Das kubanische Bildungssystem: Verflechtungen, Einflüsse und Transfers

Das kubanische Bildungssystem: Verflechtungen, Einflüsse und Transfers

Organisatoren
Instituto de Historia de Cuba, Havanna; Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien
Ort
Havanna
Land
Cuba
Vom - Bis
19.04.2017 - 20.04.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Kriele, Mainz

Es ist bekannt, dass das sich als sozialistisch begreifende Kuba auf dem Gebiet der Bildung außergewöhnliche Wege gegangen ist. Weniger erforscht sind dagegen die weitreichenden internationalen Verflechtungen des kubanischen Bildungssystems, sowohl mit der damals existierenden sozialistischen Staatengemeinschaft als auch mit Asien, Afrika und Lateinamerika. Vom 19. und 20. April 2017 fand in Havanna ein Forschungsgespräch unter dem Titel „Das kubanische Bildungssystem: Verbindungen, Einflüsse und Transfers“ statt, zu dem das kubanische Geschichtsinstitut Instituto de Historia de Cuba und das vom Austrian Science Fund – FWF geförderte Forschungsprojekt: „Experts in ‚Development‘ and ‚Socialist Aid‘ in the era of global competition between the political systems ‚West‘ and ‚East‘“ (Projektleiter: Berthold Unfried, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien) eingeladen hatten. Selbstgestellte Aufgabe der zweitägigen Veranstaltung, auf der insgesamt vierzehn Vorträge gehalten wurden, war es, Bildungseinflüsse der sozialistischen Länder in Kuba nachzuvollziehen und die transnationale Wirkung von kubanischen Bildungspraktiken im Rahmen des „kubanischen Internationalismus“ in Ländern des Südens nachzuzeichnen. Mit der Veranstaltung sollte ein Raum geschaffen werden, in dem sich Forschende inner- und außerhalb Kubas über den Stand der Forschung austauschen und differierende Perspektiven auf den Forschungsgegenstand gegeneinander abgrenzen können. Eingeladen waren sowohl Wissenschaftler als auch Zeitzeugen, die auf der Basis ihrer persönlichen Erfahrung oder der ihnen zum Teil exklusiv vorliegenden Daten berichteten. Die Absicht, den Austausch in das Zentrum des Forschungsgesprächs zu stellen, ging dabei auf; im Laufe der anderthalb Tage gab es etwa fünfzig Diskussionsbeiträge.

In seinen einleitenden Worten kennzeichnete RENÉ GONZÁLEZ BARRIOS (Instituto de Historia, Havanna) die internationalistische Ausrichtung als ein Wesensmerkmal der kubanischen Unabhängigkeitsbewegung seit ihren Anfängen. So habe schon Carlos Manuel de Céspedes in seinem Manifest vom 10. Oktober 1868 die Verbundenheit der zu gründenden kubanischen Nation mit allen anderen Völkern betont – ein Gedanke, der bis heute für die Eigenidentifikation des sozialen Projektes konstitutiv sei. Mehr als dreitausend Ausländer haben in den folgenden Jahren in den Reihen der aufständischen Mambises gekämpft, drei von ihnen erreichten sogar den höchsten Generalsrang. So erklärt es sich nach González, dass der Internationalismus in Kuba wiederkehrend als die „Begleichung einer bestehenden Schuld gegenüber der Menschheit“ verstanden werde.

Die zentralen und im Titel aufgenommenen Begrifflichkeiten der Veranstaltung bedürfen allerdings einer Hinterfragung. Dafür plädierte FELIPE PÉREZ CRUZ (Universidad de Ciencias Pedagógicas Enrique José Varona, Havanna). Der Transferbegriff birgt nach Pérez die Gefahr einer eurozentristischen Verzerrung, welche sich auch darin ausdrückt, dass der „Europäische Sozialismus“ als die „originale“ Form dieser Gesellschaftsform gehandelt würde, im Gegensatz zu seinen afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Sonderformen. Pérez skizzierte die Eckpunkte eines Forschungsprogrammes, mittels dessen die tatsächlichen Übertragungsprozesse eines Wissens von einem Kontext auf den nächsten zu erfassen wären. Dazu müsste auf historisch-methodologischer Ebene eine Vorher/Nachher-Analyse zum Stand der Bildung zum Zeitpunkt der kubanischen Revolution von 1959 durchgeführt werden, in der auch die Bildungskonzepte und -praxis in der UdSSR und der DDR einbezogen werden müssten. Zumindest im Fall Kubas, so Pérez, waren die endogenen Problemlagen, Widersprüche und Debatten entscheidender für die Entwicklung des Bildungssystems als die Installierung von aus dem sozialistischen Ausland übernommenen Bildungseinrichtungen oder -strukturen.

