Pfade des Urbanen. Herausforderungen und Potentiale von Pfadkonzepten für die historische Stadtforschung

Pfade des Urbanen. Herausforderungen und Potentiale von Pfadkonzepten für die historische Stadtforschung

Organisatoren
Martina Hessler, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg; Clemens Zimmermann, Universität des Saarlandes, Saarbrücken; Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.01.2017 - 20.01.2017
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Von
Normen von Oesen, Lehrstuhl für Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Vom 19.–20. Januar 2017 wurden in der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg die Herausforderungen und Potentiale von Pfadkonzepten für die historische Stadtforschung an Hand zahlreicher Beispiele interdisziplinär diskutiert. Der im Kontext des DFG-Projekts Industriestädte – Krisen, Krisenwahrnehmungen und Entwicklungsalternativen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts organisierte Workshop schloss an einem im Jahr 2013 gleichfalls an der HSU in Kooperation mit dem Institut in Erkner veranstalteten Workshop zum Pfadkonzept an.1 Standen damals theoretisch-konzeptionelle Fragen im Mittelpunkt, so wurde nun der Versuch unternommen, den Fokus auf die Empirie zu legen, sowie die heuristischen und analytischen Vorzüge des Pfadkonzeptes kritisch zu diskutieren.

In seinem Einführungsvortrag stellte JÖRN EIBEN (Hamburg) fest, dass das Pfadkonzept in anderen historischen Teildisziplinen wie der Technikgeschichte selbstverständlich angewendet werde, während die Analyse- und Beschreibungsmöglichkeiten für die Stadtgeschichte gerade empirisch noch nicht ansatzweise genutzt würden. Das Potential des Konzeptes scheine vielmehr geeignet, städtische Entwicklungen, Dynamiken und Prozesse heuristisch abseits der bekannten Muster von Aufstieg und Niedergang zu diskutieren und gleichzeitig zu strukturieren. Vor diesem Hintergrund wies Eiben aber auch auf mehrere Problemfelder bei der Nutzung des Pfadkonzeptes hin, wie zum Beispiel die Anzahl der Pfade, deren Abgrenzung gegeneinander oder gegenüber von Prozessen der Stadtentwicklung, oder aber ihrer Wirkmächtigkeit für die Stadtgeschichte. Zudem diskutierte er neue Anstöße für Theoriebildung wie beispielsweise einen theoretisch reflektierten Krisenbegriff, welcher die Brüchigkeit und Stabilität von Pfaden sehr viel präziser fassen könnte.

Das erste thematische Beispiel lieferte EVA FRENSEMEIER (Dortmund) mit ihrem Vortrag zu Pfadabhängigkeiten von Kommunen bei Energieeffizienzprojekten. Anhand ihrer Fallstudie „Bottrop Innovation City“ problematisierte sie die Dominanz von geförderten Energieeffizienzprojekten in der Stadtplanung, welche sich nicht mehr am Stadtentwicklungsplan orientierten, sondern vielmehr an den Finanzierungsmöglichkeiten durch die diversen Förderprogramme. Hierdurch stellt sich immer häufiger die Frage nach der Kongruenz zwischen Förderzielen und realer Umsetzung von Projekten.

Nach der stadtplanerischen Perspektive rückte BEATE LÖFFLER (Duisburg / Essen) den Fokus auf die architekturhistorische Stadtforschung. Diese stark europäisch dominierte Disziplin betrachtete sie unter wissenschaftshistorischen Gesichtspunkten. In diesem Fall liegt die Pfadabhängigkeit in den persönlichen, beruflichen und kulturellen Interessen der Forscher bzw. der zeitgenössischen Betrachter und Autoren begründet, welche ihre Weltsicht in die Forschungspraxis sowie in den Wissenskanon einschrieben. Hierdurch wurden nicht-europäische Stadtphänomene in der Erforschung japanischer Städte seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausgegrenzt und deren Betrachtung irrelevant. Der hierdurch eingeschlagene Pfad wirke historiographisch bis heute nach.

Im Anschluss daran betrachtete CHRISTOPH STRUPP (Hamburg) die maritime Pfadabhängigkeit Hamburgs seit den 1950er-Jahren. Hierbei legte er den Schwerpunkt auf das Verhältnis von Stabilität und Dynamik sowie die Diskussion verschiedener Pfadebenen. Im Fokus standen die Containerisierung des Stückverkehrs, welche eine Grundsatzentscheidung über den Zukunftskurs der Hamburger Wirtschaft erforderte, und die Krise der 1980er-Jahre, im Zuge derer der Senat bemerkenswert kontrovers über den wirtschaftspolitischen Kurs der Stadt diskutierte. Die Ideologisierung des Maritimen im Selbstverständnis der Stadt vor dem Hintergrund dieser möglichen Wendepunkte in der Geschichte der Hansestadt erscheinen dabei beispielhaft für den im Hamburger Stadtbild zementierten Pfad.

