Welche „Wirklichkeit“ und wessen „Wahrheit“? Das Geheimdienstarchiv als Quelle und Medium der Wissensproduktion

Welche „Wirklichkeit“ und wessen „Wahrheit“? Das Geheimdienstarchiv als Quelle und Medium der Wissensproduktion

Organisatoren
Thomas Großbölting / Sabine Kittel / Lilith Buddensiek, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.11.2016 - 18.11.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Pascal Pawlitta, Münster

Die Öffnung bzw. Teilöffnung von Geheimdienstarchiven erlaubt der wissenschaftlichen Forschung Einblicke in historische Vorgänge, die meist im Verborgenen vollzogen wurden. Doch welche Erkenntnismöglichkeiten bieten die zugänglich gewordenen Quellenbestände im Einzelnen tatsächlich, was gilt es beim Umgang mit diesen speziellen Materialien zu beachten und welche Rückschlüsse ergeben sich daraus für die (historische) Forschung?

Diese und andere Fragen standen im Zentrum des Workshops „Welche ‚Wirklichkeit’ und wessen ‚Wahrheit’? Das Geheimdienstarchiv als Quelle und Medium der Wissensproduktion“, zu dem Thomas Großbölting, Sabine Kittel und Lilith Buddensiek von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in den Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster eingeladen hatten. An zwei Tagen wurden die Blickwinkel und Denkweisen geheimdienstlicher Arbeit analysiert und generelle Überlegungen zur wissenschaftlichen Nutzung von Geheimdienstarchiven angestellt. Die institutionellen Rahmenbedingungen der Arbeitstagung bildete das von der VolkswagenStiftung geförderte und am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der WWU Münster angesiedelte Projekt „Wirken und Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit an westdeutschen Hochschulen, 1971-1989“.1 Anhand dieser Studie umriss SABINE KITTEL (Münster) in ihrem Eröffnungsvortrag wesentliche Zielsetzungen des Workshops, der neben dem Stasi-Archiv auch die Überlieferungen anderer Geheimdienste in den Blick nahm: Existieren gemeinsame wissenschaftliche Problemlagen bei der Arbeit mit Geheimdienstakten? Wie lassen sich geheimdienstlich produzierte Texte nutzen? Wie ist umzugehen mit bekannten und unbekannten Informationslücken, und wie lassen sich die Wahrnehmung von Geheimdiensten sowie deren Selbstrepräsentationen angemessen ergründen?

Als Einstieg in die erste Sektion „Sprache und Logiken“ wandte sich BETTINA BOCK (Leipzig) mittels einer diskurslinguistischen Herangehensweise den Wissensbeständen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) bzw. speziell den von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in Berichten an das MfS hervorgebrachten Argumentationsmustern zu. Dabei identifizierte die Linguistin DDR- und kommunikationsraumspezifische Topoi, die sich trotz einer grundsätzlichen gestalterischen Freiheit der IM beim Verfassen ihrer Berichte personen- und textübergreifend ausmachen ließen. Das Wissen um derartige Kommunikationslogiken und -regeln könne helfen, so Bock, die Deutungs- und Interpretationsgrenzen der geheimdienstlichen Quellen klarer zu konturieren. Dies gelte vor allem dann, wenn versucht werde, von den Niederschriften auf persönliche Motive oder etwaige Intentionen der Verfasser zu schließen. Ausgehend von der Biographieforschung nahm sich die Soziologin OLGA GALANOVA (Bochum / Bielefeld) in ihren Ausführungen zum Aussage- und Erkenntniswert von Beobachtungsberichten und Abhörprotokollen einer weiteren Quellengattung des Stasi-Archivs an. Dabei stellte sie die durch die Detailliertheit dieser Transkriptionen suggerierte „Objektivität“ infrage. Nicht zuletzt mit Blick auf ihre zeitökonomisierende Funktion für die weitere Nutzung innerhalb des MfS und ihre tendenziell verdachtsgenerierende Stoßrichtung handele es sich bei diesen Dokumenten um das Ergebnis eines Selektionsprozesses des jeweiligen Verfassers, der die historische Realität subjektiv gefärbt präsentiere. Diese Quellen eröffneten daher lediglich den Blick in eine bereits vorinterpretierte Welt. Gerade beim Versuch, diese Materialien zur Untersuchung „devianter Biographien“ heranzuziehen, bestehe die Gefahr, die stark ideologisierte Sichtweise des MfS zu übernehmen.

