Die frühe Historisierung der Reformation. Reformation und Reformatoren in Biographien, Enzyklopädien und Geschichtsschreibung des späten 16., 17. und 18. Jahrhunderts

Die frühe Historisierung der Reformation. Reformation und Reformatoren in Biographien, Enzyklopädien und Geschichtsschreibung des späten 16., 17. und 18. Jahrhunderts

Organisatoren
Irene Dingel / Luise Schorn-Schütte, Historisches Kolleg im Forschungskolleg Humanwissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
Bad Homburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.03.2017 - 03.03.2017
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Von
Ellinor Schweighöfer, Forschungskolleg Humanwissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Die Tagung zur „frühen Historisierung der Reformation“ fand im Rahmen des Fellowships von Irene Dingel (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz) am Historischen Kolleg im Forschungskolleg Humanwissenschaften statt. Fellowship und Tagung waren Teil des von Luise Schorn-Schütte (Goethe-Universität Frankfurt am Main) verantworteten Themenschwerpunktes „Reformationen – Kontinuitäten und Brüche“. Die der Tagung zugrundeliegende Arbeitshypothese lautete, dass die Historisierung der reformatorischen Prozesse in Europa und der historisierende Blick auf die großen Reformatoren sowie die damit verbundene Wissensproduktion bereits im Reformationszeitalter einsetzte, teils widersprüchlich verlief und unterschiedliche Akzente setzte. Diese frühen Historisierungen – so die These – prägen den Blick auf die Reformation und ihre unterschiedlichen Deutungen bis heute. Ziel der Veranstaltung war es, unterschiedliche literarische Genres und Quellengattungen einbeziehend, Licht auf die Art und Weise der Wissensgenerierung über die Reformation zu werfen. Im Blickpunkt standen etwa die dabei zum Tragen kommenden Selektionsmechanismen oder die Frage nach der Dauerhaftigkeit der generierten Bilder sowie danach, wie weit bis heute immer noch gern reproduzierte Deutungen und Charakterisierungen als Produkte dieser frühen Historisierung der Reformation erkannt und u.U. als Klischeebildungen entlarvt werden können.

