HT 2016: Von „guten Nachbarn“ und „deutschen Wegen“. Rollenbilder und Machtdiskurse im außenpolitischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland 1969-2005

HT 2016: Von „guten Nachbarn“ und „deutschen Wegen“. Rollenbilder und Machtdiskurse im außenpolitischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland 1969-2005

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
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Von
Friedrich Kießling, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Die Frage nach der internationalen Rolle der Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden. Die von Jessica Gienow-Hecht und Friedrich Kießling in Zusammenarbeit mit der AG Internationale Geschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands geleitete Sektion griff diese Diskussionen auf und zielte darauf ab, ihr mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft größere Tiefe zu verleihen. Im Mittelpunkt stand die Überlegung, dass sich internationale Rollen nicht nur durch materielle Faktoren erklären lassen, sondern dass dabei gesellschaftliche Konstruktionen von erheblicher Bedeutung sind. Für die internationale Position eines Landes ist nicht nur das, was ist, sondern gerade das, was geglaubt wird, von entscheidender Bedeutung. Eingewoben in die – grundsätzlich sowohl im In- wie im Ausland geführten – Debatten ist dabei ein hohes Maß an nationaler Selbstbeobachtung. Neben der eigenen Sicht werden ausländische Einschätzungen aufmerksam registriert und diskutiert. Die Beurteilung der eigenen Rolle und deren internationale Wahrnehmung erscheinen aufs Engste verschränkt.

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen verfolgte die Sektion insbesondere drei Ziele: Erstens galt es, anhand der Rollenbilder den Zusammenhang des außenpolitischen Diskurses der alten Bundesrepublik mit dem des wiedervereinigten Deutschlands zu überprüfen. Während seit einiger Zeit hier vor allem die Brüche betont werden, fragte die Sektion neben Diskontinuitäten auch stärker nach Kontinuitäten. Dabei ist bisher die Zahl der historischen Arbeiten, die sich empirisch gesättigt mit Fragen des außenpolitischen Selbstverständnisses beschäftigen, gerade für die Zeit seit der sozialliberalen Koalition überschaubar geblieben. Genau hier setzte die Sektion an und bemühte sich eine Verbindung zu schaffen zwischen dem, was für die 1950er- und 1960er-Jahre von der Forschung an Rollenbildern konstatiert worden ist, und dem, was für die heutige Bundesrepublik und ihrem neuen – oder vielleicht gar nicht so neuen – außenpolitischen Selbstverständnis diskutiert wird.

Zweitens sollte bei der Bildung von Rollenbildern die gesellschaftliche Perspektive besonders berücksichtigt werden. In offenen Gesellschaften wie der bundesdeutschen kann die Analyse von internationalen Rollenbildern nur mit Blick auf diese Dimension gelingen. Mögen auch einzelne außenpolitische Entscheidungen bis heute in einem Arkanbereich staatlicher Akteure getroffen werden, so ist dies mittel- und langfristig kaum möglich. Gesellschaftliche Konstruktionen von der eigenen internationalen Rolle geben, so die Überzeugung, einen Rahmen vor, gegen den offizielle Außenpolitik auf längere Zeit nicht verstoßen kann.

Schließlich galt es, die in den Debatten verwendeten Konzepte außenpolitischer „Macht“ genauer zu bestimmen. Damit reagierte die Sektion auf eine verbreitete Tendenz in der aktuellen Diskussion, wonach der relativen Bedeutungslosigkeit der Bonner Republik das größere internationale Führungspotential des neuen Deutschlands gegenüberzustellen ist. Der recht einfache Gegensatz von Zivil- und Friedensmacht auf der einen Seite und heute wieder stärkerem politischen, militärischen Engagement und damit der Abkehr von Friedens- und Zivilmachtvorstellungen auf der anderen Seite unterschlägt allerdings Ambivalenzen, die in den außenpolitischen Debatten der Bundesrepublik seit der sozialliberalen Koalition immer wieder festzustellen sind. So wurde auch in den 1970er-Jahren von außenpolitischen Beobachtern wie Politikern ziemlich rege über eine neue und größere Rolle der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen diskutiert. Allein inhaltliche Bestimmungen von Macht genügen deshalb nicht. Neben Machtsemantiken müssen Machtpraktiken oder Machtbilder berücksichtigt werden. Ebenso ist nach den weiteren Begriffsfeldern von „Verantwortung“ bis „internationale Führung“ sowie nach spezifischen Machtformen – von ökonomischen bis zu „soft power“-Konzepten – zu fragen.

