Holocaustüberlebende aus postsowjetischen Staaten in der Bundesrepublik – Probleme und Diskussionen

Holocaustüberlebende aus postsowjetischen Staaten in der Bundesrepublik – Probleme und Diskussionen

Organisatoren
Bundesassoziation „Phönix aus der Asche – Die Überlebenden der Hölle des Holocaust e.V.“
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.04.2017 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Nadja Grintzewitsch / Samantha Bornheim, Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V.

Wie viele jüdische Menschen, die als Kinder und Jugendliche auf dem Gebiet der Sowjetunion von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, leben heute noch in der Bundesrepublik? Wie würden die Überlebenden ihre Lebenssituation heutzutage beschreiben? Mit welchen Problemen und Herausforderungen sehen sie sich in Deutschland konfrontiert? Es waren 37 Überlebende der Bundesassoziation „Phönix aus der Asche – Die Überlebenden der Hölle des Holocaust e.V.“, die vom 22. bis zum 25. April 2017 in Berlin zusammentrafen. Die älteste Teilnehmerin war 89 Jahre alt, die jüngste, die als Kleinkind in einem Kartoffelsack aus dem Ghetto Kaunas geschmuggelt worden war und so die Mordaktionen überlebt hatte, feierte am 24. April ihren 75. Geburtstag. Sie alle nahmen an einer Begegnung mit zehn jungen Studierenden teil, von denen die meisten aus verschiedensten historischen Fachrichtungen kamen und gut Russisch sprachen.

Gemeinsam besuchten die Teilnehmer/innen, die aus allen Bundesländern angereist kamen, zunächst die Sonderausstellung zu Maly Trostinez im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst und lernten Berlin vom Wasser aus kennen. Während der Spreefahrt und der gemeinsamen Mahlzeiten blieb viel Zeit für Gespräche. Höhepunkt der Begegnungstage war eine Konferenz mit dem Titel „Holocaustüberlebende aus postsowjetischen Staaten in der Bundesrepublik“, die am 24. April mit freundlicher Unterstützung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in deren Räumlichkeiten stattfand.

Die Tagung wurde von der „Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V.“ in enger Zusammenarbeit mit „Phönix aus der Asche“ organisiert. Ermöglicht wurde dieses Vorhaben mittels Förderung durch die „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sowie die „Initiative 27. Januar e.V.“, einen überkonfessionellen Zusammenschluss von Bürger/innen und Organisationen, die sich für das christlich-jüdische und deutsch-israelische Verhältnis engagieren.

Für alle Teilnehmer/innen der Konferenz wurde eine simultane Übersetzung durch zwei Dolmetscherinnen in russische beziehungsweise deutsche Sprache angeboten. Auf diese Weise war es dem Publikum möglich, die Vorträge problemlos nachzuvollziehen. Als Moderatorin führte NATALJA PART (Projektmitarbeiterin bei „Zeugen der Zeitzeugen e.V.“, Bonn) durch die Veranstaltung. Ihre sicheren Kenntnisse beider Sprachen ermöglichte ein flexibles Eingehen auf Publikumsfragen.

Die Tagung wurde musikalisch eingeleitet durch den Klarinettisten ROMAN SAMSOVICI (Bundesassoziation Phönix aus der Asche, Weimar). Im Anschluss begrüßte die Projektverantwortliche NADJA GRINTZEWITSCH (Agentur für Bildung, Berlin) die anwesenden Überlebenden.

Den inhaltlichen Gegenstand der Konferenz stellte ALEXEJ HEISTVER (Präsident der Bundesassoziation Phönix aus der Asche e.V., Weimar) in seinem Eröffnungsvortrag dar. Er berichtete über die Tätigkeiten des Vereins und wies auf die prekäre Situation der Holocaustüberlebenden hin, von denen viele in den 1990er-Jahren als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen waren. Bis heute würden sie jedoch nicht als Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes anerkannt und wären daher auf die sogenannte Grundsicherung im Alter angewiesen – unabhängig davon, dass viele ihr Leben lang in der Sowjetunion gearbeitet hätten. Ihre Ansprüche auf Rentenzahlungen würden nicht berücksichtigt, da entsprechende Abkommen mit Nachfolgestaaten nicht existieren.

Der sich anknüpfende Vortrag von ALEXANDER POPOV (Vizepräsident von Phönix aus der Asche, Magdeburg), erläuterte sehr detailliert die sozialrechtliche Stellung der Betroffenen. Der Kreis jener, die Lager und Ghettos der Nationalsozialisten überlebten und aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in die Bundesrepublik kamen, umfasst 600 Personen. Im Fall dieser jüdischen Immigrant/innen beschloss die Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder 1991 die Anwendung des Gesetzes über „Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge“ (HumHAG) und damit deren Einstufung als „Kontingentflüchtlinge“.