Als Ergebnis konnten verschiedene, von Quellengattung und Kontext teils unabhängige, Formen und Funktionen der Historisierung identifiziert werden. WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Marburg) legte dar, dass erste reformatorische „Selbsthistorisierungen“ sozusagen zwangsläufig einsetzten: Vor dem Hintergrund des Konfliktes mit der Papstkirche diente der Verweis auf Tradition und Geschichte sowie die Einordnung in ein historisches Kontinuum der Legitimierung des eigenen Standpunkts. Man prägte das Narrativ von den historischen Vorläufern der Reformation und neutralisierte auf diese Weise den Vorwurf, eine neue Lehre aufzubringen. Auf diese Weise schrieb sich die Reformation von Anfang an in eine umfassende Gesamtdeutung der Geschichte ein und stellte sich in das für die „wahre Kirche“ kennzeichnende historische Kontinuum. Mit der Zeit rückte die Frage nach den „Vorreformatoren“ immer weiter ins Zentrum, auch um – in Kontrast zu diesen – die historische Leistung der Reformation zu betonen. Ein damit verwandtes und weiteres die Historisierungsprozesse beeinflussendes Faktum war die zeitgenössische Kongruenz von Religionsgeschichte und säkularer Geschichte. Dies konnte MACIEJ PTASZYŃSKY (Warschau) am Beispiel des Werkes des preußischen Historikers Christoph Hartknoch (1644-1687) über die Pommersche Stadt Thorn aufzeigen. Hartknoch vereinigte darin Stadtgeschichte und Reformationsgeschichte, so dass die Geschichte der Stadt in eine übergreifende Erzählung von der Entfaltung und der Etablierung der Reformation eingezeichnet wurde. Zwei weitere Befunde sind im Kontext Thorns bemerkenswert: Hartknochs Schrift und in einigen Aspekten vergleichbare Werke (z.B. des Thorner Chronisten Jakob Heinrich Zernecke, 1672-1741) gaben in ihrer Geschichtsschreibung Elementen der Volksfrömmigkeit – mit Erzählungen über angebliche Blutstropfen an einem Bildnis Luthers oder der Unzerstörbarkeit von Lutherbildern – einen Platz im Gelehrtendiskurs. Dabei übernahmen sie solche „Wundergeschichten“ relativ unkritisch. Dies lässt sich auf den Mangel an regionalen Bezugswerken zurückführen und zeigt eine allmähliche Überhöhung bzw. Glorifizierung des Reformators im einfachen Volk. Wie sehr äußere Faktoren die Reformations-Historiographie beeinflussten, machte auch CHISTOPHER VOIGT-GOY (Mainz) deutlich. Am Beispiel des englischen Schriftstellers John Foxe (1517-1587) lassen sich Einblicke in die wirtschaftlichen Rahmenbedingen erlangen sowie Rückschlüsse auf den Prozess der Textproduktion ziehen. Die Erstauflage von Foxes „Acts and Monuments of the Christian Church“ (weitläufiger bekannt unter der populären Bezeichnung „Foxe’s Book of Martyrs“) von 1563 ging auf Drängen des Druckers John Day bereits während des Editionsprozesses in Druck, was sich mit Blick auf Foxes Lutherbild etwa in einer gewissen konzeptuellen Konturlosigkeit der Beschreibung bemerkbar macht. Dennoch zeigt sich bei Foxe dann in der zweiten Auflage eine enger werdende konzeptionelle Verbindung Luthers mit der Reformation. Foxe, der sich selbst nicht als Lutheraner verstand, wirkte dadurch daran mit, die Vorstellung von der Reformation immer deutlicher an die Person Luthers und die mit Luther verbundene Artikulation theologischer Überzeugungen zu knüpfen. Die hervorgehobene Stellung Luthers im Historisierungsprozess lässt sich über Quellengattungen hinweg festmachen, wie im Zuge des Vortrages von CHARLOTTE METHUEN (Glasgow) sichtbar wurde: Darin präsentierte sie die 42 – ursprünglich 46, vier sind bei einer Renovierung im 19. Jahrhundert verschwunden – in der Brüdernkirche Braunschweig befindlichen Theologen-Porträts des Malers Reinhard Roggen aus dem Jahr 1597. Obwohl die porträtierten Personen aus ganz unterschiedlichen zeitlichen und theologischen Kontexten stammen, sind keine Unterschiede in ihrer Darstellung vorhanden. Am Ende dieses Bilderensembles stehen die lokalen Theologen, die ikonographisch sowie durch ihre Anordnung allesamt als Erben Luthers dargestellt sind. Damit wurde für die Betrachter und nicht zuletzt für die aus der Stadtgesellschaft stammenden Financiers der Gemälde eine Kontinuität von Glauben und Lehre von den Anfängen der frühen Christenheit über das Mittelalter und die Reformation bis in den eigenen Lebensbereich hinein geschaffen. Da das Bilderensemble zeitlich in der Alten Kirche, und zwar im ersten nachchristlichen Jahrhundert, ansetzt, lässt sich hier ebenfalls das – bereits im Vortrag von Wolf-Friedrich Schäufele aufgezeigte – Motiv der Einordnung in lange Traditionslinien, aber gewissermaßen auch die Nivellierung theologischer Unterschiede beobachten. Konfessionsübergreifende Elemente konnte JEAN-PASCAL GAY (Lovain) durch seine Analyse von Louis Maimbourgs (1610-1686) „Histoire du Luthéranisme“ (1680) und „Histoire du Calvinisme“ (1682) aufzeigen. Maimbourg war der erste französische Historiker, der eine Geschichte der Reformation aus katholischer Perspektive schrieb. Zwar versuchte er Repressionen gegen den Protestantismus historiographisch zu rechtfertigen, doch übte er auf vergleichbare Weise Kritik an Aspekten des Papsttums, wandte sich gegen den Jansenismus, eine sich auf Augustinus berufende katholische Erneuerungsbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, und lobte Luther bei den wenigen Gelegenheiten, an denen es ihm möglich erschien. Bemerkenswert ist jedoch vor allem, dass sich Maimbourg in eine transkonfessionelle „Republik von Historikern“ einschrieb. Katholische und protestantische Geschichtsschreiber zitierten einander über Konfessionsunterschiede hinweg, wenn es ihnen für ihre Argumentation dienlich war. In einer Quellengattung schien die Geschichte der Reformation wiederum keine oder kaum eine Rolle zu spielen. In den von NICOLE AMBROZUS (Erfurt) im Rahmen ihres Dissertationsprojektes untersuchten zahlreichen Schulbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts aus dem Raum Gotha findet sich nicht ein expliziter Satz dazu. Dagegen spielten Martin Luther und seine auf Wissensvermittlung ausgerichteten Schriften durchaus eine Rolle. So findet sich etwa der „Catechismus Lutheri“, das heißt der Kleine Katechismus, in Auszügen abgedruckt, Luthers Periodisierung der Welt diente im Rechenunterricht als Grundlage für Textaufgaben. Eine – sogar performative – Historisierung der Reformation lässt sich mit Blick auf das Schulwesen jedoch dennoch sichtbar machen, wie SUSANNE RAU (Erfurt) in einem Exkurs zum Raum Hamburg verdeutlichte. Anlässlich der Jubiläen 1617 und 1717 bezog die Hansestadt Schüler eng in die Feierlichkeiten ein. Die Quellen über die Darbietungen der Schulgemeinschaft zeigen abermals, dass die Person Luthers im Vordergrund stand, verknüpft mit der Ablehnung des Papsttums sowie Überlegungen dazu, wie Luthers Lehren in der Gegenwart umgesetzt würden.

