Die Zeitschrift. Sinn, Form, Konjunktur

Die Zeitschrift. Sinn, Form, Konjunktur

Organisatoren
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Ort
Marbach am Neckar
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.11.2016 - 18.11.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter Fritz, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Am Anfang einer Zeitschrift, so MARCEL LEPPER (Marbach), steht frischer Zorn, am Ende ein Elefantengedächtnis. Den kleineren und größeren Exemplaren dieser zornigen Elefanten, ihren Verstrickungen mit Geschichte, Ideologie, Politik und Kunst widmete sich die international besetzte Abschlusstagung der Forschungstreffen Suhrkamp/Insel im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Dabei ging die Konferenz „Die Zeitschrift. Sinn, Form, Konjunktur“ Fragen der Kontinuität und des Bruchs nach, also den Veränderungen in der Praktik und Programmatik von Selbstlegitimierungen vornehmlich deutscher Zeitschriften. Ein die meisten Vorträge verbindendes Interesse galt dabei der Schnittstelle von Zeitschrift und Gesellschaft, dem Dialog von Autorenschaft und Leserkreis. Die Freude am Sezieren der publizierenden Dickhäuter teilten die Referenten; die Sektionsbefunde fielen hingegen unterschiedlich aus. Die Vortragenden warfen ihr Untersuchungslicht recht einheitlich auf das redaktionelle ‚Dahinter’ der Zeitschriften. Dieses ‚Dahinter’, durch zahlreiche Akten und Korrespondenzen erschlossen, lieferte Einsichten in die Arbeit, Konflikte, Interessen und Idiosynkrasien der publizistischen Organe.

AXEL SCHILDT (Hamburg) markierte gleich zu Beginn die Blickrichtung der historischen Perspektive. Zeitschriften als eigenen Forschungsgegenstand – und nicht einfach nur als medialen Spiegel der Zeit – zu betrachten, konnte sich in der Geschichtswissenschaft lange nicht durchsetzen. In seinem Eröffnungsvortrag verortete Schildt das Medium Zeitschrift im politisch-kulturellen „Magnetfeld“. Er betonte zudem die mannigfaltigen Einblicke in die Gedanken einer Zeit, die Zeit-Schriften ermöglichten und skizzierte zugleich faktenreich und souverän die großen Linien der deutschen Nachkriegspublizistik. Da nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeitschrift vielen Intellektuellen als Ort der Zweitverwertung ihrer Texte diente, sei eine Geschichte der Zeitschriften schlichtweg der Schlüssel zu einer Intellectual History Deutschlands. Für das Zeitschriftenwesen nach 1945, das mit biografischen Kontinuitäten zum NS vornehmlich von der Kriegsjugendgeneration getragen wurde, konstatierte Schildt einen Wandel von einer Richtungs- zu einer Forumszeitschrift, die – wie er exemplarisch am „Merkur“, dem „Monat“ und den „Frankfurter Heften“ zeigte – den Nimbus intellektueller Flexibilität und Pluralität ausstrahlte und partiell auch auf neue Strömungen offen sowie beweglich reagierte.

Etwas unvermittelt zwischen Eröffnungsvortrag und restlicher Tagung stand die erste Sektion, die sich der Publizistik um 1800 widmete. Als Kritik an der Buch-Gelehrsamkeit der Aufklärung und von konstitutivem Rang für die demokratische Frühzeit Europas waren die europäischen Annalen angetreten, wie IWAN-MICHELANGELO D’APRILE (Potsdam) erläuterte, um weltgeschichtliche Ereignisse als eben solche von weltgeschichtlicher Qualität zu verstehen. So standen die europäischen Zeitschriften dieser Jahre, das unterstrich auch KLAUS MANGER (Jena) mit seiner Analyse des „Teutschen Merkur“, im Spannungsfeld von Patriotismus und Kosmopolitismus. Mit aufklärerischem Impetus und volkspädagogischem Zeigefinger sei es ein Charakteristikum der Zeitschriften gewesen, eine „Haltung der Revision“ zu kultivieren. Gegen unumstößliche Urteile etablierte man mit Neubesprechungen und Relektüre des Kanons neue Diskursformen, wie Manger darlegte. Darin jedoch die Intention eines „Dialogs“ lesen zu können, scheint in Anbetracht der Asymmetrie von Leserschaft und Herausgeber eine zu emphatische Deutung.

