Kulturen des Entscheidens in politischen Übergangssituationen

Kulturen des Entscheidens in politischen Übergangssituationen

Organisatoren
SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“, Teilprojekte B06 „Die Ausdifferenzierung von Politikfeldern: Wirtschaftspolitisches Entscheiden in deutschen Territorien und Staaten im 18. und 19. Jahrhundert“, B07 „Die Rahmung politischen Entscheidens im postkolonialen Staatsbildungsprozess: Argentinien und Mexiko in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, C05 „Preußische Amtmannbürokratie und lokale Selbstverwaltung: Dörfliches Entscheiden in der preußischen Provinz Westfalen im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, C07 „Politisches Entscheiden in der sozialistischen Tschechoslowakei“
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.11.2016 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Schröder, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Westfälische-Wilhelms-Universität Münster

Um „Kulturen des Entscheidens in politischen Übergangssituationen“ ging es am 11. November 2016 in einem Workshop des Sonderforschungsbereichs 1150, der von vier Teilprojekten (B06, B07, C05 und C07) organisiert wurde. Insbesondere wurden in den sechs Vorträgen Übergangssituationen der Moderne in den Blick genommen.

Dieser zeitliche Blickwinkel hängt unter anderem mit der begrifflichen und theoretischen Konzeption des Workshops zusammen. So erläuterte ULRICH PFISTER (Münster) in seinem Vortrag „Die Reformära des frühen 19. Jahrhunderts als entscheidungskultureller Schock: die Entstehung von Politikfeldern“, dass sich Politikfelder erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert infolge politischer Veränderungen (etwa den Reformen Napoleons) entwickelten. Alltägliche Selbstverständlichkeiten wurden erschüttert und herkömmliche Legitimationsschemata verloren an Kraft. Der „Schock“ bewirkte, dass die Akteure einen Problemhorizont ausbildeten, der in sachlicher und zeitlicher Hinsicht über althergebrachte Lösungsstrategien hinausreichte. Das bedeutete, dass sich Entscheidungskulturen änderten und Entscheidungsalternativen ausgearbeitet wurden. Indem man sich auch zukünftig auf diese Entscheidungen bezog, differenzierten sich Politikfelder aus ihrem Umfeld heraus, weil durch den Schock ein selbstreferentieller Prozess angestoßen wurde. Kurzum: Sobald einmal begonnen wurde, zu entscheiden, wird fortwährend unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen entschieden.

Diese theoretischen Überlegungen illustrierte FELIX GRÄFENBERG (Münster) am Beispiel des preußischen Hauptstraßennetzes. Sein Vortrag „Der Weg zum Preußischen Hauptstraßennetz, 1786/7–1830er: Grundlagensetzung, Planung, Umsetzung“ nahm die Frage auf, welche Faktoren ursächlich waren, dass an der Wende zum 19. Jahrhundert ein signifikanter Ausbau des Straßennetzes erfolgen konnte. Nach dem Tod Friedrichs II. bot das entstandene Machtvakuum die Chance, neue Ideen umzusetzen. Minister von der Schulenburg ergriff im Herzogtum Magdeburg die Initiative. Doch erst nach der französischen Besatzungszeit forcierte der preußische Staat den Chausseebau. Als Effekt der Verwaltungsreformen bildeten sich einheitliche Verwaltungen und Ressorts, unter ihnen die technische Oberbaudeputation. Gleichwohl waren noch immer regionale Unterschiede erkennbar.