Zweifellos hat das kubanische Alphabetisierungsprogramm eine internationale Ausstrahlung entwickelt. Über die weniger bekannte Tatsache, dass in der innerkubanischen Alphabetisierungskampagne von 1961 auch ausländische Aktivistinnen und Aktivisten beteiligt waren, gab LUISA YARA CAMPOS GALLARDO (Museo Nacional de Alfabetización, Havanna) in einer Präsentation neuer Forschungsergebnisse Auskunft. Campos betonte die symbolische Bedeutung dieser Gruppe, selbst wenn ihr absoluter Anteil mit 260 internationalen gegenüber 268.160 kubanischen Alphabetisiererinnen und Alphabetisierern sehr gering war. Ein exogener Einfluss auf Inhalte und Methodik der Kampagne lässt sich nach Campos nicht ausmachen. Bemerkenswert ist, dass unter den 26 vertretenen Nationen Spanien, die USA und Mexiko die größten Kontingente stellten, während die sozialistischen Länder deutlich unterrepräsentiert waren, etwa die DDR mit nur einer Aktivistin oder die UdSSR gänzlich ohne Beteiligung. Diese Ergebnisse gaben zugleich aufschlussreiche Einblicke in die Frühphase der sozialistischen Bildungszusammenarbeit mit Kuba.

Ebenfalls über eine Frühform der international orientierten Bildungszusammenarbeit berichtete EUGENIA PALOMARES FERRALES (IPU Tomás David Royo, Havanna) in ihrem Beitrag über die Escuela José Martí im Osten von Havanna, in der ab 1961 zunächst vereinzelt und später systematisch Kinder aus Afrika, Asien und Lateinamerika aufgenommen wurden, darunter viele Waisen von gefallenen Kämpfern. Nach Einschätzung vom Palomares erfüllte die Schule eine Pionierfunktion für spätere Programme der Bildungskooperation Kubas mit Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas.

TOBIAS KRIELE (Mainz) schlug vor, die Unterstützung, welche die DDR in den 1960er-Jahren Kuba im Hochschulbereich zukommen ließ, als Ausdruck einer spezifisch sozialistischen Form der Globalisierung zu verstehen. Die Beziehungen zwischen beiden Staaten entwickelten sich im Bildungs- speziell im Hochschulbereich noch deutlich vor den regulären diplomatischen Beziehungen. Die Initiative in Form von Forderungen nach Anleitung und praktischer Unterstützung ging dabei eindeutig von kubanischer Seite aus. Zwar verband die DDR auch eigene Interessen mit der Beratung und Unterstützung, die punktuell in Konflikt mit der kubanischen Praxis gerieten; ausschlaggebend war aber die interne Orientierung, dafür zu sorgen, keinesfalls als Kolonialmacht wahrgenommen zu werden. Die Umsetzung der auf kubanischer Seite implementierten Bildungsformen war, wie Kriele am Beispiel der mit DDR-Expertise aufgebauten Arbeiterfakultäten darlegte, als Antwort auf die konkrete lokale Problemlage konzipiert und bezog in hohem Maße nationale Vorläuferinstitutionen mit ein, so dass die Arbeiterfakultäten in ihrer konkreten Gestaltung als genuin kubanische Einrichtungen gelten können.

JUAN MIGUEL PANTALEÓN FUNDORA (Havanna) berichtete als Zeitzeuge vom Aufbau des internationalen Stipendienprogrammes auf der Isla de la Juventud. 1977 spezialisierten sich zunächst zwei der polytechnisch ausgerichteten Schulen auf der Insel auf Schülerinnen und Schüler aus der Volksrepublik Mosambik. Die Zielgruppe wurde auf zahlreiche Länder aus Afrika, Asien und Lateinamerika erweitert, so dass bis zum Jahr 1990 an die 25.000 Schülerinnen und Schüler auf der Jugendinsel ausgebildet wurden. Pantaleón beschrieb einige der pädagogischen, politischen und administrativen Herausforderungen, welche die hochgradig multikulturelle Zusammensetzung der Schülerschaft für die kubanischen Verantwortlichen mit sich brachte. Auch wenn der Unterricht durchgängig in spanischer Sprache stattfand, lag ein Hauptaugenmerk des Programms darauf, die nationalen Traditionen der Schülerschaft nicht nur zu respektieren, sondern sie hervorzuheben und in vielen Fällen erstmalig zu vermitteln. Unter den zehn Prozent der Absolventen, die erfolgreich die Hochschulreife erreichten, wurden viele zu Vertretern der nationalen Intelligenz ihrer Heimatländer, was Pantaléon als Beleg für eine erfolgreiche Aufbauhilfe wertete.