Vizepräsident Popov betonte in seinem Vortrag, dass die mit der Grundsicherung im Alter verbundenen Einschränkungen gegen Artikel 1 des Grundgesetzes verstoßen würden, da die ausbleibende Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes einer Nichtachtung der Menschenwürde gleichkäme. Der Erhalt der Grundsicherung sei beispielsweise an einen jährlich zu stellenden Antrag geknüpft und berge wesentliche Einschränkungen der Freizügigkeit: Auslandsaufenthalte dürften nur nach voriger Genehmigung angetreten werden und einen festgelegten Zeitraum nicht überschreiten – für viele Überlebende, die Verwandte im Ausland hätten, eine Zumutung. Darüber hinaus sei es den Empfänger/innen nicht gestattet, den eigenen Wohnsitz frei zu wählen. Die Finanz- und Vermögensbeschränkungen würden keine Ersparnisse oberhalb eines gewissen Freibetrags erlauben. Problematisch sei auch die Regelung, dass bei Verwitwung nicht über die verbliebenen Mittel des oder der Verstorbenen, beispielsweise aus Zahlungen der Jewish Claims Conference, verfügt werden dürfe. Popov forderte im Namen der Bundesassoziation, die Überlebenden als NS-Verfolgte anzuerkennen, die Betroffenen von den mit der Grundsicherung verbundenen Einschränkungen zu lösen und ihnen somit ein würdevolles Leben zu ermöglichen.

Die Stellungnahme von RÜDIGER MAHLO (Jewish Claims Conference Deutschland, Frankfurt am Main), wurde von den anwesenden Überlebenden als Wertschätzung wahrgenommen. In seinem Vortrag unterstrich Mahlo die Besonderheiten, die sich in Bezug auf die aus dem osteuropäischen stammenden Betroffenen ergeben würden. Die Verfolgung der Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR sei lange Zeit nicht anerkannt worden und auch die Entschädigungszahlungen aus der Bundesrepublik hätten sich vorerst an westeuropäische Empfänger/innen gerichtet. Insbesondere seit 2012 würden Entschädigungszahlungen auch Mittel- und Osteuropa erreichen. Weitere Erfolge konnte die Claims Conference laut eigener Aussage in Bezug auf die Rente für Schwerstverfolgte erreichen. Der andauernde Einsatz für die Belange der Betroffenen sowie Rückfragen, an welche Bedingungen die Entschädigungszahlen geknüpft seien, waren Gegenstand der anschließenden Diskussionsrunde. Vorgeschlagen wurden Maßnahmen für eine alltägliche Entlastung wie beispielsweise die kostenfreie Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, wie dies einem Teilnehmer ab 1990 in der Sowjetunion möglich gewesen war. Der Teilnehmer beklagte auch, dass er in der Sowjetunion ein Dokument erhalten habe, das ihn als Überlebenden auswies, etwas, das er in Deutschland vermissen würde.

Programme, welche Kuraufenthalte oder Gesundheitsvorsorge für die Betroffenen übernehmen würden, werden von der Claims Conference bislang nicht umgesetzt. Ein Wunsch der Überlebenden war, dass Mahlo Vorschläge dieser Art in künftige Sitzungen mit der Bundesregierung einbringen würde.

Divergierende Meinungen innerhalb des Publikums wurden bei dem Thema der zum Zeitpunkt der deutschen Besatzung in die Sowjetunion Evakuierten sowie der Ehepartner/innen von Überlebenden deutlich: Während eine Seite die Berücksichtigung auch dieser Personengruppen forderte, schlossen andere dies aufgrund der unterschiedlichen Schicksale und Erfahrungen kategorisch aus. Mahlo betonte in diesem Zusammenhang, dass die Claims Conference zwischen dem erlittenen Leid der betroffenen Personen keinen Unterschied mache. Gewissermaßen einen Blick von außen bot der Beitrag eines ukrainischen Teilnehmers, der die Arbeit der Claims Conference sehr lobte, jedoch Schwierigkeiten darin sehe, dass je nach Geburtsdatum Unterschiede bei den Auszahlungen unternommen würden. Das große Redebedürfnis der teilnehmenden Personen ließ die Diskussion mit Mahlo bis weit in die Mittagspause hineinreichen.