In seinem Fallbeispiel stellte Jörn Eiben die Frage nach dem Ende des Pfades für Wilhelmshaven und seine Hafenindustrie in den verlängerten 1970er-Jahren. An seinem Beginn steht das Ziel der Wilhelmshavener Wirtschaftspolitik, die Stadt als einen Tiefwasserhafen für Massengüter zu etablieren. Die Eröffnung des Ölhafens, die Ansiedlung der Alusuisse und bemerkenswerterweise auch die Ölkrise stellten positive Feedback-Effekte im Sinne des Pfadkonzeptes dar. Die hieraus erzeugte Kontinuität hatte zum einen ein gemeinsam geteiltes Verständnis bezüglich Effizienz oder Modernität zur Folge, zum anderen wurde Legitimität für die spezifische Industrieansiedlungspolitik generiert. Das Ende des Pfades, welcher trotz beträchtlicher ökonomischer Schwierigkeiten kontinuierlich fortgesetzt wurde, stellt der Zeitraum 1983 bis 1985 dar. Nach dem Scheitern des letzten größeren Ansiedlungsprojekts und der Schließung der Ölindustrie kam es zu einer Veränderung der wirtschaftspolitischen Strategie aufgrund der Erosion der Konformität sowie Legitimität des Pfades.

Zum Abschluss des ersten Tages lenkte MICHAEL RÖHRIG (Saarbrücken) den Fokus auf die Entwicklungspfade und Transformation monostruktureller Industriestädte im Spiegel von Krisen und Schrumpfung. Am Beispiel von Völklingen analysierte er die Dimensionen des monoindustriellen Entwicklungspfads anhand der Kriterien Raum, Akteure und Mentalitäten. Die kulturelle Dimension in Form von Selbstbild, Mentalität und eigenen Zukunftsvorstellungen stellte dabei ein Erklärungsmuster für das Festhalten am eingeschlagenen Pfad dar. In Völklingen gab es trotz Diversifizierungsdebatten seit den 1960er-Jahren erst Ende der 1980er-Jahre erste ernsthafte Versuche eines Strukturwandels. Ähnlich wie für Hamburg, lässt sich auch hier ein Festhalten bzw. ein Beharren an der identitätsstiftenden Industrie feststellen.

Der zweite Tag startete mit dem Vortrag von DIETER SCHOTT (Darmstadt) zum Verhältnis von Krieg und Pfadabhängigkeit in deutschen Städten des 20. Jahrhunderts. Im Fokus stand die Wirkung des Krieges für neue Pfade und die Funktion als externer Schock oder als Katalysator. Am Beispiel von Darmstadt und Mannheim wurde die ambivalente Wirkung von Kriegen herausgearbeitet. Grundlage hierfür war die Frage, inwiefern Kriege dazu beigetragen haben, vorhandene und aktiv verfolgte Pfade abzubrechen oder ihre Entwicklungsrichtung und deren Gehalt signifikant zu verändern, falls dies vor dem Hintergrund der kriegsbedingten Umwälzung überhaupt möglich war. Gleichzeitig stellte sich aber auch die Frage nach dem Auftreten neuer Pfade, welche erst durch die vom Krieg selbst oder die von ihm ausgelösten physischen oder gesellschaftlichen Veränderungen entstanden und im Vorfeld nicht erkennbar waren.

Den Abschluss der Fallbeispiele bildete der Vortrag von THOMAS HÖPEL (Leipzig) über die kulturpolitische Betrachtung der Pfade von Leipzig und Krakau vor dem Hintergrund der politischen Brüche des 20. Jahrhunderts. Das Ende des 19. Jahrhunderts sowie die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben für viele Städte bis heute eine nicht zu verkennende Bedeutung und Prägewirkung für das Feld der Kultur und damit für die städtische kulturelle Identität. Beide Städte waren im letzten Jahrhundert grundlegenden politischen Veränderungen durch die Herausbildung und den Niedergang von jeweils zwei Diktaturen ausgesetzt. Trotz des Versuches, die jeweilige Ideologie durch die Kulturpolitik zu verbreiten, gelang es beiden Städten, die um die Jahrhundertwende etablierten Konzepte und Institutionen zu bewahren und in den Umbruchphasen an sie anzuknüpfen.

