Wege in die digitale Gesellschaft. Computer und Gesellschaftswandel seit den 1950er Jahren

Wege in die digitale Gesellschaft. Computer und Gesellschaftswandel seit den 1950er Jahren

Organisatoren
Frank Bösch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.03.2017 - 31.03.2017
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Von
Marcel Schmeer, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Wir leben in einer Ära des Computers. Rechner prägen unseren Alltag und die zu Beginn der 1990er-Jahre aufkommende Vision eines „ubiquitious computing“ scheint sich zu bewahrheiten.1 Umso erstaunlicher ist es, dass sich die zeithistorische Forschung den Auswirkungen der Computerisierung auf Lebens- und Arbeitswelt bislang eher zögerlich zuwendet. Mit dem Aufbruch in die digitale Moderne ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog sich in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft(en) ein tiefgreifender Wandel, der Industrie-, Finanz- und Handelssektoren, öffentliche Verwaltung und Sicherheitsbehörden, Medien- und Wissenschaftsbetriebe ebenso erfasste wie die Freizeitgestaltung. Genügend Stoff also für eine ausführliche Bestandsaufnahme im Rahmen einer am 30. und 31. März 2017 am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ausgerichteten Tagung, die gleichsam den Abschluss eines dreijährigen Forschungsprojekts markierte. In sechs dichtgedrängten Sektionen rückten die Konferenzteilnehmer Fragen nach den Wechselwirkungen zwischen digitalen und sozialen Veränderungsprozessen in den Mittelpunkt.

Einführend rief FRANK BÖSCH (Potsdam) zur kritischen Reflexion der mit dem digitalen Wandel verknüpften Terminologie auf. Neben der verbreiteten Rhetorik einer „digitalen Revolution“ sei auch der Prozessbegriff der „Computerisierung“ auf immanente Teleologien zu hinterfragen. Bösch plädierte dafür, in Ergänzung zu technik-, medien- und diskursgeschichtlichen Studien die Sozial- und Alltagsgeschichte des Übergangs in die „Computergesellschaft“ stärker zu thematisieren. Die Berücksichtigung der Nutzung von Computern eröffne dabei auch neue übergeordnete Perspektiven: Welchen Einfluss hatte die Computerisierung auf staatliche Planungs- und Machbarkeitsphantasien? Welche neuen Handlungszwänge und Probleme erwuchsen aus ihr? Inwiefern stellte sie etablierte Ordnungen und Hierarchien in Frage?

Dieser Rahmensetzung folgend warf DAVID GUGERLI (Zürich) in seinem Eröffnungsvortrag die Frage auf, wie „die Welt in den Computer kam“ und spürte der Etablierung eines digitalen Raums zwischen 1950 und 1990 nach. Entgegen der verbreiteten Revolutionsmetaphorik sei die Computereinführung keine „Segnung aus heiterem Himmel“ gewesen, sondern ein Bündel langwieriger, mühseliger und häufig konfliktbeladener Prozesse, an denen eine Vielzahl an Akteuren mit widerstreitenden Interessen mitgewirkt habe. Im Verlauf der Computerisierung hätten institutionelle Binnenlogiken unter großen Übersetzungsmühen neuformatiert werden müssen. Eine solche Erzählung dürfe nicht den (selbst-)stilisierenden Narrativen genialischer Erfinder auf den Leim gehen und eine reibungslose Fortschrittsgeschichte schreiben. Das Verhältnis von Computer und Gesellschaft ernst zu nehmen hieße vielmehr, den Fokus auf die Geschichte seiner konkreten Nutzbarmachung zu verschieben.