Die Gruppe der in Deutschland ansässigen Überlebenden wurde durch die Anwesenheit dreier Teilnehmer aus dem Ausland (Moldawien, Ukraine, Russland) erweitert und die kurzen Redebeiträge unter anderem von ROMAN SHVARCMAN (Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft der Überlebenden von Konzentrationslagern und Ghettos, Odessa) ließen einen Blick über die Grenzen hinaus zu und bestätigten die Wirkung der Claims Conference auch im Ausland. MICHAIL GORDIN (Vorsitzender der Assoziation der Juden und ehemaligen Häftlinge der NS-Konzentrationslager und Ghettos in Moldawien, Chișinău) bot in seinen Ausführungen zudem einen Einblick in die Entwicklungen und Situationen in Moldawien.

HARALD ECKERT, Vorsitzender der Initiative 27. Januar e.V., begrüßte die anwesenden Gäste zum zweiten Teil des Programms. Er leitete inhaltlich in die Arbeit der Initiative ein und schilderte seine ganz persönliche Motivation, sich für das christlich-jüdische und deutsch-israelische Verhältnis zu engagieren. Mit dem Projekt „Zeugen der Zeitzeugen e.V.“ stellte die Initiative anschließend ein Programm vor, welches Begegnungen zwischen der letzten Generation der Holocaustüberlebenden und der jungen Generation ermöglicht. Der Leiter des Projektes DANIEL MÜLLER („Zeugen der Zeitzeugen e.V.“, Hof) sprach über die besondere Bedeutung der Zeitzeug/innen und das Bedürfnis, ihre Erlebnisse weiterzutragen. Gleichzeitig lenkte er die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Stellenwert, den eine Arbeit mit den Angehörigen der zweiten und dritten Generation in Zukunft einnehmen wird.

Ein wichtiges Anliegen der Veranstalter/innen war es, einen persönlichen Kontakt unter den Überlebenden zu ermöglichen. Besonderes Interesse galt aber auch den Partizipationsangeboten in der näheren Umgebung ihrer Wohnorte. In diesem Zusammenhang sprach GÜNTER JEK (Leiter des Berliner Büros der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Berlin) über soziale Projekte und Integrationsmöglichkeiten der jüdischen Gemeinden. Die ZWST organisiert Treffen für Überlebende und bemüht sich um die Verbesserung ihrer Lebensqualität durch den Einsatz von ehrenamtlichen Helfer/innen, die beispielweise ihre Unterstützung bei bürokratischen Vorgängen anbieten. Jek stellte fest, dass die besagte Personengruppe aufgrund ihrer begrenzten finanziellen Mittel kaum an kulturellen Veranstaltungen teilhaben könne. Zentrales Anliegen der ZWST sei deshalb, die ehrenamtliche Versorgung und Betreuung von Holocaustüberlebenden weiter auszubauen und Hindernisse, die unter anderem beispielsweise aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse auftreten würden, abzubauen.

Eben diese Angebote für Holocaustüberlebende waren auch Thema bei der abschließenden Podiumsdiskussion am Nachmittag. Neben Alexej Heistver und Günter Jek nahm daran auch PHILIPP SONNTAG (Vorsitzender der Jewish Child Survivors in Deutschland, Berlin) teil. Nach einer kurzen Einführung über die Organisation der Child Survivors in Deutschland schilderte Sonntag seine Erfahrungen im Umgang mit Überlebenden und mit deren bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten. Auch Fragen nach seinen persönlichen Erfahrungen als Child Survivor beantwortete er. Die Anmerkungen von Alexej Heistver verdeutlichten nochmals das Ziel von Phönix aus der Asche, weiterhin einen angeregten Austausch zwischen Überlebenden und Vertreter/innen entsprechender Institutionen in Deutschland zu ermöglichen und für die Anerkennung der Rentenansprüche zu kämpfen. Bemängelt wurde insbesondere mangelndes Interesse von Seiten der Politik. Von den eingeladenen Vertreter/innen sei keine einzige Person zur Tagung erschienen, trotz oder gerade wegen des Bundestagswahljahres. Erfreulich sei aber das Interesse der anwesenden Medienvertreter/innen. Insgesamt kann von der Konferenz daher ein positives Fazit gezogen werden.

Konferenzübersicht:

Überblick über das Vereinsgeschehen (Alexej Heistver, Wismar)

Ungelöste sozialrechtliche Probleme der Holocaustüberlebenden aus den postsowjetischen Staaten in Deutschland (Alexander Popov, Magdeburg)

Stellungnahme der Jewish Claims Conference (Rüdiger Mahlo, Frankfurt am Main)

Projektvorstellung von Zeugen der Zeitzeugen e.V. (Daniel Müller, Hof)

Soziale Projekte der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (Günter Jek, Berlin)

Podiumsgespräch: Zur öffentlichen Würdigung der Überlebenden/Perspektiven zur Sichtbarkeit (Alexej Heistver, Günter Jek, Philipp Sonntag, Moderation: Natalja Part)


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