Anhand zweier Fallbeispiele gingen DEBORA GERSTENBERGER (Berlin) und CHRISTOPHER KIRCHBERG (Bochum) in ihren Vorträgen der Bedeutung der Computerisierung für die geheimdienstliche Tätigkeit und den damit verbundenen Auswirkungen auf die produzierten bzw. überlieferten Quellenbestände nach. In Anlehnung an die „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (Bruno Latour) plädierte Gerstenberger dafür, den Wissensbestand, den der brasilianische Geheimdienst Serviço Nacional de Informações (SNI) seit der Einführung von Computertechnik Ende der 1970er-Jahre produzierte und prozessierte, als Ergebnis einer heterogenen, aus Menschen und Computern bestehenden „intelligence community“ zu fassen. Sowohl auf institutioneller Ebene wie auch im Bereich der Wissensproduktion habe der Technologisierungsprozess zu einer grundlegenden Transformation des Geheimdienstes geführt. Dabei hätten die durch Computer bedingte neue Art der Dateneingabe und -verarbeitung sowie die dadurch geschaffenen Abfragemöglichkeiten einen durchaus erkennbaren Einfluss auf die Konstruktion der Gruppe der „Staatsfeinde“ gehabt. Dieser Aspekt sei von der Forschung bisher kaum beachtet worden. Eine andere Perspektive eröffnete Kirchberg, indem er den Blick auf das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Implementierung des Nachrichtendienstlichen Informationssystems (NADIS) Anfang der 1970er-Jahre lenkte. Er schrieb dem Geheimdienstarchiv vor allem den Stellenwert einer Vergleichsüberlieferung zum zeitgenössischen und die (mediale) Öffentlichkeit beherrschenden Überwachungsstaatsdiskurs zu, da die internen Quellen die Chance böten, die tatsächlich durch den Prozess der Computerisierung geschaffenen Möglichkeiten der Überwachung näher zu beleuchten. Ein solcher Perspektivwechsel werde allerdings – wie für Geheimdienstforschung jenseits von einer Erforschung des MfS insgesamt kennzeichnend – durch die geheimdienstliche Arkanpolitik und eine restriktive Datenschutzgesetzgebung erheblich erschwert. In Bezug auf das „Wissen“ des Verfassungsschutzes und Fragen nach etwaigen Veränderungen durch die Einführung des NADIS stehe die historische Forschung daher sowohl vor einem quantitativen wie auch vor einem qualitativen Quellenproblem.

Das zweite Panel befasste sich mit dem Wert des geheimdienstlichen Materials als historische Quelle und den damit verbundenen Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen. GERHARD SÄLTER (Berlin) erläuterte die spezifischen Problematiken beim Umgang mit Geheimdienstmaterial aus der Provenienz des frühen Bundesnachrichtendienstes. Neben der uneindeutigen Struktur des Dienstes, die eine hierarchische und soziale Verortung einzelner Akteure sehr schwierig mache, verwies Sälter insbesondere auf das Fehlen einer geschlossenen Überlieferung einzelner Diensteinheiten, was eine Bewertung und Kontextualisierung zusätzlich verkompliziere. Hinzu komme, dass das Berichtswesen des BND häufig Mutmaßungen kolportiere, die als sichere Erkenntnisse ausgegeben worden seien, um ein möglichst eindeutiges Feindbild zu transportieren. Vor dem Hintergrund dieser quellenkundlichen Gegebenheiten machte sich der Historiker dafür stark, Geheimdienstakten vor allem dafür zu nutzen, auf die mentalen, ideologischen und politischen Strukturen der Geheimdienste selbst zu schließen, anstatt diese Unterlagen – soweit die weitere Quellenlage dies zulasse – als Grundlage für die Analyse der darin beschriebenen historischen Sachverhalte heranzuziehen. Mit Blick auf ihr Projekt zum Denunziationswesen in der DDR ging ANITA KRÄTZNER-EBERT (Berlin) dezidiert auf die Schwierigkeiten im Umgang mit der Audioüberlieferung des MfS ein. Diese ergäben sich unter anderem daraus, dass dieses Material nicht mit den personengebundenen Archivbeständen verknüpft sei und insofern weiterführende Aussagen über Bedeutung und Folgen einzelner denunziatorischer Akte erschwert würden. Trotz dieser Einschränkungen ließen sich die archivierten Tonbänder aber als authentische Quelle der Kommunikation zwischen Bürgern und dem MfS betrachten.

