelegte Panel. Somit bot die Sektion „Indien und wir“ einen vielseitigen Einblick in europäisch-indische Verflechtungszusammenhänge anhand von konkreten Fallbeispielen, deren gemeinsamer Nenner ein starker Quellen- und Akteursbezug war.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Wolfgang Geiger (Frankfurt am Main)

Wolfgang Geiger (Frankfurt am Main): Indien und Europa – ein interkulturelle Beziehung seit mehr als 2000 Jahren. Themen und curriculare Anknüpfungspunkte

Gita Dharampal-Frick (Heidelberg): Der britische Kolonialismus in Indien und das >Endspiel< des British Raj

Rafael Klöber (Heidelberg): Hippies, Yoga, Terrorismus. Religion in Indien aus historischer und globaler Perspektive