Formales Entscheiden gewann in Politikfeldern also an Bedeutung. Das bedeutet allerdings keineswegs, wie Gräfenberg ausführte, dass informelles Entscheiden verschwand. STEPHAN RUDERER (Münster) bestätigte diese Sichtweise in seinem Vortrag „Vom Cabildo zum Caudillo. Politische Entscheidungsfindung in der Post-Unabhängigkeitsphase in Santa Fe, Argentinien“. Zwar erklärte Argentinien 1816 seine Unabhängigkeit, faktisch bestanden allerdings kleine eigenständige Provinzen, die von charismatischen Führern, den Caudillos, gelenkt wurden. Die Caudillos besaßen ein hohes Maß an Entscheidungsspielraum. Neuere Forschungen konnten zeigen, dass die Caudillos eine tragende Rolle bei der Konstituierung des Nationalstaats spielten. In der postkolonialen Zeit waren sie gleichwohl oft mit Entscheidungen konfrontiert, die nicht legitimiert waren. So beriefen sie sich zwar auf formale Instanzen, dennoch gelang es den Caudillos, informelle Machtpraktiken umzusetzen. Etwa ließ sich Estanislao López seine militärische Machtergreifung nachträglich durch eine neue Form der Entscheidungskultur legitimieren: Durch eine Wahl nach republikanischen Grundlagen. Das hinderte ihn nicht, seine Macht weiterhin auszuspielen; er sei rechtmäßig gewählt, doch es fehle an einer durch die Bürger bestätigten Verfassung. Die neuen, formalen Entscheidungsstrukturen blieben zunächst ambivalent und provisorisch oder wurden entsprechend gedeutet, sodass informellen Praktiken Raum geboten wurde.

Auch im „Revier der großen Dörfer“, dem heutigen Ruhrgebiet, lassen sich ähnliche Befunde ausmachen. Über „Gelsenkirchener Eingemeindungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Kontinuitäten und Zäsuren in den Modi des Entscheidens“ sprach CONSTANZE SIEGER (Münster) und verglich Aus-, Um- und Eingemeindungsprozesse des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Dabei zeigte sich, dass die Gemeinden während des Kaiserreichs einen größeren Entscheidungsspielraum besaßen; zwangsweise Eingemeindungen vermieden die Verwaltungen. Stattdessen standen konsensuale Entscheidungen im Mittelpunkt. Die lokalen Amtmänner und Ortsbürgermeister nahmen durch informelle Aushandlungsprozesse erheblichen Einfluss auf die Verfahren. In der Weimarer Republik änderte sich diese Praxis: Nunmehr gaben eindeutige Pläne und Agenden der Verwaltungen den Weg des Handelns vor. Eingemeindungen wurden anhand von Kriterienkatalogen geprüft und statistisch berechnet. Daher sind vermehrt Entscheidungen gegen die Gemeinde sichtbar, wenngleich informelle Aushandlungsprozesse weiter möglich waren. Insgesamt wurde die gemeindliche Selbstverwaltung sukzessive ausgeschaltet.

Auf Konsens beruhende Modi des Aushandelns diskutierte auch STEFAN LEHR (Münster) in seinem Beitrag „Vom Konsens zur Konfrontation: Politisches Entscheiden und Systemwandel in der Tschechoslowakei von 1945 bis 1948“. In der Nachkriegszeit wechselte das politische System in der Tschechoslowakei zweimal: 1945 und 1948. Ausgehandelt wurde es 1945 in Moskau zwischen tschechoslowakischen Exilpolitikern. Zunächst gab es zwar formal eine Volksdemokratie, doch faktisch handelten die Parteiführer der sechs in der Regierung vertretenen Parteien die Entscheidungen informell untereinander aus. Dabei dominierten auf Konsens und Kompromiss beruhende Modi des Aushandelns, die bereits in der Zwischenkriegszeit Tradition hatten. Ab der Jahresmitte 1947 ging die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei jedoch bewusst auf Konfrontationskurs und es gab erste Kampfabstimmungen, die in einer Regierungskrise im Februar 1948 mündeten. Nach der Demission der demokratischen Minister gelang es den Kommunisten, eine ihnen konforme, neue Regierung zu bilden und in der Folge eine Diktatur nach stalinistischem Vorbild aufzubauen, in der nun die politischen Entscheidungen alleine von Vertretern der Kommunistischen Partei ausgehandelt wurden.

