›Madensack‹, ›Fleischsbrod‹ und Doktorbarett. Luther, der Leib und die Valenz des Materiellen

›Madensack‹, ›Fleischsbrod‹ und Doktorbarett. Luther, der Leib und die Valenz des Materiellen

Organisatoren
Anne-Charlott Trepp, Universität Kassel; Siegrid Westphal, Universität Osnabrück; Julia A. Schmidt-Funke, Forschungszentrum Gotha / Universität Erfurt
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.04.2017 - 07.04.2017
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Von
Sophie Ziegler, Geschichte der Frühen Neuzeit Universität Kassel

2017 steht ganz im Zeichen des theologischen und kulturellen Vermächtnisses des großen Reformators. Im Zentrum der zweitägigen Tagung an der Universität Kassel ging es vielmehr um die Auseinandersetzung mit der Person Luthers aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Ausgehend von der These, dass in der eminent religiös geprägten Frühen Neuzeit theologische Konzepte und leiblich-dingliche Wahrnehmungen und Praktiken vielschichtig miteinander verquickt waren, zielte die Tagung darauf ab, die Bedeutung leiblich-materieller Dimensionen für Luthers Theologie wie auch für seine alltagsweltliche Sicht zu beleuchten. Aus theologie-, philosophie-, kunst- und kulturgeschichtlicher Perspektive wurden dazu Fragen nach der überlieferten Leibaffinität Luthers, der bildlichen Repräsentation seiner Körperlichkeit, nach seinem Menschenbild bis hin zu seinem Verhältnis gegenüber materiellen Dingen und Werten diskutiert. Den Anstoß dazu gaben neuere Studien zur theologischen Funktionalität „lutherischer“ Leib- und Körpererfahrungen, insbesondere der 2012 erschienene Essay „Der feiste Doktor“ von Lyndal Roper. 1

In ihrem einführenden Forschungsaufriss wies ANNE-CHARLOTT TREPP (Kassel) darauf hin, dass Luthers Fokussierung auf die Leiblichkeit jedoch nicht vorschnell auf eine einseitig positive Einstellung zum Körper schließen lasse. Das lege Luthers monastisch geprägte Verachtung des Körpers als „stinckender Madensack“ nahe 2, vor allem aber verweise sein lebenslanger, auch körperlich geführter Endzeitkampf gegen den Teufel 3 auf ein fundamental endzeitlich geprägtes Körperverständnis. Dies offenbare sich auch in Luthers körperbezogenen Attacken gegen Juden und Aufständische. Zugleich verbänden sich mit Blick auf den Leib und das Leiblich-Materielle bei Luther allgemeine, die kulturellen Konsequenzen des lutherischen Protestantismus betreffende Fragen, wie nach dem wissensgeschichtlich relevanten Verhältnis zu den Dingen bzw. zur Schöpfung und Natur, die das Webersche Diktum von der Entzauberung und Entsinnlichung des Protestantismus ein weiteres Mal brüchig erscheinen lasse.

Um Luthers Körperbild verorten zu können, widmete sich die erste Sektion unter dem Begriff „Anthropologie“ dem Menschenbild der Reformationszeit. BENEDIKT BRUNNER (Bonn) reflektierte in seinem Beitrag über „Leib und Seele in der Reformation“, inwiefern Luthers Leib-Seele-Konzept von Kontinuitäten bzw. Abgrenzungen zur aristotelischen und paulinischen Tradition geprägt war. Aus einer engen Verbundenheit Luthers mit der zeitgenössischen Affektenlehre leitete Brunner die Frage ab, wie die sinnlich-affektive Wahrnehmung das theologische Denken und die Frömmigkeitspraxis des Reformators beeinflusste. Er hob dabei besonders die Relevanz des Materiellen innerhalb der Spannung zwischen somatischem Erleben und theologischer Lehre hervor. Die anschließende Diskussion thematisierte besonders den (begrifflichen) Stellenwert von Reinheit bzw. Unreinheit im Zusammenhang mit Luthers Körperbildern.