Die erste Sektion „Digitale Kontrolle und Vernetzung“ berührte einen der umstrittensten Bereiche staatlicher Computernutzung und rückte Praktiken der Überwachung und Vernetzung in Sicherheitsbehörden in den Mittelpunkt. CONSTANTIN GOSCHLER (Bochum) stellte Überlegungen zu einem vergleichenden Forschungsprojekt zur Geschichte von Datenverbundsystemen in deutschen und US-amerikanischen Nachrichtendiensten zur Diskussion. Im Spannungsfeld von Sicherheit, Demokratie und Transparenz hätten sowohl der Verfassungsschutz als auch die CIA mit der Einführung von Computern und Datenbankverbünden vor dem Hintergrund neuer Bedrohungskonstellationen eine Transparenzierung „der“ Gesellschaft angestrebt. Diese neuartigen technischen Kontrolloptionen hätten ihrerseits Visibilisierungsansprüche einer zunehmend staatskritischen Zivilgesellschaft zur Folge gehabt, die sich in Forderungen nach Kontrolle der Nachrichtendienste sowie Datenschutz kanalisiert hätten. An diese Überlegungen anknüpfend referierte RÜDIGER BERGIEN (Potsdam) über die Computerisierung westdeutscher Sicherheitsbehörden und der DDR-Staatssicherheit. Deren Vernetzung könne als Reaktion auf sowie als Ursache von neuen Unsicherheiten beschrieben werden. Eine (selten kompatible) dezentral organisierte EDV-Einführung habe dabei nicht nur eine Beschleunigung der Informationsverarbeitung mit sich gebracht; grundlegend hätten sich durch sie auch interne Hierarchien und Wissensordnungen gewandelt. Gleichfalls habe eine Vernetzung aber auch auf nicht intendierten, informellen Wegen stattgefunden, die Bergien als Anzeichen eines tiefgreifenden Wandels der kommunikativen Strukturen der inneren Sicherheit deutete. In seinem Kommentar betonte KLAUS-DIETMAR HENKE (Berlin) die große Ernüchterung, die mit der anfangs mit euphorischen Erwartungshaltungen vorangetriebenen Computerisierung einherging. Die ertragreiche Verknüpfung von Computer- und Nachrichtendienstgeschichte biete großes Potential sowohl zur Erforschung der Selbstverständigungen staatlicher Sicherheitsakteure als auch deren Verhältnis zu gesellschaftlichen Euphorie- und Angstprojektionen.

Auch das zweite Panel „Sicherheitsstrukturen“ befasste sich mit dem Zusammenhang von Digitalisierung, Organisationswandel und Sicherheits- bzw. Verteidigungskulturen. Am Beispiel der Rasterfahndung warf HANNES MANGOLD (Zürich) die Frage auf, wie technische, soziale und epistemische Faktoren zusammenwirkten, um innerhalb der westdeutschen Polizei und Gesellschaft das Wissen über Staat, Kontrolle und Sicherheit zu verändern. Computer hätten seit Ende der 1960er-Jahre die Kriminalarbeit einem fundamentalen Wandlungsprozess unterzogen und sich zu unverzichtbaren Instrumenten der Sicherheitsproduktion entwickelt. Digitale Suchalgorithmen hätten die Utopie präventiver Verbrechens- und Konspirationsbekämpfung scheinbar Wirklichkeit werden lassen, wofür die Rasterfahndung der 1980er-Jahre sinnbildlich stehe. Paradoxerweise sei allerdings um 1980 Sicherheit nicht mehr allein durch die Jagd auf Kriminelle und Terroristen hergestellt worden; im Zuge zivilgesellschaftlicher Überwachungsangst- und Datenschutzdebatten sei ebenso die Zähmung der als datenhungriger „Leviathan“ wahrgenommenen Sicherheitsdienste angestrebt worden. JANINE FUNKE (Potsdam) nahm sich der EDV-Einführung im deutschen Militär an und ging der Frage nach, ob die Computerisierung wie im US-amerikanischen Fall eine „revolutionäre“ Umwälzung alltäglicher Praxis in Bundeswehr bzw. NVA zur Folge hatte. Mit Beginn der 1960er-Jahre sei die Einführung computergestützter Führungs- und Waffensysteme in der Bundeswehr vorangetrieben worden, die von einer starken technologischen Abhängigkeit von den USA geprägt gewesen sei. Auch die NVA habe zunehmend Computer eingesetzt, sei aber technologisch ins Hintertreffen geraten. Im Gegensatz zu den USA sei die Computerisierung der Streitkräfte nur dezentral und schleppend vorangekommen; von einer „Revolution“ militärischer Praxis könne nicht gesprochen werden. KLAUS WEINHAUER (Bielefeld) rückte in seinem Kommentar allgemeinere Aspekte zur Computerisierungsgeschichte in den Fokus. Entgegen der üblichen zeitgeschichtlichen Zäsurdebatte solle die EDV-Einführung vielmehr in längerfristige temporale Strukturen eingeordnet werden. Die in den 1980er-Jahren vorangeschrittene Computerisierung markiere so die endgültige Abkehr des seit dem 19. Jahrhundert kultivierten Glaubens an die gesellschaftsordnende Kraft (national-)staatlicher und wirtschaftlicher Akteure. Methodisch regte Weinhauer aus Sicht der Organisationsforschung an, sich vom abstrakten Wahrnehmungsmodus des „seeing like a state“ (James C. Scott) zu verabschieden. Vielmehr solle der Blick geschärft werden für Mikrokontexte und Grauzonen innerhalb von Organisationen.

