Die politischen Dimensionen von Wissenschaft, Medizin und Technik

Die politischen Dimensionen von Wissenschaft, Medizin und Technik

Organisatoren
Driburger Kreis
Ort
Lübeck
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2016 - 16.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Christopher Halm, Wissenschaftsgeschichte / History of Science, Universität Regensburg; Michaela M. Meissner, Universität Jena

Wie können die politischen Dimensionen von Wissenschaft, Medizin und Technik untersucht werden? Wie ist deren Beziehung zueinander zu analysieren? Normiert das eine das andere? Sind Wissenschaft und Politik überhaupt als voneinander getrennte Entitäten zu betrachten? Oder ist Politik Wissenschaft und Wissenschaft Politik? Sofern das eine nicht das andere ist, wie bildeten sich ihre Autonomien? Diesen Fragen widmete sich das Treffen des Driburger Kreises an der Universität zu Lübeck unter dem Titel „Die politischen Dimensionen von Wissenschaft, Medizin und Technik“. Wie gewohnt fand es im Vorfeld der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik statt. In einem informellen Forum, als welches sich der Driburger Kreis versteht, wurden die genannten Fragen von Studierenden, Promovierenden und Nachwuchswissenschaftler/innen der Medizin-, Wissenschafts- und Technikgeschichte und angrenzenden Disziplinen diskutiert. Neben einer Reihe von Vorträgen zu dem genannten Rahmenthema bot das Zusammentreffen auch die Möglichkeit, in einer konstruktiven Atmosphäre thematisch anders ausgerichtete Projekte vorzustellen.

LAURENS SCHLICHT (Berlin) gab in einem Initialvortrag Einblick in sein abgeschlossenes Forschungsprojekt zur Institutionalisierung einer Wissenschaft vom Menschen im Kontext der Französischen Revolution. Als „politisch“ definierte er alle Interventionen, die das Ziel haben, Normen der Vergemeinschaftung zu modifizieren oder zu konsolidieren. Am Beispiel der politisch motivierten Einführung einer „Allgemeinen Grammatik“ in den Lehrplan neugeschaffener Zentralschulen hinterfragte er den Zusammenhang von Wissenschaft und Politik. Wurden Wissenssysteme durch die Norm der Gleichheit von der Politik vereinnahmt und in Folge diese Vereinnahmung durch die Norm legitimiert? Oder handelten Akteure der Wissenschaft und der Politik kooperativ Gleichheitsforderungen aus, sodass von einem kausalen Zusammenhang bei der Einführung der Allgemeinen Grammatik ausgegangen werden muss? Sind der Mensch und dessen Opponieren gegen starke Ungerechtigkeiten als eine Konstante zu verstehen? Ist die Idee der Gleichheit Teil einer normativ wissenschaftlich-politischen Bewegung? Alle jene Fragen lassen sich nach der historischen Analyse bejahen. Eine Präferenz dürfe oder kann dabei jedoch nicht zugewiesen werden.

MARC BANDITT (Potsdam) veranschaulichte in seiner Präsentation „Die Verflechtung von Wissenschaft und Politik in frühneuzeitlichen Stadtrepubliken“ am Beispiel Danzig. Danzig war zwar bis 1793 in den polnisch-litauischen Herrschaftsverband integriert, stellte seit Mitte des 15. Jahrhunderts de facto allerdings ein autonomes Gemeinwesen dar. Die lokalen Entscheidungsträger, ein wertekonservatives Patriziat, suchten Mittel, um sich strategisch langfristig von der übrigen Bevölkerung abzugrenzen und ihre Macht zu sichern. Neben einer etablierten Heiratspolitik nutzten sie zunehmend die akademische Ausbildung als wesentliches Abgrenzungsattribut. Als Sinnbild jener Entwicklung kann die 1742/43 gegründete Naturforschende Gesellschaft angesehen werden. Sie bot einerseits die Möglichkeit zur sozialen Entgrenzung von Wissen und gewährte zugleich einen Raum, in dem theoretische Ansätze aus dem Bereich der Wissenschaften zu praktischen Konzepten umgewandelt werden konnten – wie zum Beispiel die Errichtung des Danziger Instituts zur Hebammenausbildung. Andererseits festigten ihre restriktiven Aufnahmekriterien – Mitglieder mussten von ständischem Rang und gutem Leumund sein sowie einen ständigen finanziellen Beitrag ableisten – die traditionellen lokalen Hierarchien. Letztlich bildete die Naturforschende Gesellschaft das Scharnier zu einem Patronagesystem, das den gesamten öffentlichen Raum durchdrang. Die Etablierung einer neuen Gelehrtenwelt war damit unmittelbar verbunden mit der Vereinnahmung durch die Politik. Der Zugang zu (freiem) Wissen und dadurch zu höheren Ämtern (Ratsherr, Stadtphysikus oder Professor) wurde von der städtischen Obrigkeit streng reglementiert.

