Protest und Polizei in Geschichte und Gegenwart

Protest und Polizei in Geschichte und Gegenwart

Organisatoren
Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen
Ort
Gelsenkirchen
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.05.2017 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Agnes Weichselgärtner, Bocholt

Dass die Teilnahme an einer Demonstration eine geradezu „normale“ Möglichkeit der politischen Partizipation ist, gilt für zahlreiche Menschen heute als selbstverständlich. Ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zeigt jedoch, dass es bis hierhin ein langer Weg war, auf dem sich sowohl die gesellschaftliche Sichtweise auf Protest geändert hat als auch der staatliche und polizeiliche Umgang mit Protesten. Diesen Wandel zu beleuchten und mit Beispielen zu veranschaulichen, war Ziel des Symposiums „Protest und Polizei in Geschichte und Gegenwart“ an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW. Fünf Vorträge nahmen verschiedene Aspekte von Protest in den Blick. Fragen nach den Trägern von Protest wurden ebenso erörtert wie die Motivation der Protestierenden. In Bezug auf die Polizei rückte in den Vorträgen vor allem der Wandel des Selbstbildes in den Vordergrund, aber auch die öffentliche Wahrnehmung und Reaktion auf verschiedene Polizeieinsätze. Im Zentrum stand dabei die Frage, ob die gesellschaftlichen Entwicklungen zu einem Lernen innerhalb der Organisationen der Polizei geführt haben. Die Vormittagssektion des Symposiums wurde von Sabine Mecking (Duisburg) eingeleitet und moderiert, die Nachmittagssektion begleitete Carsten Dams (Duisburg).

Der erste Beitrag widmete sich den frühen Jahren der Bundesrepublik. WOLFGANG KRAUSHAAR (Hamburg) stellte hierfür drei zentrale politische bzw. gesellschaftliche Themen der Nachkriegsjahre in den Mittelpunkt: die Frage der Wiederbewaffnung, die Erarbeitung eines Betriebsverfassungsgesetzes sowie die "Halbstarkenkrawalle". Während sich die Regierung unter Konrad Adenauer für eine Wiederbewaffnung ausgesprochen habe, wandte sich die Opposition im Wesentlichen gegen eine Remilitarisierung, wie sie die CDU präferierte. In der Bevölkerung wuchs der Widerstand insbesondere gegen eine Bewaffnung der Bundesrepublik mit Atomwaffen, es formierte sich vielfacher Protest. Beispielhaft nannte Kraushaar die sogenannte Friedenskarawane im Jahr 1952 oder die Protestveranstaltungen der Anti-Atomtod-Bewegung, die von den Kirchen, zahlreichen Wissenschaftlern, Gewerkschaften und der SPD unterstützt wurde. Auch gegen den regierungspolitischen Umgang mit der Neugestaltung der Betriebsverfassung formierte sich Protest, so z.B. 1952 der Streik der schleswig-holsteinischen Metallarbeiter. Die ablehnende Haltung vieler Jugendlicher der Elterngeneration gegenüber entlud sich in den Sommern der Jahre 1956, 1957 und 1958, ursprünglich angeheizt durch den Film „Außer Rand und Band“. Vor allem die beiden politisch motivierten Protestbewegungen zeigen, so Kraushaar, dass in den Nachkriegsjahren einen Millionen von Bundesbürgern für den Einsatz für eine politische Sache mobilisiert werden konnten, wobei die Motivation vor allem materieller Art war. Gleichzeitig zeugte der Umgang der Polizei mit den Protestierenden einerseits von Überforderung, andererseits vom Fehlen klarer Regeln zur Vorgehensweise. So glichen die Polizeiaktionen vielfach einer gewaltsamen Überreaktion. Im Falle der Friedenskarawane hatte dies letztlich einen Toten auf Seiten der Protestierenden zur Folge.

Dem unsensiblen und unverhältnismäßigen Vorgehen der Polizei sowie der polizeiinternen Kritik daran widmete sich MICHAEL STURM (Münster) in seinem Vortrag. Seit den 1960er-Jahren wurde die Vorgehensweise der Polizei insbesondere durch den Polizeipsychologen Rolf Umbach in Frage gestellt. Dieser habe die unzeitgemäße Sichtweise der Polizei auf Bedrohungsszenarien, die überkommenen Feindbilder sowie das Selbstbild der Polizei kritisiert. So gab es innerhalb der Polizei noch immer eine aus der NS-Zeit stammende mythologische Überhöhung des Staates als „gesunder Volkskörper“, eine Identifizierung mit der Bundesrepublik hingegen fehlte. Gleichzeitig seien gesellschaftliche Phänomene lediglich massenpsychologisch gedeutet worden, eine differenzierende Sichtweise existierte nicht. Sturm resümierte, dass die Polizei insgesamt mit ihrer paramilitärischen Ausrichtung, ihren repressiven Handlungsmaximen und ihrer martialischen Selbstinszenierung an die Tradition der Weimarer Republik angeknüpft habe. Wie sehr dies jedoch nicht mehr in die Gegenwart der 1960er-Jahre passte, habe sich z.B. in den gewaltsamen und affektiven polizeilichen Reaktionen und Vorgehensweisen während der sogenannten Schwabinger Krawalle gezeigt. Gegen zahlreiche Polizisten sei im Anschluss wegen Körperverletzungsdelikten ermittelt worden, die Öffentlichkeit kritisierte das polizeiliche Vorgehen massiv. Als Reaktion darauf setzte die Münchener Polizei in den folgenden Jahren verstärkt auf Öffentlichkeitsarbeit, auf eine deeskalierende Gesprächstaktik und auf die Reglementierung des massiven Auftretens.