Die dritte Sektion hatte die „Digitalisierung des Verwaltungshandelns“ zum Thema. Mit Blick auf den Computereinsatz im Gesundheitssektor beschäftigte sich LAWRENCE FROHMAN (New York) mit den Debatten um das 1988 verabschiedete Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen. Mit der EDV hätten Krankenkassen und Gesundheitsbürokraten Hoffnungen zur Kostendämpfung verknüpft. Durch die Speicherung und Verarbeitung personen- und leistungsbezogener Daten sollte auf (Fehl-)Verhalten von Leistungserbringern und Patienten eingewirkt werden. Vor dem Hintergrund der wachsenden Sensibilität in Datenschutzfragen und der Angst vor dem „gläsernen Patienten“ sei dieses Rationalisierungsprojekt im finalen Gesetzesentwurf jedoch nicht umgesetzt worden. Eine weniger umstrittene Initiative stand im Mittelpunkt des Vortrags von THOMAS KASPER (Potsdam), der den Einfluss der EDV auf die bundesdeutsche Rentenreform von 1972 untersuchte. Während Computer als Rationalisierungsinstrument zunächst 1957 die Einführung dynamisierter Altersrenten erheblich erleichtert hätten, hätten sie in den 1960er-Jahren auch zu einer „Demokratisierung“ beigetragen. Durch die Einrichtung von Versicherungsnummern und -konten sei erstmals ein Überblick über individuelle Erwerbsbiographien und flexible Renteneintritte möglich geworden. Computer hätten somit entscheidend dazu beigetragen, „Licht ins Rentendunkel“ zu bringen. PAUL ERKER (München) stellte Ergebnisse eines Forschungsprojekts zur Geschichte der Münchener Stadtwerke vor. Die kommunale Verwaltung habe in Bezug auf die Computerisierung eine Vorreiterrolle eingenommen, die sich zunächst auf die Rationalisierung des Abrechnungswesens beschränkt, später jedoch die Transformation der Stadtwerke zu einem Versorgerkonzern vorangebracht habe. Der Aufbruch in die digitale Verwaltungswelt habe sich dabei zwar evolutionär, aber keineswegs linear oder reibungslos vollzogen und häufig nichtintendierte Folgen gezeitigt. WINFRIED SÜSS (Potsdam) warf in seinem Kommentar die Frage auf, inwiefern und wie stark die Computerisierung expansive wie eindämmende Reformansätze im Verwaltungswesen beeinflusst habe. Erstens müsse die Ebene der Entscheider und die Rolle von (IT-)Expertenwissen stärker akzentuiert werden. Zweitens sei nach der Entstehung neuer Wissensmärkte und deren Auswirkung auf klassisches Verwaltungshandeln zu fragen. Schließlich sollte drittens mit Blick auf eine spezifische Temporalität der Computerisierung die Eigenzeitlichkeit digitaler Entwicklungsprozesse analysiert werden.

