Landmedien im 20. Jahrhundert

Landmedien im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte, Universität Saarbrücken
Ort
Saarbrücken
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.10.2017 - 20.10.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Andre Dechert, Institut für Medien, Wissen und Kommunikation, Universität Augsburg

In der Geschichtswissenschaft ist mittlerweile „unumstritten“, wie auch Frank Bösch und Annette Vowinckel in ihrem Docupedia-Beitrag „Mediengeschichte“ konstatieren, „dass Medien in der Zeitgeschichte eine zentrale Rolle spielen“ und als „integraler Teil sozialer Wirklichkeiten“1 betrachtet werden müssen. Eher vernachlässigt worden ist in der zeitgeschichtlichen Forschung allerdings bisher die Frage nach der Bedeutung und Funktion von Medien in und für ländliche Bevölkerungs-/Gesellschaftsgruppen im 20. Jahrhundert. Dieser Forschungslücke wandte sich der vom Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte (Clemens Zimmermann, Gunter Mahlerwein, Aline Maldener) der Universität des Saarlandes organisierte Workshop „Landmedien im 20. Jahrhundert“ zu, der am 19. und 20. Oktober 2017 in Saarbrücken stattfand. Ziel der Organisator/innen war es, wie sie bereits im Call for Papers für den Workshop formulierten, mit der bisher vorherrschenden Praxis „einer ortlosen Mediengeschichte“ zu brechen und so das „Gesamtprojekt einer verräumlichten Mediengeschichte“2 zu bereichern.

Zu Beginn des Workshops suchten die Organisator/innen zunächst eine gemeinsame Definition von Landmedien zu etablieren, insbesondere da, wie GUNTER MAHLERWEIN (Saarbrücken) betonte, der Begriff noch nicht wissenschaftlich etabliert ist. Der Tatsache entsprechend, dass eng gefasste Definitionen oftmals ihren Gegenstandsbereich nicht umfassend greifen können, schlug auch Mahlerwein eine breite Definition von Landmedien vor, die die Aspekte Medienproduktion, Medieninhalte und Medienaneignung bzw. -rezeption gleichermaßen zu inkludieren sucht: Landmedien sind demnach solche Medien, die für oder von der ländlichen Bevölkerung produziert werden, das Land und/oder die ländliche Bevölkerung repräsentieren (sollen) oder im ländlichen Raum genutzt und angeeignet werden. Entsprechend der von den Organisator/innen des Workshops angelegten breiten Definition von Landmedien gestalteten sich auch die verschiedenen, unterschiedlichen Disziplinen (von der Geschichtswissenschaft über die Erziehungswissenschaft bis zu den Literatur-, Kultur- und Filmwissenschaften) entstammenden Beiträge in ihrem jeweiligem Verständnis von Landmedien durchaus heterogen, auch wenn ein eindeutiger Schwerpunkt auf Repräsentationen des Ländlichen und der ländlichen Bevölkerung festzustellen war.

Eine Reihe von Beiträgen nahm die Repräsentationen des Ländlichen und der Landbevölkerung in Film und Fernsehen in den Blick und sprach diesen Repräsentationen insbesondere in Bezug auf die Aushandlung des Verhältnisses von urbanen und ruralen Räumen eine zentrale Funktion zu. CHRISTIAN HISSNAUER (Berlin) befasste sich beispielsweise ausgehend von Protesten der ostfriesischen Bevölkerung mit der Darstellung Ostfrieslands in zwei Dokumentationen des NDR aus den 1970er Jahren. Er vertrat daran anknüpfend die These, dass in den letzten Jahrzehnten in den Dritten Programmen der ARD ausgestrahlte Dokumentationen zunehmend „tourismusfreundlich“ gestaltet sind und „zuweilen wie televisuelle Reiseprospekte“ erscheinen, die identitätsstiftend auf die Bevölkerung der jeweiligen (ländlichen) Region wirken. Ähnlich argumentierte auch MANUEL TRUMMER (Regensburg), der die Darstellung des ländlichen Bayern im Bayerischen Rundfunk (BR) aus der theoretischen Perspektive der Visual Governance betrachtete und dementsprechend den BR als bedeutenden „raumproduzierenden“ Akteur begriff, welcher das ländliche Bayern durch seine Darstellungen (mit)formt. Deutlich wurde in diesen beiden, als auch in den Vorträgen von MAURICE SPENGLER (Bochum), SELINA HANGARTNER (Zürich) und SEBASTIAN ENGELMANN (Tübingen) vor allem, dass die Repräsentationen des Ländlichen in einem Spannungsverhältnis zu dem Städtischen, dem Urbanen stehen (können). So sprach zum Beispiel letztgenannter in seinem Beitrag zur Reeducation im ruralen Raum von „Normen des Urbanen“ als die Repräsentationen prägenden Faktor: Die Stadtbevölkerung sei im Film Frischer Wind in alten Gassen (1951) als progressive Erziehungsinstanz gegenüber der Landbevölkerung dargestellt worden.