Die dargestellten unterschiedlichen Beispiele aus unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Quellen konnten eine Anzahl übergreifender, meist mit einander verknüpfter Kategorien von Historisierung aufzeigen: die Einordnung der Reformation in historische Kontinuitäten als Legitimationsstrategie oder als Darstellung der Reformation als eigentliche Trägerin der Wahrheit; die Schaffung von Sukzessionslinien; der Umgang mit konfessionellen Gegnern zur Verteidigung eigener religionspolitischer Forderungen. Die Historisierung der Reformation zum primären Zweck der schulischen Wissensvermittlung allerdings setzte vergleichsweise spät, erst im Zuge von Jubiläen, ein. Obwohl Ausgangshypothesen der Tagung – vom frühen Einsetzen der Historisierung sowie den dadurch gesetzten unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Akzenten – belegt sowie Art und Weise der Wissensgenerierung über die Reformation beleuchtet werden konnten, blieben einige offene Fragen, die herausgearbeitet wurden: Gibt es bevorzugte Genres für die Historisierung der Reformation? Gibt es konfessionelle Unwuchten – etwas, das typisch für die ‚eine‘ oder ‚andere Seite‘ ist? Wird die Reformationsgeschichte dargestellt als die Geschichte eines oder mehrerer Helden oder vielleicht als Geschichte einer Bewegung? Wann spielen Faktoren jenseits religiöser Dogmen – etwa die Politik – eine Rolle? Und nicht zuletzt: Inwiefern ist es tatsächlich greifbar, dass die Historisierung der Reformation tatsächlich einer anderen Logik folgt als die Historisierung politischer Ereignisse?

Konferenzübersicht:

Irene Dingel (Bad Homburg / Mainz) / Luise Schorn-Schütte (Bad Homburg/Frankfurt am Main): Begrüßung

Henning P. Jürgens (Mainz) / Kestutis Daugirdas (Mainz): Moderationen

Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg): Historische Kontextualisierung der Reformation mithilfe der Konzeption evangelischer Wahrheitszeugen (16. – 18. Jahrhundert)

Maciej Ptaszyński (Warschau): Lutherus incombustus. Bücherverbrennung in Polen im Spiegel der konfessionellen Geschichtsschreibung

Christopher Voigt-Goy (Mainz): Reformationsdeutungen in John Foxe’s Acts and Monuments of the Christian Church

Charlotte Methuen (Glasgow): The Brüdernkirche Braunschweig – a visual Church History

Jean-Pascal Gay (Louvain): Negotiating the conflicting religious claims of gallican historiography : Louis Maimbourg’s Histoire du Luthéranisme (1680) and Histoire du Calvinisme (1682)

Susanne Rau (Erfurt) / Nicole Ambrozus (Erfurt): Reformationsdarstellungen in Schulbüchern des 17. und frühen 18. Jahrhunderts


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