Den Ausklang des ersten Konferenztages bildete der Abendvortrag von MARTINA HESSLER (Hamburg), der die Ambivalenzen der Digitalisierung des Schachspiels seit den 1970er-Jahren zum Thema hatte. Heßler rückte die Interpretationen, Diskurse und Praktiken der (Computer-)Schachszene und der Medien in den Mittelpunkt und fragte danach, welche Mensch-Maschine-Verhältnisse hier diskutiert wurden. Habe man Computer zunächst als „Fischdosen“ zum Erlernen des Schachspiels betrachtet, hätten zunehmende Rechenleistung und der im Jahr 1997 medial inszenierte Sieg des IBM-Schachcomputers „Deep Blue“ über Weltmeister Garri Kasparow zu Diskussionen über die vermeintliche Überlegenheit der Maschine geführt. Insgesamt sensibilisierte Heßlers Vortrag dafür, der wechselseitigen Beeinflussung von Mensch und Maschine als einer Leitfrage der Computergeschichte größere Bedeutung beizumessen.

Den Auftakt des vierten Panels zur „Digitalisierung der Finanzwirtschaft“ machte MARTIN SCHMITT (Potsdam), der den Einsatz von Computertechnologie in der Finanzwirtschaft am Beispiel der Sparkassen in Ost und West untersuchte. Diese hätten als „Prozessoren“ der Computerisierung ihre Alltagsroutinen seit den 1950er-Jahren zunehmend in den Computer verlagert, der rasch zum Problemlöser für das expandierende Massengeschäft avanciert sei. Gleichermaßen habe die Digitalisierung eine verstärkte vertikale Vernetzung von Abteilungen, Filialen und Daten zur Folge gehabt. Der Computereinsatz sei einhergegangen mit einer massiven Funktionserweiterung der Sparkassen, die damit zu „Proto-Orten“ des digitalen Zeitalters und Schnittstellen zwischen Kreditwirtschaft, Mensch und Maschine aufgestiegen seien. SEBASTIAN GIESSMANN (Siegen) präsentierte aus der Perspektive einer praxeologisch motivierten Mediengeschichte der Kreditkarte die Aushandlungsprozesse über die Einführung der Eurocard seit 1977 als spezifisch europäische Antwort auf die „Zweiteilung der Welt“ zwischen VISA und MasterCard. Medienpraktiken der Koordination, Delegation sowie der Registrierung und Identifikation hätten dabei in techno-ökonomischen Verfahren digital vernetzter Finanzbuchhaltung zusammengewirkt. Die Computerisierung habe eine europäische Zusammenarbeit in der Kreditwirtschaft ermöglicht, in der nationale Unterschiede überbrückt werden sollten; die Einführung des Euro sei demnach auch digital präformiert worden. CHRISTIAN HEINRICH-FRANKE (Siegen) adressierte in seinem Kommentar die Frage nach einer Periodisierung der Computerisierungsgeschichte. Dabei müsse der Frage mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden, ob von der Computereinführung oder deren Vernetzung gesprochen werde; letzteres müsste stärker mit der Geschichte des Telefons verknüpft werden. Verbunden sei damit auch die Frage, was zu welcher Zeit und in welchem Umfang als Computer(-netz) wahrgenommen worden sei.

