HT 2016: Dynamiken religiösen Wissens: Resilienzstrategien und Innovationspotenziale im Angesicht der Moderne

HT 2016: Dynamiken religiösen Wissens: Resilienzstrategien und Innovationspotenziale im Angesicht der Moderne

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Lisa Gerlach, Georg Eckert Institut – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung

Dass Religion keineswegs ausschließlich Glaubensfragen befördert, sondern gleichfalls Wissensfragen aufwirft, zeigte auf dem Historikertag 2015 die Sektion „Dynamiken religiösen Wissens“. Sie hinterfragte die angebliche Dichotomie zwischen Glauben und Wissen schon im Titel und betonte statt der Konkurrenz der beiden Kategorien deren Verbundenheit. Für unterschiedliche geographisch-kulturelle Räume und zeitliche Schwerpunkte wurden religiöse Gemeinschaften, Bildungsinstitutionen, Akteurinnen und Akteure betrachtet und daraufhin untersucht, wie – sich wandelndes – religiöses Wissen Transformationen in der Moderne bedingte, aufgriff und beförderte.

In ihrer Einführung verdeutlichte SIMONE LÄSSIG (Washington DC), dass „Wissen“ zwar gemeinhin mit Vorstellungen von Rationalität, Evidenz und Objektivität verbunden wird, sich in historischer Perspektive aber nicht darauf reduzieren lässt. Vielmehr seien genau diejenigen Wissensformen für die kulturhistorische Forschung interessant, die als Wert- und Praxisorientierung in der Lebenswelt wirksam waren und sind. Dies gelte auch für religiöses Wissen. Jenes nämlich erschöpfe sich nicht in theologischer Expertise und der seit dem 19. Jahrhundert vielfach zu beobachtenden Verwissenschaftlichung von Religion, sondern schließe auch Wissen ein, das mit lebensweltlicher Referenz in religiösen Räumen, religiösen Medien und von religiösen Akteuren produziert und kulturell so übersetzt worden sei, dass es kulturelle Praktiken und Mentalitäten größerer Gruppen zu beeinflussen oder gar zu prägen vermochte. Konstruierte Dichotomien von Religion auf der einen und Rationalität/Wissen auf der anderen Seite widersprach Lässig damit ebenso wie einer strikten Abgrenzung zwischen den Begriffen Wissen, Glauben und Fühlen. Diese Formen der Weltaneignung seien keineswegs getrennt zu betrachten. Vielmehr vertrat Lässig sehr überzeugend den Anspruch, Wissensformen in der Vielfalt ihrer Wahrnehmungen zu untersuchen und damit zeitgenössische Diskurse darüber, was unter Wissen, Glauben und Nicht-Wissen zu einer bestimmten Zeit verstanden wurde und wie diese jeweiligen Verständnisse wiederum im konkreten gesellschaftlichen Kontext zum Tragen kamen. Die seit Mitte des 18. Jahrhunderts heraufziehende Moderne hatte in vielen Teilen der Welt starke, sogar mitunter eruptive Konsequenzen für religiös definierte Gruppen und damit auch auf das für sie verfügbare Wissen und auf die Formen seiner Vermittlung und Zirkulation.

Mit Blick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert bezeichnete es Simone Lässig als lohnend, religiöses Wissen und seinen Wandel als Ressource von Resilienz und sozialer Innovation zu verstehen bzw. zu analysieren. Der Begriff „Resilienz“ werde vielfach auf bloßes Beharren, auf Abwehr von Neuem und Widerständigkeit sozialer Kollektive reduziert. In Anlehnung an die Psychologie bezeichne das Konzept jedoch eher – eine soziales Überleben sichernde – Anpassungs- und Handlungsfähigkeit sozialer Gruppen in Zeiten tief greifender, gesellschaftlicher Veränderungen, die die Grundlagen ihrer Existenz in Frage stellen. Und in diesem Sinne markierte „Resilienz“ eine zentrale Frageebene für alle Beiträge dieser Sektion.

