Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert. Johann Stamitz zum 300. Geburtstag

Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert. Johann Stamitz zum 300. Geburtstag

Organisatoren
Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim
; Forschungsstelle Südwestdeutsche Hofmusik der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Kurpfälzisches Kammerorchester e. V. Ludwigshafen-Mannheim
Ort
Schwetzingen / Mannheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.06.2017 - 18.06.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Bartle, Musikwissenschaftliches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Migration – ein Thema, das in gegenwärtigen Medienberichten an Aktualität und Brisanz kaum zu übertreffen ist und sich zugleich als anthropologische Grundkonstante in der Menschheitsgeschichte manifestiert. Auch Musiker und Komponisten wurden von Migration immer wieder beeinflusst, so etwa der Böhme Johann Stamitz, der die musikalische Entwicklung am kurpfälzischen Hof im 18. Jahrhundert maßgeblich prägte. Das Symposium „Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert“ und der Festvortrag wurden anlässlich seines 300. Geburtstages von der Forschungsstelle Südwestdeutsche Hofmusik der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Fachgruppe Musikwissenschaft/Musikpädagogik der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim veranstaltet. Forschungstheoretische Ziele waren die genauere Untersuchung von Migration als biographisches Element diverser Musiker, das Überschreiten von geographischen und konfessionellen Grenzen sowie die reziproke Beziehung zwischen entopischen und migrierten Komponisten.

SILKE LEOPOLD (Heidelberg) verwies im Begrüßungsvortrag zunächst auf die übergeordnete Wichtigkeit der Migration innerhalb der Musikgeschichte und stellte pointiert heraus, dass migrantische Mechanismen und der damit einhergehende Austausch zwischen Komponisten die Entwicklung der Musik stets förderten. Als Fallbeispiel führte sie die Mannheimer Schule unter der kurfürstlichen Regierungszeit Karl Theodors an, die prototypisch für die Synthese aus lokalen und fremden Traditionen steht. PANJA MÜCKE (Mannheim) skizzierte im direkten Anschluss mithilfe von Charles Burneys Reiseberichten den jährlichen Wandel der kurfürstlichen Sommerresidenz Schwetzingen, wenn Karl Theodor mit seinem Hofstaat anreiste und zahlreiche Musiker die Klanglandschaft des Dorfes veränderten. Es folgten Erläuterungen zum aktuellen Forschungsstand und zum Konzept der Tagung, bei der insbesondere Nachwuchswissenschaftlern ein Forum gegeben werden sollte.

Die Familie Stamitz ist ein Paradebeispiel für eine gelungene Migration und Integration. GWENDOLYN DÖRING (Mainz) beschäftigte sich vor diesem Hintergrund mit der Frage, inwiefern Johann Stamitz’ Ausbildung am Iglauer Jesuitengymnasium als Katalysator für seine erfolgreiche Migration und die resultierende Anstellung am kurpfälzischen Hof unter Karl Theodor gedeutet werden kann. Als weichenstellende Grundlage hierfür ist erstens seine fundierte Ausbildung durch die Jesuiten anzuführen – die feste Verankerung von Musikausübung und -vermittlung im Lehrplan stellte Stamitz das Handwerkszeug für seine spätere musikalische Laufbahn zur Verfügung. Für einen geglückten Migrationsprozess kam dem Jesuitenorden mit seinen europaweiten Anlaufstellen zweitens eine wesentliche Vermittlerfunktion als länderübergreifendes Netzwerk zu, das internationale Strukturen zur gesellschaftlichen Integration bereitstellte.

Wie sich der länderübergreifende Austausch zwischen Musikern auch durch längere Auslandsaufenthalte kompositionstechnisch konkret äußerte, führte ANDREAS TROBITIUS (Marburg) im folgenden Vortrag am Beispiel von Johann Stamitz’ „Missa Solemnis“ aus. Vermutlich entstand das kirchenmusikalische Werk um 1754 für die Pariser „Concerts spirituels“ – doch ist intendiert der sinfonische Klang der Mannheimer Schule eingearbeitet, der mit Stamitz in die französische Metropole „migrierte“ und dort eine innovative Messkonzeption proklamierte: Sätze mit sinfonischem Duktus stehen im Kontrast zu Sätzen in strenger kirchenmusikalischer Manier. Eine detaillierte Analyse des „Gloria“ konkretisierte das Sinfonische: Neben der recht üppigen Besetzung und sinfonisch-instrumentalen Klangtechniken ist der Satz gezeichnet von systematisch verarbeiteten Themen.