Im Mittelpunkt der fünften Sektion stand der Zusammenhang zwischen Computern und dem Wandel von Industriearbeit. MICHAEL HOMBERG (Köln) spürte der Veränderung des Berufsbilds des Computerspezialisten in der IT-Industrie seit den 1960er-Jahren nach. Mit der Etablierung der Informatik an den Hochschulen und Universitäten sei der Abschied von „Autodidakten, Bastlern und Quereinsteigern“ eingeläutet worden. Im „goldenen Zeitalter“ der Informatik während der langen Siebzigerjahre habe die praxisorientierte Branche lange von glänzenden Beschäftigungsaussichten profitiert, wenngleich erste Krisenerfahrungen in der Zeit „nach dem Boom“ auch die Computerindustrie nicht verschont hätten. Deren elitäres Selbstverständnis sei einer Angst vor dem „EDV-Proletariat“ gewichen, die erst mit dem von Start-ups und digital natives vorangetriebenen Dotcom-Hype seit Mitte der 1990er-Jahre überlagert worden sei. Den Blick auf (vermeintliche) Verlierer der Computereinführung richtete KIM PRIEMEL (Oslo), der deren Auswirkungen auf die industriellen Arbeitsbeziehungen am Beispiel der Druckindustrien in den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik behandelte. Entgegen eines verbreiteten Niedergangsnarrativs, wonach die Druckgewerkschaften von Medienkonzernen, neoliberalem Politikumschwung und technologischem Wandel in die Knie gezwungen worden seien, rückte Priemel die vielfältigen Aushandlungsprozesse und (affirmativen) Technikwahrnehmungen in den Mittelpunkt, welche die Transformation der Branche seit den 1960er-Jahren begleitet hätten. Als „multiple Innovation“ sei der Computer in eine längere Kontinuitätslinie der Automation einzuordnen, habe aber auch eine neuartige Virtualisierung und Entspezialisierung des Druckerhandwerks vorangetrieben. Vor dem Hintergrund dieses tiefgreifenden Wandels von Berufsbildern und Produktionstechniken seien Handlungsspielräume der Gewerkschaften kontinuierlich geschrumpft. ANNETTE SCHUHMANN (Potsdam) betonte in ihrem Kommentar die Bedeutung sozio-technologischer Bedingungen bei der Einführung technischer Innovationen in der Industrie. Diese seien nur selten aus Gründen der bloßen Machbarkeit umgesetzt worden, sondern von vielfältigen Faktoren wie Kosten, nötigem Fachwissen oder der Macht der Gewerkschaften abhängig gewesen. Insbesondere die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Informatiker, deren Zahl auch in klassischen Industriezweigen im Zuge der Computerisierung stark zugenommen habe, solle stärkere Berücksichtigung finden. Ebenso müsse dem Bedeutungszugewinn von Betriebs- und Unternehmensberatern und ihrer Rolle bei der Computerimplementierung nachgegangen werden.

Das abschließende Panel nahm sich der Computerisierung „von unten“ an und thematisierte Computer(sub)kulturen und dort kultivierte alternative Praktiken der Aneignung im geteilten Deutschland. JULIA ERDOGAN (Potsdam) sprach über Aspekte der Vernetzung einer sich herausbildenden Hackerkultur in beiden deutschen Staaten seit den 1980er-Jahren. Über das „Bindeglied“ Computer hätten sich Interessierte zu einer spezifischen Subkultur zusammengeschlossen. Die Leidenschaft für Rechnertechnik und das Programmieren sei dabei verbunden gewesen mit einem gesamtgesellschaftlichen Anspruch, wie ihn die Akteure des Chaos Computer Clubs vertraten: Hacker seien nicht nur durch das medienwirksame Eindringen in fremde Systeme ins Rampenlicht getreten, sondern hätten die „Blackbox“ Computer durch gesellschaftliche Aufklärung ausgeleuchtet und somit einen Beitrag zu kritischen Formen von Computerverständnis geleistet. MATTHIAS RÖHR (Hamburg) warf ein Schlaglicht auf den Konflikt zwischen der westdeutschen Bundespost und Vertretern der „Mailboxszene“ über die Frage der Nutzung von (privaten) Modems als Schnittstelle zwischen Telefonnetz und Computern. In dieser Auseinandersetzung hätten sich zwei Sichtweisen auf den Wandel der Telekommunikation seit den 1970er-Jahren diametral gegenübergestanden: Während die Bundespost zur Aufrechterhaltung ihres Fernmeldemonopols den Zugang zum Telefonnetz restriktiv zu regulieren suchte, sei die Mailboxszene technisch-subversiv gegen diese als Einschränkung der Freiheit bzw. eines (Menschen-)Rechts auf Kommunikation wahrgenommene Verknappung vorgegangen. Eine gleichermaßen mythenumrankte Computersubkultur stand im Mittelpunkt des Vortrags von GLEB ALBERT (Zürich). Albert beschrieb die Heimcomputerisierung der 1980er-Jahre als globale, diachron verlaufende Entwicklung, die stets auch von alternativen Durchsetzungsformen geprägt worden sei. Als einflussreiche Akteure innerhalb dieses Prozesses seien die Mitglieder der „Crackerszene“ zu nennen, die in großem Stil Kopierschutzmechanismen überwanden und Software weiterverbreiteten. Diese sowohl lokal als auch transnational vernetzte Subkultur habe alternative ökonomische sowie kulturelle Praktiken inkorporiert – etwa die Etablierung informeller (Schwarz-)Märkte für Software oder deren symbolische Inbesitznahme durch eigene crack intros. JÜRGEN DANYEL (Potsdam) plädierte in seinem Kommentar für eine tiefergehende, komparative Alltags- und Erfahrungsgeschichte der Computerisierung. Mit Blick auf Computersubkulturen sei die Aufmerksamkeit noch stärker auf dort kultivierte Hierarchien, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster zu richten. Vielfach hätten die „Szenen“ Entwicklungen vorausgegriffen, was Danyel zum Anlass nahm, für die eigenen Zeitregime innerhalb dieser Gruppen zu sensibilisieren.