Die Funktion der Gipfeltreffen des Europäischen Rates im Rahmen der Entscheidungsfindung der Europäischen Gemeinschaft untersuchte ANDRÉ KRISCHER (Münster) in seinem Beitrag „EWG-Gipfel als Szenarien des Entscheidens: Rahmungen, Zuschreibungen, Praktiken“. Er vertrat die These, dass Organisationen Akteure bedürfen, die letzte Entscheidungen treffen bzw. solche inszenieren. Dies sei die Funktion der Gipfeltreffen, dessen erste Zusammenkunft 1969 stattfand. Im Vorfeld der Gipfel wurde seitens der Beteiligten ein erhöhter Politikbedarf und somit eine Verdichtung von Entscheidungen bemerkt. Die während der Gipfel getroffenen Entscheidungen folgten dabei keinen spezifischen Abstimmungsmechanismen; es gab und gibt keine Geschäftsordnung und auch keine Ordnung darüber, wie entschieden werden soll. Der Weg zur Entscheidung ist also nicht vorgeplant und wandelte sich im Laufe der Zeit. Dementsprechend wurde immer unter Rahmenbedingungen entschieden, die gerade zur Verfügung standen.

Mit dem Hinweis auf die Materialität der Akten leitete Krischer in seinem Vortrag zudem zu der praxeologischen Dimension des Entscheidens über. Die Beschaffenheit, äußere Form und materielle Anordnung der Akten wirkte sich in gewisser Hinsicht auf die Formen des Entscheidens aus. So konnten die Akten vorgefasste Redebeiträge und Beschlussfassungen enthalten oder aber auch Entwürfe, die größeren Diskussionsspielraum zuließen.

Den Workshop beschloss ein Kommentar von ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt am Main), der die Frage aufwarf, was Umbruchsituationen auszeichnet und inwiefern sich diese aus dem Alltag herausgehobenen Sequenzen auf die Kulturen des Entscheidens auswirken. Die Diskussionsbeiträge der Tagung hätten gezeigt, so Fahrmeir weiter, dass Umbruchsituationen vor allem durch eine veränderte Reichweite der Entscheidungen gekennzeichnet seien. Zu beobachten sei, dass es nur bedingt zu einem Wechsel des Personals und der Akteure des Entscheidens gekommen ist. Näher untersucht werden muss dagegen die Frage, ob Umbrüche neue Kulturen des Entscheidens bedingen oder ob veränderte Entscheidungsmechanismen nachträglich durch die Akteure auf Umbrüche zurückgeführt werden. Aus welcher Perspektive erscheinen die sich wandelnden Formen der Entscheidungen überhaupt als ungewöhnlich? Mit dieser Frage leitete Fahrmeir sein Fazit ein: Umbruchsituationen seien nicht als naturgesetzliches Phänomen anzunehmen, die automatisch auch veränderte Kulturen des Entscheidens implizieren. Denn Kulturen des Entscheidens könnten sich ändern, ohne dass es Umbrüche bedürfe. Zudem seien auch in Umbruchsituationen deutliche Kontinuitäten erkennbar. Daher sei es notwendig, die Entscheidungen in kleinteilige Entscheidungsprozesse zu zerlegen, um differenzieren zu können, welches Element des Entscheidungsfindungsprozess sich wandelt.

Konferenzübersicht:

Ulrich Pfister (Münster): Die Reformära des frühen 19. Jahrhunderts als entscheidungskultureller Schock: die Entstehung von Politikfeldern

Felix Gräfenberg (Münster): Der Weg zum Preußischen Hauptstraßennetz, 1786/7–1830er: Grundlagensetzung, Planung, Umsetzung

Stephan Ruderer (Münster): Vom Cabildo zum Caudillo. Politische Entscheidungsfindung in der Post-Unabhängigkeitsphase in Santa Fe, Argentinien

Constanze Sieger (Münster): Gelsenkirchener Eingemeindungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Kontinuitäten und Zäsuren in den Modi des Entscheidens

Stefan Lehr (Münster): Vom Konsens zur Konfrontation: Politisches Entscheiden und Systemwandel in der Tschechoslowakei von 1945 bis 1948

André Krischer (Münster): EWG-Gipfel als Szenarien des Entscheidens: Rahmungen, Zuschreibungen, Praktiken

Andreas Fahrmeir (Frankfurt am Main): Kommentar