SABINE MECKING (Duisburg) und CARSTEN DAMS (Duisburg) widmeten sich in ihrem gemeinsamen Vortrag den Protesten der späten 1960er- bis frühen 1980er-Jahre. Diese waren, so erläuterte zunächst Sabine Mecking, sehr viel mehr politisch und sozial motiviert und durch immaterielle Werte geprägt als die Kampagnen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik. Die Protestierenden stellten sich nun gegen politische Bevormundung, Kriege, Ungerechtigkeit, die mangelnde Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und überkommene gesellschaftliche Strukturen. Träger des Unmuts seien zunächst Studierende, Schüler und Lehrlinge bzw. Jugendliche und junge Erwachsene der bürgerlichen Mittelschicht gewesen, Orte des Protests Universitäts- und größere Städte. Nach den 68er-Unruhen bildeten sich dann in den 1970er-Jahren zahlreiche Aktionsgemeinschaften und Protestinitiativen heraus, die jetzt einen breiten Rückhalt in der Gesellschaft besaßen. Thematisch weitete sich der Protest der Neuen sozialen Bewegungen nach dem Motto „global denken, lokal handeln“ aus. So konnten sowohl konkrete Lebens-, Wohn- und Verkehrssituationen als auch allgemein die friedliche oder militärische Nutzung der Atomkraft in der Kritik stehen. Die Protestbewegungen distanzierten sich in der Regel von der Anwendung von Gewalt und betonten stattdessen die Legitimität und Legalität ihres Protestes . In der Hochphase der Neuen sozialen Bewegungen Anfang der 1980er-Jahre gingen dann Hunderttausende für den Weltfrieden, für die Umwelt oder für Gleichberechtigung auf die Straße. Im Zuge dieser Fundamentalpolitisierung bzw. -demokratisierung der Menschen sei öffentlicher Protest immer weniger als Störung, sondern vor allem als Bürgerrecht wahrgenommen worden. Auf Polizeiseite, so Carsten Dams, waren insbesondere die uniformierte und die Bereitschaftspolizei mit den Protesten konfrontiert. Auch in den polizeilichen Reaktionen ließen sich letztlich die sich wandelnde gesellschaftliche Haltung zum Protest ablesen. Sei die Polizei in den beginnenden 1960er Jahren zunächst noch wie die preußische Schutzpolizei der Weimarer Jahre aufgetreten, zeigten die Einsätze in den folgenden Jahren, dass innerhalb der Polizei zwei Lager existierten: Es gab zum einen die sogenannten Patriarchen, deren Biografien oftmals eine enge Verbindung zum Nationalsozialismus aufwiesen und die vor allem ein Vorgehen mit Härte favorisierten. Auf der anderen Seite gab es die „Modernisierer“, die einer jüngeren Generation entstammten und die Zukunft der Polizei in Teamwork und Transparenz sahen. Die Linie der „Modernisierer“ konnte sich letztlich aufgrund der Ereignisse um den Tod Benno Ohnesorgs im Jahr 1967 durchsetzen. Dennoch, so Dams, rang und ringt die Polizei mit ihrem Image in der Öffentlichkeit auch nach 1968: Letztlich war und ist sie dafür zuständig, auch gesellschaftlich unliebsame politische Entscheidungen umzusetzen.

Nach den Neuen sozialen Bewegungen konnte sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten ein ganz anders gearteter Protest etablieren, der Populismus. FRANK DECKER (Bonn) stellte in seinem Beitrag den Zusammenhang zwischen sogenannten Protestwahlen und dem Erstarken populistischer Bewegungen und Parteien heraus. Ursache für die Wahl populistischer Parteien sei vor allem das Gefühl der betreffenden Wähler, zu den Verlierern der Modernisierung zu gehören und von den traditionellen Parteien nicht mehr vertreten zu werden. Die Angst vor sozialem Abstieg, projiziert auf Zuwanderer, verhelfe den neuen rechten Parteien wie der AfD zu Wahlerfolgen und ermögliche ihre Etablierung im Parteiensystem der Bundesrepublik. Verbindend seien dabei vor allem Wertvorstellungen, die von den traditionellen Parteien nicht oder nicht mehr vertreten werden. Wie ein Katalysator für die Verbreitung neuer rechter Gedanken wirkten die sozialen Medien, aber auch Ereignisse, die die Ängste der Menschen befördern, z.B. die Wirtschaftskrise Anfang der 2010er-Jahre oder die gegenwärtige Flüchtlingssituation. In der Öffentlichkeit sichtbar seien vor allem die wöchentlichen PEGIDA-Demonstrationen, die zugleich einen neuen Typ von Demonstrationsteilnehmer zeigten: den der Mittelschicht entstammenden „besorgten Bürger“. Decker schloss seinen Vortrag mit der Prognose, dass auch in Zukunft ein weiterer Rechtsruck innerhalb der deutschen Parteienlandschaft zu erwarten sei, ähnlich wie in vielen anderen Teilen Europas.