DAVID VONDRÁČEK (München) problematisierte im folgenden Vortrag die Forschungssituation der tschechischen Musikwissenschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit des migrierten Johann Stamitz. An ausgewählten Primärquellen wurden die unterschiedlichen Strategien und Argumentationsmodelle tschechischer Wissenschaftler wie etwa Vladimír Helfert oder Bohumil Stedron deutlich, die auf eine Vereinnahmung Stamitz’ als tschechischen Komponisten abzielten und in seiner Musik eine böhmisch-mährische Musiksprache zu sehen glaubten. In der Diskussionsrunde wurde in diesem Kontext eindringlich auf die fundamentale Problematik der nationalen Kategorisierung von Musik und Musikpraxis und die anachronistische Verwendung des Nationenbegriffs hingewiesen.

Inwiefern Migration im 18. Jahrhundert die Entwicklung musikalischer Gattungen beeinflusste, legte YEVGINE DILANYAN (Schwetzingen) am Fallbeispiel der Flötenquartette dar. Diese Form des Quartetts mit Blasinstrument erfreute sich zu dieser Zeit großer Beliebtheit. Eine vergleichende Analyse zwischen verschiedenen Flötenquartetten von Karl Joseph Toeschi, Ernst Eichner und Carl Stamitz zeigte die Parallelen in Instrumentation, harmonischer Gestaltung und im Umgang mit motivischem Material. Diese Analogien lassen im weiteren Sinne auf eine speziell im kurpfälzischen Raum verbreitete Kompositionsweise für Flötenquartette schließen.

Die französische Kultur des 18. Jahrhunderts war für weite Teile Europas normativen Charakters und beeinflusste die lokalen Traditionen auch in Mannheim, wie MECHTHILD FISCHER (Mannheim) eingangs in ihrem Referat betonte. Sie ging der Frage nach, auf welchen Wegen und mithilfe welcher Personen und Institutionen die musikalische Kultur des Nachbarlandes den Weg in die Kurpfalz fand. Die Musiker der stilprägenden Mannheimer Hofkapelle identifizierte sie als einen gewichtigen Faktor und essenziellen Träger dieses Austauschprozesses. Durch Konzertreisen einzelner Mitglieder nach Paris festigten sich dort nach und nach die innovativen Praktiken der Mannheimer Schule und trugen zum Aufbrechen der musikalischen Isolation Frankreichs bei. Umgekehrt verlief der Kulturtransfer aber auch von Paris nach Mannheim – so „migrierte“ etwa das Prinzip der „Sinfonia Concertante“ durch die Mannheimer Hofmusiker aus Frankreich an den kurpfälzischen Hof, wo es sich schließlich als eine gewichtige Kompositionsform etablierte.

Betrachtet man die Rechnungsbücher der Pariser Orchester aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so sind zahlreiche Hornisten, Klarinettisten und Trompeter deutscher sowie böhmischer Provenienz äußerst präsent. SARAH SCHULMEISTER (Wien) ging der Frage nach, weshalb die Bläserbesetzung in Paris – in den 1760er-Jahren meist ganz vernachlässigt – ab 1770 zunehmend obligat wurde und welche Rolle der Migrationsprozess hierbei spielte. So ist die sukzessive Etablierung von Bläserstimmen an das neue deutsche Konzertrepertoire gekoppelt, das über die Konzertreisen der Mannheimer Hofmusiker nach Paris gelangte. Besonders Johann Stamitz, der Anfang der 1750er-Jahre einige Zeit lang ein Pariser Orchester leitete, besetzte die Hornstimmen mit deutschen Spezialisten und legte damit den Grundstein für die steigende Popularität von Holz- und Blechbläsern.