In einer zusammenfassenden Betrachtung der vorgestellten Entwicklungspfade und Pfadabhängigkeiten durch CLEMENS ZIMMERMANN (Saarbrücken) wurden sowohl der Nutzen des Pfad-Ansatzes als auch die methodischen Probleme bei der Anwendung thematisiert. Hierbei lässt sich festhalten, dass das Pfadkonzept einen fundamentalen Wandel nicht ausschließt, sofern die legitimierenden Faktoren nicht mehr Konsens sind, externe Schocks einsetzen oder aber Gegenmacht wirkt. Vor diesem Hintergrund lassen sich die methodischen Probleme hinsichtlich der Beschreibung von Dauer, Anfang und Ende oder aber Pfadwechsel besser einordnen. Demgegenüber wurden die Potentiale des Konzepts nochmals betont, nämlich städtische Entwicklungen, Dynamiken und Prozesse heuristisch und abseits der bekannten Muster zu diskutieren und gleichzeitig zu strukturieren. Auch ein transnationaler Untersuchungsansatz erscheint vor dem Hintergrund der dargestellten Analysekriterien möglich und bietet gleichzeitig die Möglichkeit vergleichender stadthistorischer Studien.

Zum Ende des Workshops wurden in der von MARTINA HESSLER (Hamburg) eingeleiteten und moderierten Diskussion die Herausforderungen und Potentiale von Pfadkonzepten für die historische Stadtforschung herausgestellt und diskutiert. Hierbei stand die Frage im Mittelpunkt, ob das Konzept ausreicht, um die Entwicklung der Stadt als Ganzes zu beschreiben oder aber nur für Teilaspekte wie zum Beispiel die Wirtschaftspolitik geeignet ist. In diesem Zusammenhang stand die Einheit der Analyse im Sinne der Theorie im Fokus, und hierbei insbesondere die Frage, inwieweit die Begrifflichkeit des Pfadkonzepts für Historiker/innen als analytische Kategorien hilfreich sei. Die legitimierenden Faktoren des Pfades und mögliche historische Brüche samt alternativer Handlungsmöglichkeiten wurden als Kernelemente für die historische Betrachtung der jeweiligen Stadtgeschichte ausgemacht.

Den Referent/innen und Teilnehmer/innen der Tagung gelang es, ein aktuell wenig genutztes Theoriekonzept in seiner empirischen Anwendbarkeit auszuloten und dessen Potentiale für die Stadtgeschichte herauszustellen. Hierbei wurde deutlich, dass das Pfadkonzept eine gute Möglichkeit bietet, Stabilität und Kontinuität zu beschreiben. Zugleich trat das Problem zu Tage, wie sich Wandlungsprozesse innerhalb des Konzeptes beschreiben lassen. Vor diesem Hintergrund hat die Tagung eine theoretische Erweiterung des Pfadkonzeptes zur Analyse historischen Wandels angeregt.

Konferenzübersicht:

Jörn Eiben (Hamburg): Begrüßung und Einführung

Eva Frensemeier (Dortmund): Pfadabhängigkeiten von Kommunen bei Energieeffizienzprojekten

Beate Löffler (Duisburg-Essen): Alle Wege führ(t)en nach Rom. Pfadabhängigkeiten in der architekturhistorischen Stadtforschung

Christoph Strupp (Hamburg): Freie und Hafenstadt Hamburg? Maritime Pfadabhängigkeiten in Hamburg seit den 1950er-Jahren

Jörn Eiben (Hamburg): Am Ende des Pfades? Zur Wilhelmshavener Hafenindustrie der verlängerten 70er Jahre

Michael Röhrig (Saarbrücken): Entwicklungspfade und Transformation monostruktureller Industriestädte im Spiegel von Krisen und Schrumpfung

Dieter Schott (Darmstadt): Krieg als externer Schock oder Katalysator für neue Pfade: Zum Verhältnis von Krieg und Pfadabhängigkeit in deutschen Städten des 20. Jahrhunderts

Thomas Höpel (Leipzig): Pfadabhängige Kulturpolitik in einem Jahrhundert der politischen Brüche: Leipzig und Krakau im Vergleich

Clemens Zimmermann (Saarbrücken): Entwicklungspfade und Pfadabhängigkeiten in der Stadtgeschichte in transnationaler Perspektive

Abschlussdiskussion
Moderation: Martina Hessler (Hamburg)

Anmerkung:
1 Vgl. Christoph Strupp, Pfadkonzepte in der Stadtgeschichte? in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2013), S. 122–125.


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