Der kubanische Beitrag zur internationalen Bildungszusammenarbeit mit Ländern des Südens auf der Isla de la Juventud war auch Thema der Vorstellung des Promotionsprojektes von DAYANA MURGUIA MÉNDEZ (Instituto de Historia de Cuba, Havanna). Murguia erläuterte, dass bislang kaum wissenschaftliche Erkenntnisse über das Bildungsprogramm vorlägen, in das Studierende aus nahezu vierzig Nationen involviert waren. Ihr eigenes Forschungsinteresse richtet sich vor allem auf die Rolle, die der kubanischen Bildungspraxis auf der Isla de la Juventud bei der Schaffung von kulturellen Werten und nationalen Identitäten zukamen und dies im Kontext der internationalen Beziehungen zwischen Kuba und den jeweiligen Herkunftsländern. Da der Wirkungszusammenhang wechselseitig ist, sei auch nach den Spuren des internationalen Programms im kubanischen Bildungssystem selbst zu fragen, so Murguia. In der anschließenden Debatte wurde festgestellt, dass es sich bei diesem Programm um die bedeutendste Süd-Süd-Zusammenarbeit im Bildungsbereich überhaupt handeln dürfte. Mit Blick darauf kündigte der Präsident des Instituto de Historia de Cuba, González Barrios, für ein Internationales Symposion zur Geschichte der kubanischen Revolution im Oktober 2017 in Havanna ein eigenes Panel zum Bildungsprogramm auf der Isla de la Juventud an.

BERTHOLD UNFRIED (Universität Wien) stellte einen Vorschlag zur Debatte, den „kubanischen Internationalismus“ in drei Etappen zu begreifen. In der ersten Etappe von 1959 bis 1970 nahm Kuba eine Vorreiterrolle innerhalb des trinkontinentalen Zusammenschlusses der marginalisierten Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ein. In der zweiten Etappe, die Unfried von ca. 1975 bis 1990 ansetzte, wurde die kubanische internationalistische Praxis in das sozialistische Weltsystem und die damit einhergehende Arbeitsteilung integriert. Für diese Phase konstatierte Unfried ein dichtes Netz an Beratern, Spezialisten und Arbeitskräften von und nach Kuba, mit Schwerpunkten in Angola, im ersten Fall, und auf der Isla de la Juventud, im zweiten. Eine dritte, bis heute andauernde, Etappe begann nach Unfried ab 1990. In dieser Phase exportierte Kuba Dienstleistungen an andere Länder zum „beiderseitigen Nutzen“ und leistete humanitäre Nothilfe. In Gesamtzusammenhang einer „Globalgeschichte der Internationalismen“ hält Unfried den „Kubanischen Internationalismus“ mit den europäisch-sozialistischen Praxen der „internationalen Solidarität“ und der „Sozialistischen Hilfe“ für vergleichbar. Das sich selbst als „unterentwickelt“ verstehende Kuba gestaltete einen eigenen „kubanischen Zyklus der sozialistischen Entwicklung“, der darauf abzielte, die marginalisierten Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in den weltgeschichtlichen Prozess zu integrieren.

Fallbeispiele "internationalistischer" Personalentsendungen, nämlich die Brigaden prä-graduierter jugendlicher kubanischer Lehrkräfte (destacamentos internacionalistas) nach Angola und Nicaragua waren Gegenstand der Beiträge von NANCY JIMÉNEZ RODRÍGUEZ (Havanna), Autorin eines Buchs zum Thema, sowie der Erfahrungsberichte von RAMÓN CUÉTARA LÓPEZ (Universidad de Ciencias Pedagógicas Enrique José Varona, Havanna) und REINALDO GUIDO CASTAÑO SPENGLERT (Havanna).