Im ersten Vortrag machte KERSTIN VON DER KRONE (Washington DC) mit ihrer Studie zu alten und neuen Wissensordnungen in der deutsch-jüdischen Geschichte deutlich, dass Religion einen spezifischen Wissenskontext beschreibe, in dem immer wieder neu verhandelt würde, was als Wissen gelten kann, was sichtbar wird und was verborgen bleibt. Anhand einer Auswahl jüdischer Religionslehrbücher, die seit dem frühen 19. Jahrhundert neben Schulbibeln, Spruch- und Gesangbüchern zum Hauptlehrmittel des jüdischen Religionsunterrichts wurden, zeigte von der Krone auf, dass die Beschreibung der maßgeblichen Fundamente des Judentums und jüdischer Religion in recht unterschiedlicher Weise auf jüdische Traditionsbestände, auf autoritative Texte wie die Bibel aber auch die rabbinische Literatur Bezug nahmen. Formal bemerkenswert erscheint, dass die untersuchten Schulbücher häufig im Frage-Antwort-Schema strukturiert waren, womit sie christlichen Katechismen ähnelten. Von der Krone konnte zeigen, dass jüdische Religionslehrbücher nicht nur in inhaltlicher Hinsicht ein ganz eigenständiges Genre bildeten, sondern auch formale Eigenheiten aufweisen. So spielten Zitat und Kommentar als erläuternde Elemente in der Darstellung eine wichtige Rolle, womit sich die Lehrbücher an traditionelle Praktiken der Textauslegung und dem Judentum inhärente Methoden der Wissensproduktion anlehnten. In Hinblick auf die konkrete Darstellung ist hervorzuheben, dass häufig eine Unterscheidung in Glaubenslehre und Pflichtenlehre erfolgte. Letztere umfassten Pflichten gegen Gott, sich selbst und Pflichten gegen Andere. Von der Krone betont, dass diese „Anderen“ Juden wie Nicht-Juden gleichermaßen einschlossen. Pflichten gegen Andere wurden auf das Gebot der Nächstenliebe zurückgeführt, das hier in Anlehnung an aufklärerische Debatten universalisiert wurde. Diese Pflichten umfassten unter anderem konkretes, soziales Handlungswissen gegenüber Gesellschaft und Staat und antworteten damit auf die weitreichenden, im Emanzipationsprozess wie in innerjüdischen Transformationsprozessen begründeten, Wandel jüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert.

Im zweiten Vortrag ging ANTHONY STEINHOFF (Montreal) auf die Bedeutung von Religion und religiöser Wissensproduktion in Elsass-Lothringen ab 1871 ein, also nach der Annexion durch das Deutsche Reich. Er beschrieb dabei zum einen die Verbreitung und Produktion von religiösem Wissen im sich verändernden öffentlichen Schulwesen und zum anderen die Neustrukturierung des Fachbereichs „Protestantische Theologie“ an der Universität von Straßburg. Steinhoff zeigte, dass der deutsche Staat in Elsass-Lothringen zwar Modernisierung und Germanisierung propagierte und doch die Bedeutung von Religion und religiösem Wissen in seiner Bildungspolitik anerkannte. Dies begründete sich zum einen im Bestreben der neuen Machthaber, die Elsässer für das Deutsche Reich zu gewinnen, indem man ihren Bedürfnissen entgegenkommen wollte. Zum anderen war die Verwissenschaftlichung der Theologie in Deutschland bereits stärker vorangeschritten, weswegen man sich an bereits etablierten Standards orientierte. Der religiösen Erziehung von Kindern und Jugendlichen wurde darüber hinaus eine hohe Bedeutung als moralisches und soziales Orientierungswissen zugemessen. Steinhoff verfolgte in seinem Vortrag die Reaktionen der jeweiligen Religionsgemeinschaften auf die weitere Entwicklung und präsentierte die Reform der religiösen Bildung als einen dynamischen Aushandlungsprozess zwischen neuen Machthabern und etablierten Eliten. Religiöse Bildung war also kein statisches Relikt, das in der Moderne fortbestand, sondern vielmehr ein Produkt von Kompromissen, von Wandel und Innovation. Die verschiedenen Positionen gründeten dabei auf den unterschiedlichen Bedürfnissen der Religionsgemeinschaften, waren an die jeweiligen Akteure gebunden und sind zugleich im Rahmen allgemeiner europäischer Prozesse der Zeit zu verstehen. Steinhoff betont, dass der Verbleib von Religion als selbstverständlicher Bestandteil des schulischen wie universitären Bildungskanons kein Zeichen „unvollkommener Modernisierung“ war. Vielmehr wurde religiöses Wissen in ein breit gefasstes, soziales Wissen integriert, dass Schülerinnen und Schüler erlernten. Er konnte auch zeigen, dass die Schulreformen und vor allem die Etablierung der Schulpflicht im Elsass dazu beitrugen, dass religiöses Wissen eine umfassendere Verbreitung fand als vor 1871.