Die Abschlussdiskussion wurde durch zwei Impulsreferate von ULF HASHAGEN (München) und AXEL SCHILDT (Hamburg) eingeleitet. In der Frage, ob die Computerisierung eher revolutionäre oder evolutionäre Züge aufweise, plädierte Hashagen für die Berücksichtigung einer longue durée der Digitalgeschichte, in die das computing before computers stärker miteinbezogen werden müsse. Er monierte ferner, dass vielfach eine Gegenwartsvorstellung davon, was „den“ Computer ausmache, unterhinterfragt in die Vergangenheit projiziert werde. Schließlich sollten Historiker weiterhin nach nationalen Pfadabhängigkeiten und transnationalen Verflechtungen fragen, wobei Hashagen für einen kritischen Blick auf die „Kolonisierung“ durch den Computer warb. Axel Schildt unterstrich abschließend die Relevanz des zeithistorischen Forschungsfeldes, mahnte aber stärkere Übersetzungsbemühungen bei der Übertragung der Terminologie in die Kategorien der allgemeinen Geschichtswissenschaft an. Anknüpfend an übergeordnete Fragestellungen könne dem Einfluss der Computerisierung auf den Wandel von Menschenbildern nachgegangen werden. Auch der enggeführte Begriff des Computer-Nutzers müsse stärker hinterfragt werden, da die Digitalisierung schließlich die Lebenswelt(en) aller Zeitgenossen verändert habe, was Fragen nach spezifischen Generations- und Geschlechtererfahrungen aufwerfe. Zuletzt sei die bisherige Forschung kritischer auf die Potenziale einer „Problemgeschichte der Gegenwart“ zu befragen, die auch die weitaus stärker in die Gegenwart hineinwirkende jüngste Zeitgeschichte seit der Etablierung des Internets umfassen müsse.

Wie also kam der Computer in die deutschen Gesellschaften? Und wie wurden jeweils gültige (Um-)Weltdeutungen, Denkmuster und Organisationslogiken in die Rechner eingespeist? Es bleibt festzuhalten, dass die Computerisierung sich in einer Vielzahl diachroner und ambivalent verlaufender Prozesse von sowohl revolutionärer als auch evolutionärer Qualität vollzog. Die Tagung offenbarte mehrere Spannungslinien und übergeordnete Fragekomplexe: So war der Computer eine zutiefst janusköpfige Innovation, deren zeitgenössische Wahrnehmungen zwischen politischen, ökonomischen wie emanzipatorisch-kulturellen Chancen, aber auch existenziellen Bedrohungen changierten. Je nach Sichtweise beförderte die Computerimplementierung umfassende Transparenzierungsansprüche bzw. Überwachungskompetenzen des Staates, denen Forderungen nach Datenschutz und „informationeller Selbstbestimmung“ gegenübergestellt wurden. Computer veränderten darüber hinaus etablierte Wissensordnungen und organisationale Binnenlogiken; sie irritierten und überwarfen althergebrachte Hierarchien und ließen neue Expertenkulturen und epistemische Systeme entstehen. Anfängliche Technikeuphorie konnte dabei im Laufe der Zeit in Ernüchterung umschlagen. Kurzum: Der Übertritt in die digitale Gesellschaft erzeugte „Kopfschmerzen“ (David Gugerli), die Historiker nur dann deuten können, wenn sie weiterhin versuchen, den Computer zu verstehen. Die Potsdamer Konferenz sollte also keineswegs als Abschlussveranstaltung, sondern als inspirierender Impuls für weitere Forschungen in diesem zeithistorischen „Neuland“ betrachtet werden.