Der zweite Beitrag von SASCHA SALATOWSKY (Gotha) griff die komplexen philosophischen Grundlagen des 16. Jahrhunderts auf und stellte Luthers Anthropologie des „ganzen Menschen“ ins Zentrum. Diese offenbare, so Salatowsky, trotz ihrer in sich angelegten Trichotomie von Leib, Seele und Geist (spiritus), zweifellos den Vorrang des Geistes vor dem Körper. Für die untersuchten Schriften – vor allem die Heidelberger Disputation von 1518 und die Disputatio de Homine 1536 – postulierte Salatowsky, weitgehend im Gegensatz zur Auffassung einer semantischen Aufwertung des Körpers, eine tendenzielle Leibfeindlichkeit oder zumindest eine leibliche Bedeutungslosigkeit bei Luther. In der Diskussion wurde nochmals Luthers Ablehnung einer starren Dualität zwischen Leib und Seele unterstrichen.

Zu Beginn der zweiten Sektion „Materialität und Repräsentation“ warf STEFAN HANß (Cambridge, UK) in seinem materialreichen Beitrag über Haare, Körperlichkeit und Reformation ein Schlaglicht auf die Korrelation von Haarmode und Religiosität bzw. dem Bekenntnis religiöser Identität. Anhand der Haarpredigten des Erfurter Predigers Eduard Schopp zeigte er auf, wie der göttliche Ursprung des „ganzen Menschen“ auch aus den Haaren abgeleitet wurde und die Haartracht gemäß des eigenen Standes zu Gottes Ehrerweisung diente. Laut Hanß begründe dies, wieso die Haar- und Bartmode im 16. Jahrhundert in hohem Maße religiös aufgeladen wurde und Haarveränderungen auch bei Luther als Übergangsritual in neuen Lebensphasen gelten können. In der Diskussion wurde das Phänomen der Haarpredigt als eindeutig lutherisches Genre verortet und der Haar- wie Bartwuchs als Medium protestantischer Abgrenzung und als Zeichen männlicher Potenz thematisiert.

MARIA LUCIA WEIGEL (Mainz) widmete sich in ihrem Vortrag der Inszenierung von Körperlichkeit im Reformatoren-Bildnis. An verschiedenen Porträts Luthers und anderer Reformatoren aus der Werkstadt Lucas Cranachs zeigte sie, wie neben einer leiblichen oder vestimentären Monumentalisierung der Reformatoren deren Körper zu deren Lehre in Beziehung gesetzt wurde: Die äußere Gestaltung diente dem Ausdruck einer inneren Wahrheit und sollte das Ungesehene sichtbar machen. Dass es sich hierbei um eine bereits säkulare Inszenierungsstrategie handelte, welche Cranach von seiner Fürstendarstellung auf die Reformatoren-Bildnisse übertrug, wurde in der Diskussion ebenso akzentuiert wie Luthers anzunehmende Einflussmöglichkeiten bei der Bildgestaltung und -verbreitung solcher Porträts.

Tag zwei der Tagung begann mit der dritten Sektion „Sexualität“. Unter diesem Stichwort stand die Verknüpfung von Leibaffinität und Sexualdiskursen im Vordergrund. Einleitend ermöglichte der Vortrag von FERNANDA ALFIERI (Trient) über Körpervorstellungen in der Moraltheologie des 15. und 16. Jahrhunderts einen dezentralen Blick auf Luther. In den zeitgenössisch sehr erfolgreichen katholischen Texten, so Alfieri, wurde der Körper als vitaler und mit der Seele interagierender Teil des Menschen betrachtet Durch die dauernde Korrespondenz mit der Seele wurde der Körper beständig einer sexuellen Versuchung ausgesetzt, die es zu unterdrücken und durch Mäßigung zu disziplinieren gelte. In der Diskussion kristallisierte sich die Bedeutung von Adams Sündenfall als zentrales Ereignis eines körperlichen Wandels heraus.