JENS GIESEKE (Potsdam) steuerte seinen Teil zu der vom Workshop angestrebten Reflexion über die quellenkritische Verwendung von Geheimdienstmaterial bei, indem er ausgehend von seiner Studie über „Staatssicherheit und die Grünen“ grundlegende methodologische Problemkreise bei der Arbeit mit Stasi-Akten umriss: Durch den Nimbus des Geheimen sei schon während der Existenz des MfS ein „Bedeutsamkeitskult“ gepflegt worden, der in der Retrospektive nicht dazu führen dürfe, eine besondere „Geschichtsmächtigkeit“ von Geheimdienstaktionen oder eine per se herausragende Relevanz des in den Akten Niedergelegten zu unterstellen. Für den Historiker ergebe sich daher die Notwendigkeit, die vermeintlichen Geheimnisse mit Hilfe von alternativen Quellenbeständen im historischen Gesamtgeschehen zu verorten und zu überprüfen. Zudem folgten Stasi-Akten einer vor allem von Erfolgsrhetorik geprägten rituellen Logik und stellten zugleich bloß eine polizeibürokratische Überlieferung und somit eine ideologisch gefärbte Sichtweise auf die Realität dar, die es – nach Möglichkeit auch begrifflich – sorgfältig vom historischen Geschehen selbst zu differenzieren gelte. Chancen und Grenzen von Stasi-Akten als Quellen für die Alltagsgeschichte diskutierte TERESA TAMMER (Berlin) vor dem Hintergrund ihres Dissertationsprojektes zu schwulen Bewegungen und Politiken im geteilten Deutschland. Dabei verwies sie insbesondere auf die Möglichkeiten einer Zusammenschau mit anderen Quellenarten. Dadurch könnten zum einen die in den Akten des MfS zum Ausdruck kommende spezifische Wahrnehmung der Wirklichkeit und die zugrundeliegenden Deutungsmuster hinterfragt werden. Und zum anderen eröffne gerade eine Kombination von Herrschaftsquellen mit „Beherrschtenquellen“ – wie Zeitzeugeninterviews oder etwaige zeitgenössische Hinterlassenschaften – eine neue Sichtweise. Beispielsweise ließen sich Tammer zufolge derart überlieferte IM-Berichte auch als Niederschlag der direkten Kommunikation zwischen einzelnen Bürgern und der Staatssicherheit und insofern als Teil eines „Aushandlungsprozesses“ mit der Staatsmacht begreifen. Eine solche Betrachtungsweise vollziehe einen deutlich differenzierteren Zugriff auf die komplexe historische Wirklichkeit, als dies durch eine singuläre Berücksichtigung von geheimdienstlichem Material gewährleistet werden könne.

Die dritte und letzte Sequenz der Tagung widmete sich schließlich dem Themenfeld der vergangenheitspolitischen Implikationen und ihrem Einfluss auf die Wahrnehmung und Sichtweise des geheimdienstlichen Quellenbestandes. Dabei gerieten insbesondere die von der Tätigkeit des MfS „Betroffenen“ in den Blick. So referierte LILITH BUDDENSIEK (Münster) darüber, wie und vor allem welche „Wahrheit“ im Kontext der privaten Unterlageneinsicht seit Beginn des Jahres 1992 generiert worden sei. Durch die Auseinandersetzung mit den „eigenen“ Stasi-Akten seien bei den Betroffenen neue Vorstellungen vergangener „Wirklichkeit“ und somit neue „Wahrheiten“ entstanden – sei es durch die Neubewertung des eigenen Umfeldes (etwa wenn sich vermeintlich Vertraute als Zuträger des MfS erwiesen) oder auch durch die teilweise Übernahme von MfS-Deutungsmustern. Von der (medialen) Öffentlichkeit seien einige wenige Stasi-Akten bzw. deren Deutungen durch die Betroffenen, so die Münsteraner Historikerin, schließlich zu Quellen allgemeiner „Wahrheiten“ über die DDR-Gesellschaft gemacht worden. Der Bedeutung von MfS-Archivalien für das Verfassen von Autobiographien widmete sich als letzte Referentin MYRIAM NAUMANN (Berlin). In Anlehnung an den von dem Philosophen Roland Barthes geprägten Begriff des „Biographems“ legte die Kulturwissenschaftlerin dar, wie MfS-Akten vor allem bei „prominenten Oppositionellen“ die biographische Selbstinszenierung beeinflussten. Bei der autobiographischen Praxis auf Aktenbasis würden vielfach „Wahrheiten“ aus Akten übernommen, ohne diese infrage zu stellen, bzw. mit Hilfe der Akten neue „Wahrheiten“ konstruiert, welche die jeweilige Person und ihre Rolle in der DDR in ein spezifisches Licht rückten.