Ein etwas konträres Bild bot PHILIPP KRANZ (Wuppertal) mit seinem Vortrag über die „Berufungen in der Mathematik (1933-1945)“. Kranz‘ historische Analyse folgte Mitchell Ashs Konzept der gegenseitigen Ressourcenmobilisierung. Ferner bezog er das „berufungspolitische Dreieck“ nach Christian Tilitzki ein, wonach die NSDPA und die Universitäten in Berufungsverfahren zu Professorenstellen Mittel zur hochschulpolitischen Umgestaltung sahen. Kranz erkannte Kontinuitäten in der Berufungspraxis und Berufungspolitik vom Kaiserreich, der Weimarer Republik, bis zur NS-Zeit. Der Versuch des NS-Regimes, die Universitäten nach nationalsozialistischem Duktus umzugestalten, sei im Falle der Mathematik nicht vollständig gelungen. Zwar habe die Entlassungspolitik von 1933 sehr viele jüdische Mathematiker rigoros aus ihren Ämtern gedrängt, dennoch konnten sich nationalsozialistische Interessen bei der Neubesetzung der Professorenstellen nicht ungehindert durchsetzen. Das lag nach Kranz zum einen an den wissenschaftlichen Interessen innerhalb der akademischen Netzwerke, zum anderen an der jeweiligen Individualität jedes Berufungsverfahrens, und nicht zuletzt an den divergierenden Interessen der am Berufungsprozess beteiligten Politiker. Kranz hinterfragte folglich kritisch die Vormachtstellung der Politik in der Beziehung zu den Wissenschaften.

FRANK HENSCHEL (Bremen) stellte Thomas Etzemüllers Analysekonzept des Social Engineering am Beispiel der Kooperation von wissenschaftlichen Experten und politischen Institutionen innerhalb des Kinderheimsystems der sozialistischen Tschechoslowakei vor. Dabei folgte Henschel dem Selbstverständnis des Sozialismus’, welcher sich dezidiert als wissenschaftliche Weltanschauung verstand und sich zur Legitimation politischer Maßnahmen vielfach auf wissenschaftliche Expertise verschiedener Felder bezog. Am Beispiel des Kinderheimsystems, welches die Tschechoslowakei 1947 von kirchlichen und privaten Trägern übernahm und massiv ausbaute, exemplifizierte Henschel die Kooperation von Sozialingenieuren aus Wissenschaft und Politik auf den Feldern Familie, Kindheit, Erziehung und Fürsorge. Henschel zeigte, wie mit neuen Methoden der Erziehung und Betreuung versucht wurde, das Ideal vom sozialistischen Menschen zu verwirklichen. Akteure aus Pädagogik, Psychologie und Medizin arbeiteten in Kooperation mit dem Staat Methoden und Konzepte einer kollektiven Erziehung aus. Der sich im Umbruch befindlichen Familie (Berufstätigkeit der Frau) sollte ein adäquater Ersatz entgegengestellt werden. Obgleich damit nicht versucht wurde, die Familie insgesamt als soziale Institution aufzulösen, herrschte dennoch die Überzeugung vor, eine nach wissenschaftlichen Kriterien organisierte Kollektivbetreuung sei mindestens gleichwertig gegenüber der Familie. Überraschenderweise bildeten sich innerhalb dieser Kooperation zwischen Wissenschaft und Politik über die Jahre ebenso konträre Ansichten, welche Gehör erhielten. Wissenschaftliche Experten schlugen letztlich in den 1960ern Alarm, dass ein Scheitern der kollektiven Erziehung drohe. In den sich anschließenden Diskussionen wurden komplexe Vorstellungen von Normalität, Konformität und nicht zuletzt dis-/ability mit Bezug auf Familie, Kindheit und Entwicklung neu ausgehandelt.