Im letzten Beitrag des Symposiums sprach Polizeidirektor a.D. UDO BEHRENDES (Lohmar) als Praktiker und Zeitzeuge bzw. „Zeitzeuge vom Hörensagen“ über den Wandel des Selbstverständnisses der Polizei und über Lernfelder, die Einfluss genommen haben auf Selbstbild und Vorgehensweise. Dabei griff er Protestereignisse wie die Schwabinger Krawalle, die Halbstarken-Proteste oder auch die 1968er-Bewegung auf, um darzulegen, wie sich die Polizei von ihrer harten Linie ab- und zu mehr Bürgerorientierung hinwandte. Insbesondere die neuen Formen des friedlichen Protests hätten die Polizei vor große Herausforderungen gestellt, musste doch das bis dahin vorherrschende Schwarz-Weiß-Denken grundlegend durchbrochen werden. In diesem Lernprozess seien der Besuch des Schahs von Persien und der Tod Benno Ohnesorgs durch eine Polizeikugel 1967 zu einem einschneidenden und zum Teil auch traumatisierenden Erlebnis für die beteiligten Polizisten geworden. In der Folge sei daher ein dialogorientiertes, deeskalierendes Vorgehen beschlossen worden, sozialwissenschaftliche Studien lieferten Erkenntnisse zu Eskalationsbedingungen sowie zur Ursache von und zum Umgang mit Gewalt. Heute sieht Behrendes die Polizei im Umgang mit Protestierenden zumeist vorbildlich neutral. Dabei versteht er den Umgang mit politischem und gesellschaftlichem Protest zugleich als „Lackmustest“ für einen Staat, der den Schutz des Grundrechts auf Meinungsfreiheit als eine seiner Zweckbestimmungen definiert.

Das Symposium verdeutlichte den Teilnehmern detailliert drei Aspekte: Zum einen wurde sichtbar, wie sich die Motivation für bürgerlichen Protest im Laufe der Jahre gewandelt hat von einem zunächst hauptsächlich materiell geprägten Impetus hin zu immateriellen, sozialen und politischen Beweggründen. Eng damit zusammenhängend stellten die Beiträge zum anderen den Wandel in der Trägerschaft und in der Form des Protestes heraus. Waren es zunächst häufig Jugendliche oder junge Erwachsene, die den Protest trugen, griff der Protest in den 1970er-Jahren als Möglichkeit der politischen Partizipation auf die breite Mittelschicht über. Mit dieser Etablierung des Protests in der gesellschaftlichen Mitte nahm gleichzeitig auch die Gewaltbereitschaft der Protestierenden ab. Die unterschiedlichen Reaktionen der Polizei auf die Protestereignisse unterstrichen, dass sich auch innerhalb der Polizei die gesellschaftlichen Entwicklungen widerspiegelten, wenn auch mit einiger zeitlicher Verzögerung. Dennoch wurde deutlich, dass die Polizei seit den beginnenden 1960er-Jahren den internen Reformbedarf erkannte hatte und nach und nach auch umsetzte. Dies ermöglichte einen veränderten öffentlichen Blick auf die Polizei: Galt sie in den Anfangsjahren der Bundesrepublik noch als Gegnerin der Demonstranten und Bewahrerin überkommener Werte, wird sie heute stärker als Schützerin von Bürgerrechten verstanden. Ob die Herausforderungen der Zukunft dieses Bild weiter festigen oder ob das eigene und das öffentliche Bild der Polizei einem erneuten Wandel unterzogen werden, ließen die Ausblicke der Referenten sowie die zahlreichen Diskussionsbeiträge offen.

Konferenzübersicht:

Carsten Dams (Duisburg) / Sabine Mecking (Duisburg): Einführung: Polizei und Protest in Geschichte und Gegenwart

Wolfgang Kraushaar (Hamburg): Protest und Aufbegehren in der Ära Adenauer

Michael Sturm (Münster): Vom Knüppel zur Kommunikation? Polizei und Protest in der frühen Bundesrepublik

Sabine Mecking (Duisburg) / Carsten Dams (Duisburg): Protest und Polizei in der Bundesrepublik zwischen APO und Anti-Atomkraft

Frank Decker (Bonn): Populismus als neue Form des Protestes?

Udo Behrendes (Lohmar): Polizei als lernende Organisation? Erkenntnisgewinne einer 70-jährigen Protestkultur für die heutige Polizei


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