Ein eingangs des Workshops von CLEMENS ZIMMERMANN konstatiertes Forschungsdesiderat, nämlich die Frage nach konkreten Medienaneignungen und -praktiken der Landbevölkerung bildete zwar nicht den Schwerpunkt der Tagung, ist aber in einzelnen Vorträgen verstärkt thematisiert worden. Deutlich wurde allerdings auch dabei, dass der Begriff des Landes durchaus heterogen verwendet wird. JUDITH THISSEN (Utrecht) zeigte auf, dass abseits von in der Forschung häufig in den Blick genommen Medien wie Film, Fernsehen, Zeitungen auch Postkarten als Landmedium betrachtet werden können – nicht nur als Repräsentationen des Ländlichen, sondern auch als Medien, die im ländlichen Raum zirkulierten und als Kommunikationsmedium genutzt worden sind. DÖRTHE GRUTTMANN (Münster) legte in ihrem Beitrag zu den münsterländischen Kleinstädten Billerbeck und Telgte dar, dass ländlich(er)e Regionen durch „eigenständige Entwicklungen im Umgang mit Medien“ gekennzeichnet sein können. Dies zeigte sie anhand des 1945 errichteten Billerbecker Stadtfunks, einem bundesweit vermutlich wohl einmaligen Vorläufers des Lokalsender, und sowohl in Billerbeck als auch Telgte in den 1950er Jahren regelmäßig stattfindenden Diskussionsabenden zu Kinofilmen. Anhand des Vortrags wurde deutlich, dass Kleinstädte und ländlich(er)e Regionen nicht zwangsläufig als Peripherie der urbanen Zentren begriffen werden können, die erst ‚verspätet‘ von Medienwandelsprozessen ‚erfasst‘ und ‚mitgerissen‘ worden ist, sondern durchaus als Regionen mit einer eigenen Agency zu begreifen sind. Eine auf der Medienaneignung beruhende Agency der Landbevölkerung zeigte zudem ULRICH SCHWARZ (St. Pölten) auf, indem er „Spuren der Lektüre“ (hier zu Zeiten des NS-Regimes im österreichischen Landkreis Neunkirchen) in Verwaltungs-Eingaben der Bevölkerung nachwies. VITUS SPROTEN (Luxembourg) plädierte zudem anhand des Beispiels der Region Eupen-Malmedy dafür, auch sogenannte „Zwischenräume“3 in den Blick zu nehmen, in denen sich die ländliche Bevölkerung den Einflüssen verschiedener Nationen ausgesetzt sah und so Zugriff auf eine inhaltlich äußerst diverse Medienlandschaft besaß – das Konzept der Zwischenräume muss darf dabei allerdings nicht auf den ländlichen Raum beschränkt gedacht werden und kann z. B. auch auf urbane Regionen angelegt werden, wie in der Diskussion betont worden ist.

Eine weitere, wichtige Perspektive brachte im Rahmen des Workshops schließlich KATHARINA THIELEN (Saarbrücken) mit ihrem Vortrag ein, indem sie die Dichotomie Stadt-Land aufbrach und die zunehmenden Austausch- und Kommunikationsprozesse zwischen Stadt und Land betonte. Anhand des Beispiels der rheinhessischen Gemeinde Westhofen zeigte sie, dass sich die dörflichen Kommunikationsprozesse im Zuge des technologischen Wandels seit dem Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich verändert haben und nicht länger von dem Dorf als einem „mehr oder weniger geschlossenen Kommunikationsraum“ gesprochen werden kann. Treffpunkte von Ruralität und Urbanität müssen so potenziell auch innerhalb der Stadt, Gemeinde oder Dorfgemeinschaft verortet werden.

Am Ende des Workshops herrschte Einigkeit, wie auch ALINE MALDENER (Saarbrücken) in ihrem Resümee hervorhob, dass der ländliche Raum als medial konstruierter Raum zu betrachten ist – ein Konsens, der sich bereits zuvor in den zahlreichen Vorträgen zu den Repräsentationen des Ländlichen bzw. der Landbevölkerung ausgedrückt habe. Als lohnenswertes Forschungsfeld wurde in der abschließenden Diskussion insbesondere die Frage nach ländlichen Medienaneignungen und -praktiken, als auch Medienproduktionen hervorgehoben: Zukünftige Arbeiten, die diese Fragen aufgreifen, können unsere Perspektiven auf das Ländliche und insbesondere auch das Stadt-Land-Verhältnis maßgeblich durch eine weitere, zentrale Akteursperspektive bereichern.