Die Vorträge trugen zu allen drei Themen viel bei. FRANK TROMMLER (Pennsylvania) widmete sich den breiten Konturen der deutschen auswärtigen Nachkriegskulturpolitik. Dabei argumentierte er auf zweierlei Weise: Erstens veränderte sich diese Politik nach 1949 kaum; bundesdeutsche Beamte verfolgten genau die gleiche „Kulturmachtpolitik“ wie ihre Vorgänger und ihre Kollegen in der DDR. Dies änderte sich erst nach den intellektuellen tektonischen Erschütterungen der 1960er-Jahre. Seitdem ist auswärtige Kulturpolitik mutiert: von einem abrufbaren Warenlager zu einem Diskussionsforum; nicht ohne innere Schwierigkeiten, aber auch nicht ohne Zugewinn, wie die Akteure nach und nach erkannten. Mit der veränderten Kulturpolitik ließen sich durchaus mehr Einflussmöglichkeiten, mehr Anerkennung und – darauf aufbauend – auch die Basis für eine stärkere Rolle in Europa oder der Welt erreichen. Ohne sich explizit mit dem Konzept auseinanderzusetzen bzw. es überhaupt kennen zu können, lassen sich so in der seit den 1970er-Jahren veränderten bundesdeutschen Kulturpolitik Konzepte erkennen, die Vorstellungen von „soft power“ sehr nahe kommen.

Der Beitrag von BETTINA FETTICH-BIERNATH (Erlangen-Nürnberg) beschäftigte sich mit dem Thema der bundesdeutschen Entwicklungspolitik. Dieser zeigte, wie die Bundesrepublik seit den ausgehenden 50er Jahren Entwicklungspolitik als außenpolitisches Werkzeug, aber auch als Alternative zu Außenpolitik betrachtete. Damit umging die BRD vielerorts die Gretchenfrage nach Nichteinmischung. Sie profitierte zudem von einer Anhebung staatlicher Visibilität und Reputation. Je mehr jedoch die Bundesrepublik vor allem ab den 1970er-Jahren in dem Fahrwasser internationaler Diplomatie ankam, desto mehr verblasste die Wirkmacht dieses außenpolitischen Instrumentes und Beamte forderten „richtige“ internationale Verantwortung.

BERNHARD RIEGER (London) schließlich verfolgte in seinem Vortrag den Aufstieg der Marke Volkswagen, vor allem in Mexiko und den USA. Er verglich die dort entstandenen Impressionen, die der Konzern zu wecken wusste oder wecken musste. Rieger argumentierte, dass der Export des Käfers in die Amerikas einen erheblichen markenstrategischen Erfolg aufweisen konnte. Weil der Käfer als charmant und ehrlich galt, vermittelte die Ware VW ein völlig neues Deutschlandbild. Nicht unheimlich, dunkel und säbelrasselnd, sondern bescheiden und vertrauenswürdig. Das war genau die gleiche Handlungsanweisung, die jungen Diplomaten in der Ausbildung seit den 50er Jahren mit auf den Weg gegeben wurde. Die Marke Käfer trug somit nachhaltig zur Profilierung der Marke Deutschland bei. Und wenn dieses Image seit jüngster Zeit Schaden durch „Dieselgate“ genommen hat, dann eben genau deshalb, weil die Marke profilbildend auf Treue und „Understatement“ baute.