Im dritten Vortrag untersuchte JANA TSCHURENEV (Göttingen) das Verhältnis von religiöser Identitätsbildung, Konversion und sozial- und bildungspolitischen Auseinandersetzungen von Frauen im kolonialen Indien. Tschurenev schilderte zunächst die komplexen Wandlungsprozesse, denen die brahmanischen Bildungseliten im 19. Jahrhundert unterworfen waren. Durch die Einflussnahme auf den kolonialen Verwaltungsapparat gewannen die höheren Kasten an Einfluss und Status. Die religiös begründeten Strukturen und Normen wurden zur „nationalen Tradition“ erhoben. Gleichzeitig formierte sich aber eine stärker werdende Gegenbewegung zu den Sozialkonservativen, die der Vortrag mit einem Fokus auf weibliche Akteure differenziert betrachtete. Hierbei konzentrierte sich Tschurenev vor allem auf zwei Fallbeispiele: erstens die in der Forschung bisher kaum präsente Schulleiterin, Dichterin und Anti-Kasten-Aktivistin Savitribai Phule (1831–1897) und zweitens die schon zu ihren Lebzeiten international prominente Bildungsaktivistin und Feministin Pandita Ramabai (1858–1922). Beide hatten die intensiven Auseinandersetzungen um den Zugang aller Kasten zu brahmanischem Wissen und moderner Bildung, um Kinderheirat und asketische Witwenschaft, um Hinduismus und nationale Identität entscheidend geprägt. Dabei boten sich sowohl neue Lesarten brahmanischer Texte (Ramabai) als auch die Suche nach nichtbrahmanischen, plebejischen Traditionen und die Adaption universeller Vorstellung an. Einflussreich war hierfür auch der Protestantismus, dem sowohl Phule als auch Ramabai zwei Aspekte entnahmen: erstens die Praxis der christlichen Mildtätigkeit in Form des Einsatzes für sozial Schwache und humanitäre Nothilfe; und zweites die universell gültige Idee der Erlösungsfähigkeit. Die „Parteilichkeit“ der brahmanischen Religion gegen niedrige Kasten war einer der zentralen Kritikpunkte der Antikastenbewegung – dagegen galt es eine auf menschliche Gleichheit gegründete Deutung von Religion zu setzen. Besonders augenfällig war hier das Nebeneinander von wissenschaftlich geprägten, universellen Wissensbeständen und der Übernahme von christlich geprägten Vorstellungen von Fürsorge und Barmherzigkeit. Die Kombination aus beidem wurde als geeignetes Mittel betrachtet, um „überkommene Glaubenssätze“ hinter sich zu lassen.

Die letzte Referentin ESTHER MÖLLER (Mainz) konnte nicht persönlich an der Sektion teilnehmen. Ihr Vortrag wurde von ANNE BRUCH (Braunschweig) verlesen. Der Beitrag rückte die Frage in den Mittelpunkt, welche Funktionen religiöses und kulturelles Wissen in transnationalen Wissensgemeinschaften in französischen Bildungseinrichtungen im Libanon einnahm. Möller zeigte, wie sich eben diese Wissensbestände im Libanon angesichts der stärkeren kolonialen Abhängigkeit von Frankreich veränderten, und welche Positionen diverse kulturelle und religiöse Gemeinschaften diesbezüglich vertraten. Hierfür analysierte sie Schulen unterschiedlicher religiöser – oder säkularer – Ausrichtung in zwei zentralen Zeiträumen: erstens die Zeit um 1905, als in Frankreich, aber auch im Libanon, säkulare Strömungen an Bedeutung gewannen und zweitens die zweite Hälfte des Völkerbundmandates, also die späten 1920er- bis 1930er-Jahre. Besonders im zweiten Zeitraum kam es zu einer Annäherung zwischen französischer Mandatsmacht und libanesischen Muslimen, welche auch das Verhältnis zwischen libanesischen Katholiken und Frankreich beeinflusste. Für den ersten Untersuchungszeitraum arbeitete Möller heraus, dass aus dem französischen Kanon übernommene Wissensbestände, in Form von Lehrinhalten und Lehrwerken, zur Herausbildung eigenständiger religiöser, kultureller und politischer Identitäten im Libanon beitrugen. Die in dieser Zeit entstandenen transnationalen Wissensgemeinschaften unterlagen allerdings einem Wandel, der mit den neuen Erfahrungen der französischen Mandatsherrschaft einherging. Möller legte in ihrem Paper überzeugend dar, dass religiöses und kulturelles Wissen im Libanon von transnationalen Wissensgemeinschaften im regen Austausch zwischen der Bevölkerung und französischen Schulen geschaffen wurde und sich angesichts zunehmend kolonial geprägter Machtverhältnisse zugleich stark wandelte. Sie befragt zum Abschluss das für die Analyse angewendete Konzept der Resilienz dahin gehend, ob durch diese Kategorie eventuell konfrontative und spannungsgeladene Aspekte den Vorzug vor kooperativen und einvernehmlichen Entwicklungen erhielten.