LAURA MENEGHELLO (Siegen) hinterfragte in ihrem abgeschlossenen Projekt „Jacob Moleschott: Wissenschaft, Politik und Popularisierung im Europa des 19. Jahrhunderts”, wie sich Inhalte und Kommunikation in Politik und Wissenschaft verändern, wenn ein Wissenschaftler politisch aktiv wird. In der Popularisierung von naturwissenschaftlichem Wissen und politischen Idealen erkannte sie ein Bindeglied zwischen den beiden Instanzen Wissenschaft und Politik. Jene Popularisierung ermögliche die Verbreitung einer auf den Naturwissenschaften basierende Weltanschauung zusammen mit Idealen von nationaler Einheit, Säkularisierung und ethischen Werten. In diesem Zusammenhang bot sich Jacob Moleschott eindringlich für eine historische Untersuchung an. Er war seinerzeit nicht nur forschender Mediziner, sondern auch Politiker von hoher internationaler Reputation. Sein wissenschaftliches Oeuvre ist nach Meneghello durchdrungen von politischen Idealen, kommunistischen Grundideen und dem Wunsch nach einer neuen Weltpolitik. Ferner nutzte Moleschott in Vorträgen politische Terminologien, um seine Erklärungen zu physiologischen Phänomenen zu popularisieren. Sein politisches Agieren war wiederum von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit geprägt: So wie es Naturgesetze gebe, derer sich die Wissenschaften unterordnen müssten, so gebe es diese auch für Staat und Gesellschaft. Nationale Einheit, Freiheit, Säkularisierung und ethische Werte seien nach Moleschott von der Natur vorgegeben. Sie realisieren sich letztlich durch die Wissenschaften, den wissenschaftlichen Fortschritt und die politische Agitation. Beispielhaft dazu war die Turndebatte des 19. Jahrhunderts: Die staatliche Förderung des Turnens war einerseits Teil einer wissenschaftlich begründeten Gesundheitsreform, andererseits pädagogische Maßnahme mit dem Ziel, die Stabilität der Nation durch Disziplinierung, Sozialisierung und einer daraus resultierenden höheren ökonomischen Produktivität zu stärken.

DAVID FREIS (Münster) bezog die Medien als eine dritte Instanz in das Wechselspiel zwischen Politik und Wissenschaften ein. In seinem Beitrag „Psychopathie und Kriegsschuldfrage: Psychiatrische Diagnosen Wilhelms II. im politischen Kontext, 1918-1927“ widmete er sich der nach Ende des Ersten Weltkrieges geführten Debatte um den geistigen Zustand Wilhelms II. Medial inszenierte psychiatrische Ferndiagnosen sollten Aufschluss über die Kriegsschuld des deutschen Volkes geben. Prototyp für spätere Bestrebungen war Ludwig Quiddes Verkaufsschlager „Caligua: Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“ (1894), die zwar literarisch-historische Analyse, insbesondere aber auch liberale Satire auf Wilhelm II. war und daher von Konservativen als Skandal aufgefasst wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg ließen sich linke Sozialdemokraten (August Forel, 1918) wie auch Rechtskonservative (Paul Tesdorpf, 1919) sehr ähnlich über den geistigen Zustand Wilhelms II. aus. Was zunächst wie politische Polemik erschien, war tatsächlich das ernsthafte Bemühen a) psychiatrische Diagnosen als politisches argumentum ad hominem zu nutzen, b) einen symbolischen Schlussstrich unter die Herrschaft der Hohenzoller zu ziehen, und c) die Frage der Kriegsschuld in einen neuen Kontext zu setzen. Nicht das deutsche Volk sei kollektiv zu bestrafen, sondern einzig Wilhelm II. Dass zudem dessen vorgebliche Geisteskrankheit auch in den allgemeinen internationalen Diskurs Einzug nahm, zeigte sich in Artikel 227 des Versailler Vertrages, der ein Tribunal gegen den exilierten Kaiser und damit indirekt auch die Möglichkeit einer Exkulpation aufgrund psychiatrischer Diagnosen in Aussicht stellte. Auch in der Folgezeit war Wilhelms Psyche Thema von Wissenschaft, Medien und Politik. Im Zuge eines rassisch orientierten Führerkultes wurden die Persönlichkeitsdefizite Wilhelm II. auch zum Gegenstand der Diskussion über Aristokratie, Erblichkeit und biologisch legitimierte Eliten.