Alle drei Referenten beschäftigten sich mit der Wechselwirkung zwischen interner und externer Rollenprojektion und -rezeption sowie den internen und externen Konflikten und Kompromissen, die dabei entstanden. Ihr implizierter Hinweis, dass die Akteure und ihre Ziele sich dabei erheblich voneinander unterschieden, sogar widersprachen, war ein wichtiger Aspekt dieser Sektion: Im Kern kamen damit Parallelstrukturen von Imagebildung zum Vorschein, die im besten Fall einander komplementierten, in anderen Fällen aber einander entgegenliefen. Staatliche, halb-staatliche und nichtstaatliche Akteure hatten dabei nicht die gleichen Interessen. Staatsbeamte hatten vorrangig staatliches Interesse im Auge, zum Beispiel Frieden zu schaffen, diplomatische Einflussnahme auszuüben (Fettich-Biernath) oder politische und kulturelle Anerkennung (so Trommler). Ein Unternehmen will Märkte erschließen und den Absatz erhöhen, wie im Falle VW (Rieger). Wenn es dabei von einem positiven Image des herstellenden Staates profitieren kann, wird es das tun, und wenn das Unternehmen umgekehrt zur Reputation des Staates beitragen kann, wird dieser sich freuen. Dieses Zwischenspiel zwischen einem Markenprodukt und nationaler Außenwirkung nenne man, wie JESSICA GIENOW-HECHT (Berlin) in ihrem Kommentar zur Sektion hervorhob, im Marketingjargon des modernen Nation Branding den „IKEA-Effekt“: Das schwedische Möbelhaus hat die Prägung seiner Marke und seiner Produkte massiv an nationale Identität geknüpft. Dabei ist es so erfolgreich, dass der schwedische Staat sich jüngst sehr bemühte, IKEA als außenpolitischen Kooperationspartner zu gewinnen.

Interessant an den Beiträgen, so Gienow-Hecht zusammenfassend, waren vor allem zwei Dinge: Erstens belegten sie, dass dieser IKEA-Effekt gar nicht neu ist. Trommler, Fettich-Biernath und Rieger zeigten eindrücklich, dass schon in Zeiten konservativer auswärtiger Kulturpolitik – also in den 1950/60/70er-Jahren – nationale Bilder dezentral verhandelt, projiziert und rezipiert wurden, um sich auf Seiten des Konsumenten zu einem facettenreichen, multistereotypen Ganzen zusammenzufügen.

Zweitens ist interessant, dass dieses Nebeneinander eigentlich nicht in unser Bild der Genese auswärtiger Kulturbeziehungen passe. Wenn man sich auswärtige Kulturpolitik und -beziehungen aus der globalen Vogelperspektive anschaut, dann stellt sich ihre Geschichte in etwa so dar: Seit dem Ende der Frühen Neuzeit und über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg lag kulturelles Imagemanagement zu einem erheblichen Teil in den Händen nichtstaatlicher Akteure: Fabrikanten, Bankern, aber auch von Auslandsvereinen, Künstlern, Hausfrauen, Musikern, Ärzten, Touristen usw. Kultur war keine vorrangige Sache von Staatspolitik, sondern gehörte der Nation, dem Volk und dessen Akteuren. Der Staat schaute im Wesentlichen zu. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für einen Großteil des europäischen Auslands, Asiens und auch der Amerikas.

Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich diese Perspektive. In der Zwischenkriegszeit und noch mehr während des Ost-West-Konfliktes wurde der Staat zum primären Imagemanager der Nation. Grund dafür war, dass sich sowohl in demokratischen als auch in totalitären Gesellschaften – und das ist eine globale Tendenz – die Überzeugung durchsetzte, dass verbeamtete Bürokraten besser in der Lage sind, das Image der Nation zu managen als nicht-staatliche Akteure. Staaten gehen dabei unterschiedlich vor – mehr Kontrolle in Frankreich und der Sowjetunion, mehr Dezentralisierung in der BRD, mehr Bürokratie in den USA –, aber am Ende steht bis zum Fall der Berliner Mauer der Staat.