Konferenzübersicht:

Zeithistorische Perspektiven auf die Computerisierung:
Moderation: Jürgen Danyel (Potsdam)

Frank Bösch (Potsdam): Computer und Gesellschaftswandel im geteilten Deutschland
David Gugerli (Zürich): Wie die Welt in den Computer kam

Digitale Kontrolle und Vernetzung:
Moderation: Gerhard Sälter (Berlin)

Constantin Goschler (Bochum): Sicherheit, Demokratie und Transparenz. NADIS, HYDRA und die Anfänge der elektronischen Datenverbundsysteme in der BRD und den USA
Rüdiger Bergien (Potsdam): Totale Erfassung durch Vernetzung? Informationsverbünde zwischen (Geheim )Polizei und Verwaltung in der Bundesrepublik und DDR, 1970–1990
Kommentar: Klaus-Dietmar Henke (Berlin)

Sicherheitsstrukturen
Moderation: Debora Gerstenberger (Berlin)

Hannes Mangold (Zürich): Kontrolle und Konspiration. Zur soziotechnischen Transformation der Sicherheit im digitalen Wandel
Janine Funke (Potsdam): "Revolution of Military Affairs?" – Elektronische Datenverarbeitung im deutschen Militär der 1960er/1970er Jahre
Kommentar: Klaus Weinhauer (Bielefeld)

Die Digitalisierung des Verwaltungshandelns:
Moderation/Kommentar: Winfried Süß (Potsdam)

Lawrence Frohman (New York): Wirtschaftlichkeit, Transparenz, und Kontrolle: Die Computerisierung im Gesundheitswesen zwischen Kostenexplosion und Arzt-Patient (Fehl-)Verhalten
Thomas Kasper (Potsdam): „Licht im Rentendunkel“. Der Einfluss der elektronischen Datenverarbeitung auf die bundesdeutsche Rentenreform von 1972
Paul Erker (München): Digitalisierung in der kommunalen Versorgung: Die Stadtwerke München
Abendvortrag:
Martina Hessler (Hamburg): Fischdose, Monster, Gegner und Freund. Ambivalenzen der digitalen Schachkultur seit den 1970er Jahren

Die Digitalisierung der Finanzwirtschaft:
Moderation: Ralf Ahrens (Potsdam)

Martin Schmitt (Potsdam): Vernetzung. Elektronische Zahlungsverkehrsnetzwerke in den Sparkassen der BRD und der DDR, 1975–1989
Sebastian Gießmann (Siegen): Eine Kreditkarte für Europa? Der Fall der EUROCARD, 1977–1985
Kommentar: Christian Henrich-Franke (Siegen)

Computer und der Wandel der Industriearbeit:
Moderation/Kommentar: Annette Schuhmann (Potsdam)

Michael Homberg (Köln): Die „Revolution“ und ihre Kinder. Arbeiten in der IT-Industrie
Kim Priemel (Oslo): “The Empire Strikes Back”? Der Computer als multiple Innovation und die industriellen Arbeitsbeziehungen in der Druckindustrie

Computerkulturen als Netzwerke und soziale Bewegung:
Moderation/Kommentar: Jürgen Danyel (Potsdam)

Julia Erdogan (Potsdam): Technologie, die verbindet. Die Entstehung von Hackerkulturen in Deutschland
Matthias Röhr (Hamburg): Pioniere digitaler Kommunikation: Die Mailbox-Szene und die Deutsche Bundespost in den 1980er Jahren
Gleb Albert (Zürich): Cracker, Softwarepiraten und neue Märkte: Die Globalisierung einer Subkultur, 1985-1995

Abschlussdiskussion/Impulsreferate:

Ulf Hashagen (München)
Axel Schildt (Hamburg)

Anmerkung:
1 Der US-Informatiker Mark Weiser prägte den Begriff des „ubiquitious computing” (dt. „Rechnerallgegenwart“) in einem Aufsatz, der auch über die Disziplingrenzen hinweg Wirkung entfaltete: Mark Weiser, The Computer for the 21st Century, in: Scientific American, September 1991, URL: http://www.ubiq.com/hypertext/weiser/SciAmDraft3.html (31.05.2017).


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