Auch im anschließenden Vortrag von UTE GAUSE (Bochum) stellte Adams Sündenfall die fundamentale Bezugsgröße dar. In ihrem Beitrag über Körperlichkeit und Sexualität bei Luther anhand der Genesisvorlesung von 1535 und 1545 skizzierte Gause, wie der Reformator Leiblichkeit und den Zeugungsakt im Paradies als absolut rein und heilig konnotierte. Hingegen sei die – im Besonderen männliche – Sexualität nach dem Sündenfall nicht nur durch sündige Gedanken, sondern durch triebhafte Leiden wie Hitze, Begierde und eine zuweilen schmerzliche Lust belastet. Die in der Genesis überraschend nachrangige Rolle der Frau wurde im Anschluss lebhaft diskutiert ebenso wie die Differenzen zu den in Luthers Eheschriften geäußerten Sexualitätsvorstellungen. Als plausible Erklärung wurde die Adressatenorientierung seiner Schriften und Lehren erörtert.

Den thematischen Rahmen der Sektion erweiterte der Beitrag von SIEGRID WESTPHAL (Osnabrück) um das medizinische Wissen bei Luther im Kontext von Schwangerschaft. Sie stellte heraus, dass der Reformator sich hier in den Diskursen seiner Zeit bewegte, jedoch entscheidende Neukonzeptionen vornahm: Die Ehe galt ihm als erster und höchster gesellschaftlicher Stand, der durch Gottes Schöpfungsauftrag des Zeugens und Gebärens von Nachkommen als gottgefälligstes Werk legitimiert wurde. Infolgedessen sollte die Gewissheit, durch das Ertragen der Leiden und Schmerzen während Schwangerschaft und Geburt gottgefällig zu handeln, den Frauen als Trost dienen und nicht mehr als Strafe für den Sündenfall aufgefasst werden. In der Diskussion wurde gleichzeitig Luthers partielle Verhaftung in der Tradition deutlich, da er laut Westphal zumindest unfruchtbare Frauen als schwächer und ungesünder ansah als gebärende.

In der letzten Sektion „Familiarität und Dinglichkeit“ musste der im Tagungsprogramm angekündigte Vortrag von KATHARINA BÄRENFÄNGER (Tübingen) über Vaterschaft und Kindschaft bei Martin Luther leider entfallen. Einen Einblick in Luthers Haushalt und Familie gewährte der Beitrag von JULIA A. SCHMIDT-FUNKE (Gotha/Erfurt) unter der Perspektive materieller Kulturforschung. Schmidt-Funke stellte dar, dass Luther zwar in Distanz zu renaissancezeitlicher Prachtentfaltung stand, dass er als Hausvater und Ehemann aber durchaus die zahlreichen Annehmlichkeiten seines privilegierten Lebens genoss. Bezüglich der „Sinnlichkeit und Dinglichkeit im Hause Luther und im Hause Gottes“ verdeutlichte Schmidt-Funke, dass die lutherische Reformation keine allgemeine Nüchternheit beförderte. Vielmehr ergab sich aus der lutherischen Rechtfertigungstheologie mit ihrer generellen Ablehnung äußerlicher Werke, dass Luther den Umgang mit materiellen Dingen für frei hielt, während er Askese als Ausdruck von Werkgerechtigkeit verurteilte. Aus dieser relativen Offenheit gegenüber weltlichen Dingen resultierte ein lutherisches Programm des Maßhaltens, da nicht die Dinge selbst gut oder schlecht waren, sondern es in der Verantwortung jedes einzelnen lag, gemäß der eigenen sozio-ökonomischen Position das rechte Maß zu finden.

Zu Beginn der Abschlussdiskussion unterstrich HEIDE WUNDER (Bad Nauheim) in ihrem Kommentar nochmals die Produktivität der komplexen Fragestellung zur Bedeutung von Leib und Materialität in und für Luthers Theologie mitsamt ihrer initialen Wirkung für die Forschung. Zugleich wurden aber auch grundsätzliche Probleme der materiell-leiblichen Forschungsperspektive benannt: Wie lassen sich Aussagen über Dinge und Körper treffen, welche sich lediglich über Texte und Bildquellen erschließen lassen? Bevor jedoch vorschnell Dinge und Diskurse gegeneinander aufgewogen werden, wurde daran erinnert, dass Materialität auch die Voraussetzung für Diskurse darstelle und Texte wie ihre Rezeption ebenso materiell verwirklicht seien.