RÜDIGER THOMSEN-FÜRST (Schwetzingen) veranschaulichte am Fallbeispiel der böhmischen Hornistenfamilie Ziwny, wie Musiker den Weg an die verschiedensten südwestdeutschen Hofkapellen fanden und die steigende Nachfrage nach spezialisierten Bläsern in den 1740er-Jahren für eine erfolgreiche Migration nutzten. Um einer gegenseitigen Konkurrenz präventiv entgegenzuwirken, verschafften sich Johann Ziwny und seine vier Söhne ausgehend von Prag Anstellungen in Rastatt, Schwetzingen, Mannheim und wahrscheinlich auch Stuttgart. Als auf Hörner spezialisierte Musiker waren sie nicht polyinstrumental ausgebildet und erwarben aufgrund ihres Könnens hohes Ansehen – Joseph Ziwny etwa wurde Stimmführer in Mannheim und beeinflusste als Pädagoge zudem die Vermittlung und Praxis des Hornspiels.

Den zweiten Tag des Symposiums eröffnete SARAH-DENISE FABIAN (Schwetzingen) und untersuchte die konfessionsüberschreitende Integration migrierter katholischer Musiker am württembergischen Hof. Die Personalakten des 18. Jahrhunderts offenbaren zwar deutlich eine katholische Dominanz. Wie aber aus diversen Einstellungsdekreten hervorgeht, zeichnete einerseits die recht liberale, zeitweise geradezu protektive Haltung der Herzöge für das überkonfessionelle Orchester verantwortlich – die Religionszugehörigkeit war demnach zumindest für eine Anstellung als Hofmusiker kein K.-o.-Kriterium. Andererseits war es weniger die Kirchenmusik, die am württembergischen Hof im Vordergrund stand. Vielmehr wurde die Musiklandschaft von der italienischen Oper bestimmt, weshalb der Glaubensunterschied nur eine untergeordnete Rolle spielte.

Ähnlich wie mit den nach Paris migrierten deutschen und böhmischen Blasmusikern verhielt es sich mit Italienern an deutschen Höfen. NORBERT DUBOWY (Salzburg) erläuterte, weshalb italienische Musiker in deutschen Hofmusikkapellen des 18. Jahrhunderts derart hoch im Ansehen standen. So war man etwa der Auffassung, dass zur stilgerechten Aufführung von italienischer Musik auch italienische Musiker vonnöten seien. Als sich die Satzkonzeption vom generalbasszentrierten Ensemble hin zum streicherbasierten Orchester vollzog und sich eine Vorliebe für alles Italienische manifestierte, wurde zunehmend die obligate Mehrfachbesetzung der Streicherstimmen Usus. Hier erfolgte zumeist der Rückgriff auf die exzellent ausgebildeten Italiener – andere Positionen, etwa die der Holz- und Blechbläser, blieben ihnen verwehrt und wurden vorrangig mit Deutschen besetzt.

THOMAS BETZWIESER (Frankfurt am Main) lenkte den Blick zum Schluss des wissenschaftlichen Tagungspanels auf die Biographie des migrierten Mannheimer Musikers Franz Beck, der vermutlich Schüler von Johann Stamitz war. Schon in jungen Jahren verließ Beck den deutschsprachigen Raum in Richtung Frankreich, wo er in Marseille zunächst eine Anstellung als Kapellmeister antrat. Eine gewichtige Bedeutung kommt ihm in der Stadtgeschichte von Bordeaux zu – hier ließ er sich in den 1760er-Jahren nieder und war bis zu seinem Tod hier wohnhaft. An einigen Beispielen aus diversen kurzen Opern wurde illustriert, wie er die lokale musikalische Tradition mit den Attributen der Mannheimer Schule versah und für das örtliche Musikleben nachhaltig prägend wirkte.

Mit dem im Rittersaal des Mannheimer Schlosses stattfindenden Festvortrag von MICHAEL WERNER (Paris) wurden schließlich zentrale Konzepte und Praktiken von Migration resümierend betrachtet und deren Wandel ausgehend vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart skizziert. Das reziproke Verhältnis zwischen Migrationsprozessen und ökonomischen Innovationen, neuen technischen Errungenschaften, sozialen Umwälzungen und politischen Ereignissen wurde als Spannungsfeld begriffen, dessen Impulse die semantischen Dimensionen von Migration formte.