Trommler und Fettich-Biernath wiesen dagegen auf die starken Spannungen innerhalb des Auswärtigen Amtes, aber auch unter einzelnen Ministerien sowie Ministerien und halb-staatlichen Organisationen (Goethe-Institut, ifa etc.) hin. Sie implizierten, dass es niemals ein staatlich gelenktes Bild, sondern immer viele verschiedene gab, die unter Regierungsbeauftragten und ihren Wettbewerbern kontrovers verhandelt wurden. Rieger wiederum führte aus, dass der „deutsche“ Käfer im Ausland womöglich mehr für das Ansehen der BRD geleistet habe als alle kulturpolitischen Programme zusammen. Diese Projektion kollidierte mit der von Trommler diagnostizierten Kulturvormacht, antizipierte jedoch gleichzeitig den für spätere Jahrzehnte offenen breiten Massendiskurs.

Die Frage nach den unterschiedlichen Perspektiven, Interessen und Positionen ökonomischer, staatlicher und halb-staatlicher Akteure bestimmte auch die abschließende Diskussion der Sektion. Gleichzeitig wurde noch einmal auf das enge Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung verwiesen, auf die gerade Wirtschaftsunternehmen bei der Produktion von Images angewiesen seien. Angesichts dieser Umstände wurde gefragt, unter welchen Bedingungen Nation Branding bzw. die Produktion von internationalen Rollenbildern überhaupt erfolgreich gesteuert werden könne. Die bundesdeutsche Erfahrung bis in die jüngste Zeit zeige jedenfalls, wie schnell internationale Images, Außen- wie Selbstrepräsentationen bei allem unbestreitbaren Erfolg der Bemühungen um ein neues internationales Deutschlandbild auch wieder in ältere Vorstellungen umschlagen können.

Insgesamt, so wurde in der Sektion sehr deutlich, sind bei der Konstruktion von Rollenbildern strukturell eine Vielzahl von Narrativen und Projektionen im Spiel, die nicht nur horizontal – als Teil bundesdeutscher Kulturgeschichte –, sondern auch komparativ-linear – im Vergleich mit anderen Projektionsnarrativen in anderen Epochen – aufeinander bezogen werden müssen. Der an dieser Stelle oft stereotyp vorgebrachte Verweis auf die multipolare Komplexität historischer Zusammenhänge, so auch Jessica Gienow-Hecht in ihrem Plädoyer, sei nicht zielführend. Viel besser ließe sich die Sektion als Aufforderung für eine Geschichte internationaler Kulturbeziehungen verstehen, die nicht nur ein Nebeneinander, sondern tatsächlich ein Mit- und Gegeneinander, eine Verflechtung und Kollision von projizierten Rollen, Positionen, Bildern und deren Auswertungen in einem außenpolitischen Narrativ zulässt. Politische Geschichte wird so zum Schlüssel von Kulturgeschichte, wird hier doch letztlich kulturelle Identität außenpolitisch verhandelt.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Jessica Gienow-Hecht (Berlin) / Friedrich Kießling (Eichstätt-Ingolstadt)

Friedrich Kießling (Eichstätt-Ingolstadt): Von der „Haltung der Zurückhaltung“ zur deutschen „Gegenmacht“? Außenpolitische Rollenbilder in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von Brandt bis Schröder (Einleitung)

Frank Trommler (Pennsylvania): Kulturmacht im historischen Diskurs. Die Bundesrepublik in der wechselnden Außensicht

Bernhard Rieger (London): Volkswagen als bundesdeutscher Sympathieträger und Konfliktherd. Deutsche und mexikanische Perspektiven auf den deutschen Exporterfolg (ca. 1965-2000)

Bettina Fettich-Biernath (Erlangen-Nürnberg): Präsenz ohne Einfluss? Das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Friedens- und Entwicklungsmacht in der Zweiten UN-Entwicklungsdekade

Jessica Gienow-Hecht (Berlin): Deutsche Rollenbilder im Vergleich. Der Blick von außen (Kommentar)


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