In ihrem Kommentar unterzog HEDWIG RÖCKELEIN (Göttingen) die auf Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts ausgerichteten Vorträge einer kritischen Betrachtung aus der Perspektive der Vormoderne. Hierzu präsentierte Röckelein zunächst einige konzeptionelle Überlegungen zum Verhältnis zwischen Religion, Bildung/Erziehung und Politik/Staat im Wandel der Zeit, wobei sie einen Bogen von der griechischen und römischen Antike, über Spätantike und Mittelalter, hin zur frühen Neuzeit und dem 18. bis 20. Jahrhundert als Zeit der „modernité religieuse“ schlug. Ausgehend hiervon und mit Bezug auf die vorangegangenen Vorträge arbeitete sie den Bedeutungswandel von Religion und Religiosität, von Wissen und Wissensordnungen und ihren sozialen und politischen Rahmenbedingungen in einer längeren zeitlichen Perspektive heraus. Diese Perspektive, so betonte die Mediävistin, lasse wichtige Rückschlüsse auf die vielfältigen Konjunkturen religiös geprägten Wissens zu. Röckelein fragte in diesem Kontext insbesondere inwieweit das Resilienz-Konzept geeignet sei ein lineares, teleologisches und damit häufig simplifizierendes Masternarrativ zu vermeiden.

Die nachfolgende Diskussion griff die thematische, räumliche wie zeitliche Vielfalt der vier Beiträge auf und machte deutlich, dass religiöses Wissen eine für die Erforschung gesellschaftlicher Transformationsprozesse in der Moderne fruchtbare und weiterführende analytische Kategorie darstellt. Sie lenkt den Blick auf ein breites Spektrum von Akteuren und verdeutlicht ihre Handlungsmöglichkeiten und Strategien sowie die jeweils grundlegenden Deutungsmuster und Weltsichten, in Form religiöser Vorstellungen und Praktiken. Zugleich rückte die Sektion die Frage der Erneuerung- und Wandlungsfähigkeit des Religiösen bzw. durch Religion in den Mittelpunkt. Das für die historische Forschung noch recht neue Konzept der Resilienz bietet für diese Doppelperspektive einen vielversprechenden Ansatz.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Simone Lässig (Washington) / Hedwig Röckelein (Göttingen) / Kerstin von der Krone (Braunschweig)

Simone Lässig (Washington DC): Religion, Wissen und Resilienz: Zur Wandlungsfähigkeit sozialer Gruppen im Angesicht der Moderne (Einführung)

Kerstin von der Krone (Washington DC): Alte und neue Wissensordnungen in der deutsch-jüdischen Geschichte

Anthony Steinhoff (Montreal): Religiöses Wissen im Grenzland: Religionsunterricht und akademische Theologie in Elsaß-Lothringen, 1870–1914

Jana Tschurenev (Göttingen): Religion und Sozialreform im kolonialen Indien: Anti-Kasten-Bewegung, Feminismus und die Kritik des „Hinduismus“

Esther Möller (Mainz): Transnationale Dimensionen religiösen und kulturellen Wissens im spätkolonialen Nahen Osten

Hedwig Röckelein (Göttingen): Wissensordnungen und Religion aus der Sicht der Moderne und der Vormoderne (Kommentar)


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