In der abschließenden Gesprächsrunde wurden wesentliche Ergebnisse des Workshops zusammengefasst und debattiert. Mit Blick auf die eingangs formulierten Fragestellungen wurde dabei vor allem der interdisziplinäre Austausch als Chance für die weitere Forschung hervorgehoben, beispielsweise um eine stärkere Sensibilität für die Quellensprache und einzelne, in den Unterlagen enthaltene Begrifflichkeiten zu erzeugen. Die vom Workshop angestrebte Zusammenschau unterschiedlicher Geheimdienstarchive und der damit verbundenen Quellenproblematiken wurde als gewinnbringender und zukunftsweisender Forschungsimpuls betont. Damit einher ging die Forderung, die Stasi-Forschung nicht als exklusive und singuläre Sphäre aufzufassen, wie dies mitunter forciert worden sei. Vielmehr sei es erstrebenswert, diese in einer allgemeiner ausgerichteten Geheimdienst-Forschung aufgehen zu lassen, um Synergien herstellen und nicht zuletzt auch das Bestreben einer Historisierung und kritischen Betrachtung der DDR-Aufarbeitung weiter vorantreiben zu können. Gerade Vergleiche von Geheimdiensten untereinander, aber auch eine Erweiterung des Blicks auf andere Epochen und Disziplinen eröffneten neue, lohnende Perspektiven, so der Grundtenor, von der die Forschung letztlich nur profitieren könnte.

Konferenzübersicht:

Thomas Großbölting (Münster): Begrüßung
Sabine Kittel (Münster): Einführung

Sektion 1: Sprache und Logiken

Bettina Bock (Leipzig): Diskursive Wissensproduktion: Am Beispiel kontextspezifischer Topoi der Inoffiziellen Mitarbeiter
Olga Galanova (Bochum/Bielefeld): Ambivalenzen geheimdienstlicher Detailliertheit: Stasi-Unterlagen als Quelle zur Untersuchung „devianter Biographien“
Debora Gerstenberger (Berlin): Digitalisierung der Subversion. Die Einführung von Computertechnik in den brasilianischen Geheimdienst (1970er-Jahre)
Christopher Kirchberg (Bochum): Die Einführung des Nachrichtendienstlichen Informationssystems im Verfassungsschutz: eine neue Forschungsperspektive

Sektion 2: Zwischen Mutmaßung und gesicherter Erkenntnis

Gerhard Sälter (Berlin): Zwischen Akten und Fakten. Zur Geschichte des BND vor dem Hintergrund der Stasi-Aufarbeitung
Anita Krätzner-Ebert (Berlin): Politische Denunziation in der DDR. Probleme bei der Recherche und Auswertung von Archivalien des BStU jenseits personenbezogener Fragen
Jens Gieseke (Potsdam): Die Stasi und die Grünen. Methodologische Erfahrungen aus einem Forschungsprojekt zur DDR-Westpolitik
Teresa Tammer (Berlin): Die Westkontakte der DDR-Homosexuellenbewegung. Perspektiven und Probleme bei der Analyse von Stasi-Unterlagen neben anderen historischen Quellen

Sektion 3: Vergangenheitspolitik

Lilith Buddensiek (Münster): Zwischen Rekonstruktion und Konstruktion. Die Betroffenen und die „Wahrheit“ in den Akten
Myriam Naumann (Berlin): Aktenargumente. MfS-Archivalien und Autobiographien

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Eine ausführliche Projektbeschreibung bietet <http://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L2/Forschen/Projekte/STASI_an_westdeutschen_Hochschulen.html> (29.01.2017).


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