Während des Forschungsgesprächs wurde das immense Interesse der kubanischen Forschergemeinde an bildungsgeschichtlichen Fragen offenkundig. Wiederholt wurde der Anspruch formuliert, die Geschichte der kubanischen Revolution in stärkerem Maße als einen in Widersprüchen verlaufenden Prozess zu begreifen. Die Tagung konnte auch das kubanische Interesse an den internationalen Verflechtungen der kubanischen Revolution stimulieren, was möglicherweise in zukünftigen Forschungen zu einer stärkeren Berücksichtigung globalgeschichtlicher Ansätze führen wird. Institutsleiter González Barrios kündigte die bevorstehende Gründung eines e-journals unter dem Namen "República Universal" an, mit dem aktuelle Forschungsergebnisse aus Kuba der internationalen Forschergemeinde zugänglich gemacht werden sollen. Geht man davon aus, dass den "Süd-Süd"-Beziehungen nicht nur in den bildungsgeschichtlichen Debatten ein besonderer Stellenwert zukommt, dann könnte Kuba, so lassen die intensiven Debatten des Forschungsgesprächs hoffen, von einem Ort ihrer Realisierung zu einem Kristallisationspunkt auch ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung werden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

René González Barrios (Instituto de Historia de Cuba, Havanna) / Berthold Unfried (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien)

Einführung

René González Barrios (Instituto de Historia de Cuba, Havanna): El internacionalismo como elemento genuino de la Revolución Cubana / Der Internationalismus als genuiner Bestandteil der kubanischen Revolution

Yoel Cordoví Núñez (Instituto de Historia de Cuba, Havanna): La historia de la educación en la etapa de la Revolución: perspectivas historiográficas / Die Geschichte der Bildung in der Zeit der Revolution: Historiographische Perspektiven

Sitzung 1: Zielsetzungen und Einflüsse der Bildung innerhalb der Revolution

Felipe Pérez Cruz (Universidad de Ciencias Pedagógicas Enrique José Varona, Havanna): Historia de la colaboración educacional en la Revolución Cubana / Die Geschichte der Bildungszusammenarbeit in der kubanischen Revolution

Luisa Manuela Martínez O Farril und Johanes Romero de Armas (Universidad de Ciencias Pedagógicas Enrique José Varona, Havanna): Importancia de los estudios sobre la historia de la Educación en la Revolución / Die Bedeutung der Erforschung der Bildungsgeschichte der Revolution

Sitzung 2: Transferencias hacia y desde Cuba. La década del 60 (Transfers von und nach Kuba in den 1960er Jahren)

Luisa Yara Campos Gallardo (Museo Nacional de Alfabetización, Havanna): La solidaridad internacional recibida en la Campaña de la Alfabetización / Die in der Alphabetisierungskampagne erhaltene Internationale Solidarität

Eugenia Palomares Ferrales (Havanna): Contribución de Celia Sánchez Manduley a la educación internacionalista en Cuba: La Escuela José Martí / Der Beitrag von Celia Sánchez Manduley zur internationalistischen Bildung in Kuba am Beispiel der Escuela José Martí

Tobias Kriele (Mainz): Intereses y transferencias en la colaboración entre Cuba y la RDA en el campo de la educación superior en los años 60 / Interessen und Transfers zwischen Kuba und der DDR im Bereich der Hochschulbildung in den 1960er Jahren

Sitzung 3: Die 1970er und 1980er Jahre. Export eines Modells?

Gilberto García Batista (Asociación de Pedagogos de Cuba, Havanna): Vínculos internacionales en la formación de educadores en cuba. 1976-1990 / Internationale Verbindungen in der Lehrerausbildung zwischen 1976 und 1990 in Kuba

Juan Miguel Pantaleón Fundora (Havanna): La Isla de la Juventud en la obra internacionalista de la Revolución / Die Jugendinsel im Zusammenhang des internationalistischen Werks der Revolution

Dayana Murguia Méndez (Instituto de Historia de Cuba, Havanna): Las becas solidarias en la Isla de la Juventud / Solidarstipendien auf der Jugendinsel

Sitzung 4: Internationale Brigaden: Zusammenarbeit mit Angola und Nikaragua

Nancy Jiménez Rodríguez (Havanna): Los destacamentos internacionalistas en Angola y en Nicaragua / Internationale Brigaden in Angola und Nikaragua

Ramón Cuétara López (Universidad de Ciencias Pedagógicas Enrique José Varona, Havanna): El Destacamento Pedagógico Internacionalista Comandante Ernesto Guevara: muestra del internacionalismo cubano, 1978–1984 / Die Internationalistische Pädagogische Brigade Ernesto Guevara: Zeichen des kubanischen Internationalismus, 1978–1984

Reinaldo Guido Castaño Spenglert (Havanna): La misión educacional de Cuba en la costa caribeña de Nicaragua: una visión de un protagonista / Die kubanische Bildungsmission an der Karibikküste von Nikaragua: Der Blick eines Protagonisten

Berthold Unfried (Universität Wien): Etapas del “Internacionalismo Cubano” / Phasen des „Kubanischen Internationalismus“

Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlusswort

Elvis R. Rodríguez, René González Barrios (Instituto de Historia de Cuba, Havanna)


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Spanisch
Sprache des Berichts