Die Performation eines echten, wenn auch etwas fahlen Dialogs gab es im Anschluss. In der hochkarätigen Runde kamen Vertreter der Häuser „Suhrkamp“, „Nouvelle Revue française“, „Paris Revue“ sowie „Sinn und Form“ und damit Praktiker des Zeitschriftenwesens zusammen. Das von CHRISTINE PRIES (Frankfurt) moderierte Gespräch flankierte die wissenschaftlichen Vorträge und bot damit einen Blick auf den Tagungsgegenstand aus gegenwärtiger Sicht. Fragen der Zielgruppe und Wege der Ansprache dieser Adressaten sowie die Möglichkeiten und Probleme des Internets wurden erörtert; zugleich bot das Gespräch Raum für die Artikulation des Selbstverständnisses der Medienunternehmen in den momentanen Zeiten politischen Wandels. MICHEL CRÉPU (Paris) plädierte für den hehren Anspruch, die heutige Zeit vorurteilsfrei und in ihrer ganzen Komplexität wie Vielfalt zu beschreiben. Es müsse ein neues Vertrauen in die Kraft der Narration etabliert werden. Unterschiedlicher hätten die Diskutanten dabei den Stellenwert des Internets kaum bemessen können. Erstaunlicherweise gelang es der „Paris Revue“ sogar, ihre Printauflagen durch die Internetpräsenz zu steigern. Crépu sprach sich hingegen für das Printmedium als alleinigen Schaffensort eine Literaturzeitschrift aus. Wie die gesamte Tagung von den jüngsten Eindrücken der amerikanischen Wahl bestimmt war, votierte auch HEINRICH GEISELBERGER (Berlin) für eine Repolitisierung seiner Publikationen.

Das Schaffen einer Zeitschrift unter einem ganz anderen Einfluss von Politik beleuchtete ANKE JASPERS (Berlin) und eröffnete damit die dritte Sektion der Tagung. Jaspers rekonstruierte die Geschichte von „Sinn und Form“ im Wechselspiel von Bürokratisierung im Angesicht der DDR-Diktatur und dem Wahren kultureller Selbständigkeit. Ihr Augenmerk galt den deutsch-deutschen Iterationen und den Verflechtungen von „Sinn und Form“, der Akademie der Künste und „Suhrkamp“. Das von Jaspers skizzierte gesamtdeutsche Netz entspann sich dabei vor allem durch den Austausch der Autorenschaft in Ost und West, die eher an einer gemeinsamen kulturellen Tradition festhielt, als ein politisches Statement für ein geeintes Deutschland zu äußern.

Den Titel „deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ ließ HANNA KLESSINGER (Freiburg) zum Programm werden und exemplifizierte anhand des „Merkur“ eine kulturelle Tradition unter anderen Vorzeichen. Als paradigmatisch für die westdeutsche Nachkriegspublizistik las Klessinger die zwischen Kontinuität und Neuanfang changierende Frühphase des „Merkur“. Durch das Festhalten der Herausgeber am Geistes-Begriff, der im Untertitel und der Selbstdarstellung der Zeitschrift anklang, wurde die konservative Grundhaltung des „Merkur“ deutlich. Insofern schloss Klessinger an Axel Schildts Eröffnungsvortrag an, der vor allem die ersten Jahre des „Merkur“ als konservativ apostrophiert hatte und die von den Herausgebern proklamierte Pluralität eher als rhetorische Strategie denn als evidente Verlagspraxis enttarnte. Das von Hans Paeschke und Joachim Moras, den Herausgebern der Zeitschrift, gewünschte geistige Gespräch Europas sei, wie Klessinger betonte, von der Aktualisierung der Europa-Idee motiviert gewesen – einer Idee, so Klessinger, die in verklärender Reminiszenz auf die klassische Moderne einen kulturell-philosophischen Europaraum imaginierte. Dieses „Gespräch“ war inhaltlich vor allem durch den deutsch-französischen Dialog bestimmt. Hob doch die Tagung an vielen Stellen immer wieder auf die dialogische Textur von modernen Zeitschriften ab, wäre am Beispiel „Merkur“ auch auf Rudolf Kassners symbolisch-physiognomische Ausarbeitungen zu verweisen gewesen, die für Paeschke immerhin als intellektuelle Folie seines Blattes galten und damit Multiperspektivität zur Programmatik erhoben.1