Die zukünftige Landmedienforschung ist, so ist im Nachgang des Workshops zu resümieren, zunächst vor allem mit drei Fragen bzw. Aufgaben konfrontiert. So stellt sich erstens die Frage, inwieweit der Begriff Landmedien in einem ersten Schritt stärker über die Medienproduktion und Medienaneignung zu definieren ist. So wurde im Rahmen der Tagung deutlich, dass Landmedien insofern diese zunächst über Repräsentationen des (oftmals auch heterogen verstandenen) Ländlichen definiert werden stets die Frage nach den jeweiligen Produzenten und Konsumenten aufwerfen. Zweitens steht die Landmedienforschung vor der Aufgabe, ausgehend von den konkreten Medienpraktiken der Landbevölkerung, verstärkt ein breiteres Medienensemble und damit auch bisher potenziell eher vernachlässigte Medien (wie z. B. die bereits angesprochenen Postkarten) in den Blick zu nehmen. Drittens erscheint es für die Diskussion und Analyse von Landmedien unabdingbar, zukünftig auch das räumliche Konzept Land verknüpft mit Zeitregimen und -konzepten zu denken. Letztere sind gerade vor dem Hintergrund von Medienwandelsprozessen als wichtiger Untersuchungsgegenstand zu erachten, wie der Soziologe Hartmut Rosa bereits aufgezeigt hat.4

Abschließend sei hier für alle am Forschungsfeld Landmedien Interessierten darauf hingewiesen, dass 2018 eine Ausgabe des Jahrbuchs für Geschichte des ländlichen Raumes aus dem Workshop hervorgehen wird.

Konferenzübersicht:

Clemens Zimmermann, Gunter Mahlerwein (Saarbrücken): Begrüßung und Einleitung

Sektion 1: Mediale Imaginationen und Konstruktion des Ländlichen

Christian Hißnauer (Berlin): Das Idyll als Wiedergutmachung? Kritik und Verklärung der Provinz im bundesdeutschen Fernsehen der 1970er Jahre
Judith Thissen (Utrecht): Imagining Rural Modernity. Picture Postcards of Movie Theaters
Selina Hangartner (Zürich): „Wo die Luft ozonreich ist und würzig!“ Der Bergfilm um 1930

Sektion 2: Mediale Konstruktion ländlicher Räume und Milieus

Vitus Sproten (Luxembourg): Mediale Nationalisierungs- und Regionalisierungsprozesse in ländlichen Grenzräumen. Das Beispiel Ostbelgiens 1920-1975
Dörthe Gruttmann (Münster): Traditionelle Freizeitgestaltung und neue Medienkultur in den katholischen Kleinstädten Billerbeck und Telgte

Sektion 3: Landmedien und ihre „agency“: Demokratisierungs- und Politisierungspotentiale

Sebastian Engelmann (Tübingen): Reeducation im ruralen Raum. Frischer Wind in alten Gassen (1951) als Medium einer landspezifischen Demokratieerziehung
Manuel Trummer (Regensburg): Making Bavaria. Die visuelle Governance des ländlichen Bayern durch das Bayerische Fernsehen
Katharina Thielen (Saarbrücken): Kommunikation im Dorf. Transformationsprozesse vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Sektion 4: Landmedien und dörfliche Kommunikation

Maurice Spengler (Bochum): Geschlecht auf dem Land. Reproduktion, Arbeit und Familie in der Landfrauenküche
Ulrich Schwarz (St. Pölten): Landmedien und ihre Resonanz in Eingaben der ländlichen Bevölkerung an die lokale Agrarverwaltung im NS-Regime. Ein Fallbeispiel aus dem Kreis Neunkirchen/Donauland

Aline Maldener (Saarbrücken): Zusammenfassung und Diskussionsanregungen

Anmerkungen:
1 Frank Bösch / Annette Vowinckel, Mediengeschichte. Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012, <http://docupedia.de/zg/Mediengeschichte_Version_2.0_Frank_B.C3.B6sch_Annette_Vowinckel?oldid=124945> (02.11.2017).
2 Landmedien! Medien und Ruralität im 20. Jahrhundert, 19.10.2017 – 20.10.2017 Saarbrücken, in: H-Soz-Kult, 05.05.2017, <http://www.hsozkult.de/event/id/termine-34050> (02.11.2017).
3 Sproten verwendet den Begriff in Anknüpfung an Philipp Ther, Einleitung. Sprachliche, kulturelle und ethnische ‚Zwischenräume‘ als Zugang zu einer transnationalen Geschichte Europas, in: Philipp Ther / Holm Sundhaussen (Hrsg.), Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, Marburg 2003, S. IX-XXIX, hier S. XI.
4 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 10. Aufl. Frankfurt am Main 2014 (1. Aufl. 2005).


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