Wie fruchtbar die Auseinandersetzung mit dem Materiellen auch über Texte sein kann, zeigen erneut die vorläufigen Ergebnisse der Tagung. Zusammenfassend deckten die Vorträge und Diskussionen über alle Sektionsthemen hinweg Leerstellen und Inkohärenzen in Luthers Lehren auf, bei denen sich auch die jeweilige Adressatenorientierung seiner Aussagen als wichtiger Faktor erwies – ob es seine Anthropologie, seine Leibaffinität oder die Aussagen zu Ehe und Sexualität betraf. Konstatiert wurde auch die Spannung und Ungleichheit zwischen Luthers Theologie und seinem tatsächlich gelebten Leben, da sein anspruchsvolles Programm des Maßhaltens scheinbar auch von ihm selbst kaum eingehalten werden konnte. Dabei wurde die Gefahr der diskursiven und dichotomischen Überformung der Pole Theologie (im Sinne von Theorie) und Praxis fortwährend mitreflektiert. Die am Ende der Diskussion festgestellten Desiderate, beispielsweise die leibliche Präsenz Christi als Streitfrage, die Stellung Katharina von Boras in diesen Zusammenhängen oder der Vergleich zu den Körper- und Materialitätsvorstellungen reformierter Theologen, lieferten zum Abschluss zahlreiche Impulse für die Option einer Folgetagung über Luther, den Leib und die Valenz des Materiellen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung

Anne-Charlott Trepp (Kassel)

Sektion: Anthropologie
Moderation: Siegrid Westphal (Osnabrück)

Benedikt Brunner (Bonn): „Was hilft's der Seele, dass der Leib [...] gesund ist?“ Leib und Seele in der Reformation
Sascha Salatowsky (Gotha): Leben, Tod und Auferstehung – Luthers Anthropologie des ganzen Menschen

Sektion: Materialität und Repräsentation
Moderation: Julia A. Schmidt-Funke (Gotha / Erfurt)

Stefan Hanss (Cambridge, UK): „Demnach vns gebu[e]hren wil […] die Lere Christi von den Haaren vnsers Ha[e]upts vnd Leibs o[e]ffentlich zu predigen“: Haare, Körperlichkeit und Materialität in der Reformation
Maria Lucia Weigel (Mainz): Inszenierung von Körperlichkeit und Körperhaftigkeit im Reformatoren-Bildnis

Sektion: Sexualität
Moderation: Anne-Charlott Trepp (Kassel)

Fernanda Alfieri (Trient): Notions of the body in Early modern moral theology and summae for confessors (15th-16th Centuries)
Ute Gause (Bochum): Körperlichkeit und Sexualität bei Martin Luther anhand der Genesisvorlesung von 1535-1545
Siegrid Westphal (Osnabrück): Schwangerschaft und das medizinische Wissen von Martin Luther

Sektion: Familiarität und Dinglichkeit
Moderation: Mareike Böth (Kassel)

Katharina Bärenfänger (Tübingen): Vaterschaft und Kindschaft bei Martin Luther
Julia A. Schmidt-Funke (Gotha / Erfurt): Sinnlichkeit und Dinglichkeit im Hause Luther und im Hause Gottes

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Lyndal Roper, Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen (Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge, Bd. 3), Göttingen 2012.
2 Volker Leppin, Madensack und Tempel des Heiligen Geistes. Leiblichkeit bei Martin Luther, in: Dimensionen der Leiblichkeit. Theologische Zugänge, hg. v. Bernd Janowski u. Christoph Schwöbel, Neukirchen-Vluyn 2015, S. 86-97.
3 Heiko Augustinus Obermann, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, München, 2. Aufl. 2016 (1982).


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