Zeitschriften als ‚linke’ Figuren, Zeitschriften als Diskurslabore und -hotspots galt das Interesse der vierten Sektion. Eindrucksvoll und aufschlussreich wandte sich MORITZ NEUFFER (Berlin) der „Alternative“ zu. Theorieproduktion im Journalformat, darauf lag der Fokus des Berliner Historikers, der die Geschichte der „Zeitschrift für Literatur und Diskussion“ – so die „Alternative“ im Untertitel – erzählte, einer Zeitschrift, die der Konjunktur des eigenen Selbstverständnisses zum Opfer fiel. Sei die „Alternative“ 1964 angetreten, um in Verbindung von „linken Avantgarden der Zwischenkriegszeit“ und jüngeren Denkstilen wie dem französischen Strukturalismus eine „materialistisch-ästhetische Kulturtheorie“ zu erarbeiten, habe das Blatt im Zuge der Fragmentierung der Linken in den 1970er Jahren seinen „äußeren politischen und sozialen Zusammenhang verloren“. Die „Alternative“ wurde 1982 zum letzten Mal herausgegeben. Durch fortlaufende Textmontage und eine im doppelten Sinne progressive Bildungs- und Selbstbildungsarbeit habe sie ein Archiv voll von „Problemstellungen intellektueller Arbeit“ hinterlassen, so Neuffer resümierend.

JAN BÜRGER (Marbach) hatte mit einem Auge für Details den Weg des als Intelligenzblatt gegründeten „Kursbuchs“ zum Massenmedium nachvollzogen und führte den Erfolg auf die Kooperation von Enzensberger als charismatischen Herausgeber und Unseld als fähigen Geschäftsmann zurück. War die Sektion überdies noch angetreten, sich dem Aufstieg und Fall des „Kursbuchs“ zu widmen, musste man trotz eines an Anschauungsmaterial dichten Referats vor allem über den angekündigten Fall uninformiert zurückbleiben.

Deutsche Zeitschriften für Europa, europäische Zeitschriften und Deutschland, Bundesrepublik, DDR, Gegenwart und Vergangenheit, das waren ungefähr die Räume, welche die Tagung für ihren Gegenstand bereits reklamiert hatte. Was zur Vollständigkeit noch fehlte, waren das Internationale und die Zukunft. Die letzte, als Podiumsdiskussion choreografierte und von EVA GEULEN (Berlin) lebendig und produktiv moderierte Sektion verhandelte unter dem Label „Europäische Zeitschriften: Konzepte, Krisen, Perspektiven“ vor allem die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten transnationaler Medien. ROMAN SCHMIDT (Essen) – noch ein mal den historischen Blick wählend – charakterisierte das Phänomen der europäischen Zeitschrift als „appellative Idee“ und „kompensatorischen Möglichkeitsraum“, stets auserkoren und imaginiert, um übernationale Handlungsmacht zu erlangen, wenn der nationale Leidensdruck zu groß geworden sei. Das historische Scheitern dieser übernationalen Projekte und ihr mögliches Scheitern in der Zukunft sei dabei vor allem auf die Ermangelung eines „transnationalen Kommunikationsraums“ zurückzuführen. Neben den ökonomischen Faktoren, die ein solches Vorhaben unattraktiv machen, sei es vor allem das Sprachproblem, das es zu diskutieren gelte. Auf konzeptioneller Ebene – so Schmidt – bedarf eine zukünftige europäische oder internationale Zeitschrift „azentraler Redaktionen“ und eines „kosmopolitischen Blickes“.