Neben den Vorträgen traf sich der Driburger Kreis erstmalig mit der AG Mittelbau der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte. NADINE METZGER (Erlangen) und ALEXANDER VON SCHWERIN (Braunschweig) stellten Probleme und Ziele der Arbeitsgruppe vor. Hauptanliegen der AG ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland. Von den Teilnehmern des Driburger Kreises erhielt insbesondere ihre Initiative für eine schriftliche Fixierung einer einflussreicheren und gestärkten Position des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Satzung der neugegründeten Gesellschaft für die Geschichte der Wissenschaften, Medizin und Technik (GWMT) positive Resonanz.

Vor der Abschlussdiskussion warb EIKE HARDEN (Hamburg) für das Projekt Hamburg Open Archive, ein Digitalisierungsprojekt, dessen Quellenbestand sich vorrangig auf die Hamburger Stadtgeschichte bezieht und Teil der Hamburg Open Online University ist. In dem Projekt wird versucht, einen wissenschaftlich strukturierten und didaktisch aufgearbeiteten Zugang im Umgang mit Internetquellen aufzubauen.

Die Abschlussdiskussion versuchte, die Gemeinsamkeiten, Tendenzen und Gegensätze der einzelnen Vorträge zu identifizieren, um letztlich neue Analyse- und Problemfragen zu entwickeln. Auffällig war, dass Wissenschaftler in allen vorgestellten Themen aktive Teilnehmer am Prozess von Stabilitäts-, Identitäts- und Nationenbildung waren. Wissenschaftler waren sowohl Kritiker staatlichen Handelns als auch Mitgestalter staatlicher Strukturen. Für die historische Untersuchung scheint es nicht hilfreich zu sein, Wissenschaft und Politik pauschal als zwei zu jeder Zeit klar umrissene Bereiche zu betrachten. Vielmehr fließen Wissenschaft und Politik in den Individuen zusammen. Darüber hinaus wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern nicht nur Individuen und Institutionen, sondern auch Prozesse der Wissensproduktion selbst als politisch zu bezeichnen sind – und wie diese dann methodisch erfasst werden können. Offen blieb in dem Zusammenhang die Frage nach der politischen Dimension (der eigenen) historischen Arbeit. Kann letztlich jede Art der Wissensproduktion als eine Form der politischen Praxis aufgefasst werden? Resümierend sollte die historische Analyse jedenfalls nicht bei dem bloßen Eingeständnis, dass Wissenschaft von Politik mitbestimmt wird, stehenbleiben, sondern deren strukturellen und mikrodynamischen Verflechtungen jeweils zum Gegenstand der Analyse machen.

Konferenzübersicht:

VERENA LEHMBROCK (Weimar): Begrüßung
LAURENS SCHLICHT (Berlin): Einführung
MARC BANDITT (Potsdam): Die Verflechtung von Wissenschaft und Politik in frühneuzeitlichen Stadtrepubliken: Das Beispiel Danzig
LAURA MENEGHELLO (Siegen): Jacob Moleschott: Wissenschaft, Politik und Popularisierung im Europa des 19. Jahrhunderts
DAVID FREIS (Münster): Psychopathie und Kriegsschuldfrage: Psychiatrische Diagnosen Wilhelms II. im politischen Kontext, 1918-1927
PHILIPP KRANZ (Wuppertal): Zwischen Wissenschaft und Politik: Berufungen in der Mathematik (1933-1945)
FRANK HENSCHEL (Bremen): Social Engineering als Analysekategorie der Kooperation von Politik und Wissenschaft in der Moderne
NADINE METZGER (Erlangen) & ALEXANDER VON SCHWERIN (Braunschweig): Vorstellung der AG Mittelbau der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte
EIKE HARDEN (Hamburg): Das Projekt „Hamburg Open Archive“
VERENA LEHMBROCK (Weimar) & LAURENS SCHLICHT (Berlin): Leitung der Abschlussdiskussion