Einen feierlichen Ausklang fand das Symposium anlässlich des 300. Geburtstags von Johann Stamitz durch das ebenfalls im Rittersaal stattfindende Festkonzert. Unter dem Dirigat von Johannes Schlaefli präsentierte das Kurpfälzische Kammerorchester gemeinsam mit Bläsern der Musikhochschule Mannheim unter solistischer Mitwirkung von Marco Rizzi (Violine) sowie Wolfhard Pencz (Klarinette) zwei Sinfonien (Wolf D-3 und Wolf Es-4) sowie ein Violin- und Klarinettenkonzert.

Das Konzept der Tagung und die Beiträge insgesamt tangierten die Migration als Terminus technicus ausgehend vom Mannheimer Hof unter Karl Theodor einerseits aus einer allgemeineren Perspektive, wobei besonders die Rolle von vernetzten Institutionen als eminenter Faktor für eine erfolgreiche Migration hervorgehoben wurde. Die detaillierte Betrachtung verschiedener Fallbeispiele und vergleichender musikalischer Analysen führte andererseits zu einer Spezialisierung, in deren Mittelpunkt die Musikermigration stand. So ergab sich ein differenziertes Bild der mannigfaltigen kulturellen Implikationen von Migration im damaligen Musikleben: Als Komponente von Musikerbiographien bedingte sie konfessionsübergreifend einen regen Austausch zwischen migrierten und ortsansässigen Musikern, dessen fruchtbare Synthese von Tradition und Innovation sich etwa durch die Analyse gattungsspezifischer Werke und Kompositionstechniken ausgezeichnet nachvollziehen lässt. Implizit deutlich wurde, dass Migration nur gelingen kann, wenn dem Spannungsverhältnis zwischen kultureller Isolation und kultureller Offenheit eine gewisse Ausgeglichenheit zugrunde liegt. In einer Zeit, in der zunehmend Initiativen an Kraft gewinnen, die sich durch kulturelle Abschottung den Auswirkungen der Migration erwehren wollen, hätte die hochaktuelle Thematik des Symposiums nicht passender sein können.

Konferenzübersicht:

Johann Stamitz zum 300. Geburtstag – Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert

Silke Leopold, Heidelberg
Panja Mücke, Mannheim
Begrüßung und Einführung

Gwendolyn Döring, Mainz
Johann Stamitz und seine Ausbildung bei den Jesuiten. Zur Bedeutung länderübergreifender Netzwerke für Migrationsprozesse im 18. Jahrhundert

Andreas Trobitius, Marburg
Johann Stamitz’ Missa Solemnis in D – Provenienz, Stil, Rezeption

David Vondráček, München
Johann Stamitz aus der Perspektive der tschechischen Musikwissenschaft

Yevgine Dilanyan, Schwetzingen
Die Flötenquartette von C. J. Toeschi, C. Stamitz und E. Eichner aus der Perspektive der Musikermigration am Mannheimer Hof

Mechthild Fischer, Mannheim
Drehscheibe des Kulturtransfers: Musiker der „Mannheimer Schule“ im Austausch mit Paris

Sarah Schulmeister, Wien
„Cors et clarinettes nouvellement arrivés de l’Allemagne...“ Zur Migration deutscher Blasmusiker nach Paris in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Rüdiger Thomsen-Fürst, Schwetzingen
Die Ziwnys. Eine böhmische Hornistenfamilie an südwestdeutschen Höfen

Sarah-Denise Fabian, Schwetzingen
„von Niemand angefochten oder turbirt“? – Katholische Musiker am württembergischen Hof in Stuttgart und Ludwigsburg

Norbert Dubowy, Salzburg
Italienische Instrumentalisten an deutschen Höfen

Thomas Betzwieser, Frankfurt
Franz (Francesco/Francois) Beck: Ein „Mannheimer“ in Bordeaux – Transferprodukte im Musiktheater

Michael Werner, Paris
„Musiker im Spannungsfeld von Migration und lokaler Verankerung. Zum Wandel der Konzepte und Praktiken von Mobilität (18.–20. Jahrhundert)“