Mit einem entstellten Bert Brecht im Gepäck und einen Blick auf die gegenwärtige politische Lage werfend fragte BEN HUTCHINSON (Canterbury), was dies für Zeiten seien, wo ein Gespräch über Zeitschriften fast als Verbrechen gelte. Der in England lehrende Professor für europäische Literatur plädierte für eine englische Zeitschrift des europäischen Denkens. Wie diese jedoch zu realisieren sei, ließ er offen. Schild hatte hier klarere Vorstellungen: Die historisch durchaus kontrovers belegten Label „liberal“ und „Europa“ reichten heute – gegen den „Vormarsch der Barbarei“ – nicht mehr aus. „Aufklärung“ und „Demokratie“ sei das Programm der Tage. Nicht nur eine Plattform, sondern eine ganze Kultur an Medien bräuchte es, um diese Begriffe wieder neu zu diskutieren. Uneinig über die Rolle der Sprache in diesen möglichen Zeitschriften schloss die Tagung.

Will man eine Geschichte der Zeitschrift schreiben – und das hat die Tagung an einigen Stellen fachkundig vorgeführt –, muss man Zeitschriften als Projektionsort historischer Erwartungen und als Feld des Niederschlags vergangener Erfahrungen verstehen. Vor allem für die Bundesrepublik ergab sich ein detailreiches und historisch tiefenscharfes Panorama des Zeitschriftenwesens und intellektueller Netzwerke. Will man an einer neuen Zeitschrift für unsere Zeit arbeiten, scheint die Imprägnierung mit dem historischen Blick, wie ihn vor allem Schildt, Klessinger und Neuffer demonstrierten, von Vorteil. Doch führte die Tagung auch vor, dass diskursiv-analytische Reflexion nicht unbedingt vor dem Postulieren farbloser Gemeinplätze, dem bloßen Verteufeln des gegenwärtigen politischen Windes und vor schrillem Alarmismus schützt. Das Konzept der Tagung, Praxis und Theorie, Introspektion der Herausgeber und wissenschaftliche Analyse der Referenten befruchtend zu kombinieren, ging daher nicht immer auf.

Konferenzübersicht:

Begrüßung/Einführung

Marcel Lepper (Marbach) / Matthias Weichelt (Berlin)

Axel Schildt (Hamburg): Eröffnungsvortrag: Konjunkturen, Krisen, Programmatiken: Deutsche Zeitschriften nach dem Zweiten Weltkrieg

Sektion 1: Publizität und Exklusivität. Europäische Zeitschriften um 1800

Iwan-Michelangelo D’Aprile (Potsdam): Politischer Journalismus um 1800: Medien, Akteure, europäische Vernetzung

Klaus Manger (Jena): Wielands „Teutscher Merkur“

Astrid Dröse (Tübingen) / Jörg Robert (Tübingen): Cottas „Morgenblatt“. Journalpoetik Kleists Erdbeben in Chili

Sektion 2: Abendveranstaltung: Literaturzeitschriften im Gespräch.

Moderation: Christine Pries (Frankfurt)

Michel Crépu (Paris), Heinrich Geiselberger (Berlin), Lorin Stein (New York), Matthias Weichelt (Berlin)

Sektion 3: Ost und West: Zeitschriften nach 1945

Anke Jaspers (Berlin): „Sinn und Form“
Hanna Klessinger (Freiburg): Ein Titel wird Programm. Der „Merkur“ als „deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ in den Jahren 1947-1949

Sektion 4: Zeitschriften um und nach 1968

Moritz Neuffer (Berlin): Die journalistische Form der Theorie

Jan Bürger (Marbach): Intelligenzblatt und Massenmedium. Aufstieg und Fall der Zeitschrift „Kursbuch“ im Suhrkamp Verlag

Sektion 5: Round Table: Europäische Zeitschriften: Konzepte, Krisen, Perspektiven.

Moderation: Eva Geulen (Berlin)

Ben Hutchinson (Canterbury), Pawel Marczewski (Wien), Axel Schildt (Hamburg), Roman Schmidt (Essen)

Anmerkung:
1 Siehe Friedrich Kießling, Auf der Suche nach der neuen Wirklichkeit. Konzepte der Gegenwartsdiagnose im Merkur der 1970er- und 1980er Jahre, in: Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hrsg.): Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessung und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt/New York 2016, S. 133-154.