Jüdisches Kulturerbe und Kulturelle Nachhaltigkeit

Jüdisches Kulturerbe und Kulturelle Nachhaltigkeit

Organisatoren
Europäisches Zentrum für Jüdische Musik / Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH); Netzwerk jüdisches Kulturerbe; Bet Tfila – Forschungsstelle/TU Braunschweig; Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie Universität Basel; Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (SGV); Schweizerische Gesellschaft für Judaistische Forschung (SGJF) als Mitglieder der Schweizerischen Akademie für Geisteswissenschaften (SAGW); Jüdischer Kulturweg der Gemeinden Endingen und Lengnau, Aargau
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
06.09.2017 - 08.09.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Martha Stellmacher, Europäisches Zentrum für Jüdische Musik, Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

Gegenstand der Tagung waren konkrete Beispiele der Bestrebungen nach Dokumentation und Bewahrung des materiellen wie immateriellen jüdischen Kulturerbes, seien es mittelalterliche Synagogen, jüdische Musik oder Erinnerungsstücke im Exil. Die Konferenz brachte Vertreter/innen von Forschungseinrichtungen, Vereinen und Kommunen zusammen, die auf unterschiedliche Weise an der Bewahrung und Vermittlung von jüdischem Kulturerbe mitwirken und das Thema aus wissenschaftlichen, kulturpraktischen und kulturpolitischen Perspektiven beleuchteten. Die Veranstaltung, die damit von einer großen Vielfalt an Themen geprägt war, bot Raum zur Diskussion von Definitionen der Konzepte Kulturerbe und kulturelle Nachhaltigkeit und von Fragestellungen zu Besonderheiten jüdischen Kulturerbes im Unterschied zu anderem Kulturerbe, sowie zu Fragen des Umgangs damit.

Die Panels des ersten Konferenztages widmeten sich kulturwissenschaftlichen und philosophischen Aspekten jüdischen Kulturerbes. Im Mittelpunkt des Vortrags von FRANCINE GIESE (Universität Zürich) standen architektonische Besonderheiten der Synagoge Santa María la Blanca in Toledo, die im 12. Jahrhundert errichtet und im 15. Jahrhundert in eine Kirche umgewandelt worden war, sowie ihre unterschiedlichen Interpretationen. Bei der Rekonstruktion im 19. Jahrhundert wurden jüdische Elemente des Gebäudes zugunsten einer christlichen Geschichte eliminiert. An diesem Beispiel verdeutlichte sie, dass bei der Rekonstruktion eines Gebäudes immer eine Entscheidung getroffen werden muss, welche Aspekte der Geschichte erzählt und hervorgehoben werden sollen.

Unterschiedliche Narrative von Kulturerbe sowie Fragen von Eigentum und kulturellem Gedächtnis standen auch im Zentrum des Vortrags von RUTH F. DAVIS (Cambridge). Anhand mehrerer Liedbeispiele ging sie den Narrativen und der Rezeption von Musik in Tunesien nach, die von einigen als tunesisches “nationales Erbe” präsentiert wird und von anderen als traditionelle jüdische Musik verstanden wird. SARAH ROSS (Hochschule für Musik, Theater und Medien, Hannover) ging in ihrem Vortrag auf problematische Eigenschaften des Unesco-Nominierungsprozesses ein und stellte das Konzept der Kulturellen Nachhaltigkeit als alternative Methode zum Erhalt von Kulturerbe, die dynamische Prozesse berücksichtigt, vor. Am Beispiel der am Europäischen Zentrum für Jüdische Musik im Aufbau befindlichen Datenbank „Soundscape Synagoge” nahm sie das Konzept der Kulturellen Nachhaltigkeit als Strategie des Cultural Mappings in den Blick. In der Keynote Lecture zeigte EZRA KOPELOWITZ (Beer Sheva) am Beispiel seiner Arbeit für diverse jüdische Institutionen, wie ein zeitgemäßes Aufbereiten jüdischer Themen, vor allem der kulturellen Bildung, breitere Kreise der Öffentlichkeit erreichen kann.

Der zweite Konferenztag stand ganz im Zeichen des Kantons Aargau als jüdischem Kulturraum. Die Besonderheit dieser Region ist, dass die dortigen Dörfer Endingen und Lengnau im 18. und 19. Jahrhundert die einzigen Orte der Schweiz waren, in denen Juden siedeln durften. DOMINIK SAUERLÄNDER (Brugg), BARBARA PIATTI (Basel), KAREN ROTH-KRAUTHAMMER (Zürich) und SUSANNE PFANKUCH (Zürich) näherten sich dieser Region historisch, kulturwissenschaftlich-literarisch oder biografisch anhand von Personen und ihrer Werke, die auf unterschiedliche Weise mit dem jüdischen Aargau verbunden waren oder sind. Bei der anschließenden halbtägigen Exkursion ins Surbtal stand ein Besuch der Gemeinden Lengnau und Endingen auf dem Programm mit Besichtigung der Synagoge, Mikwe und Mazzenbäckerei in Lengnau sowie dem Jüdischen Friedhof und der Synagoge in Endingen. Im Blickpunkt standen dabei die Geschichte der jüdischen Stätten und Gebäude, ihre Rekonstruktion sowie aktuelle Projekte zum Erhalt, zur Präsentation und touristischen Nutzung, insbesondere das Projekt "Doppeltür", das auf die Errichtung eines Besucher-, Konferenz- und Ausstellungshauses in den beiden ehemaligen ‚Judendörfern‘ abzielt, und der Jüdische Kulturweg im aargauischen Surbtal.

Ein eigenes Panel war Beispielen gegenwärtiger Unesco-Anerkennungsprozesse gewidmet. In seinem Input zur Problematik des Unesco-Weltkulturerbes verdeutlichte ALEXANDER VON KIENLIN (Braunschweig) die Europazentriertheit der Unesco. Er stellte die Notwendigkeit des Unesco-Titels für diejenigen Monumente in Frage, die bereits unter nationalem Schutz stehen, und gab darüber hinaus zu bedenken, dass ein durch den Unesco-Titel ausgelöster Besucheransturm neue Fragen und Probleme des Kulturerbeerhalts aufwerfen kann. Drei Referent/innen, die an Unesco-Anträgen jüdischen Kulturerbes beteiligt sind, stellten die konkreten Antragsprozesse vor und gingen dabei auf die Strategien, den Stand der Bewerbung sowie den historischen Hintergrund der jeweiligen Stätte – das Erfurter jüdisch-mittelalterliche Erbe, die mittelalterlichen ShUM-Gemeinden (Speyer, Worms, Mainz) und der Portugiesenfriedhof in Altona – ein.

Mehrere Projekte zur digitalen Darstellung jüdischer Kultur und Kulturerbes wurden im letzten Panel in den Blick genommen und bildeten eine Vielfalt digitaler Nutzungsmöglichkeiten ab, die von Quelleneditionen über virtuelle Ausstellungen und die virtuelle Rekonstruktion von städtebaulichen Strukturen bis hin zu Online-Portalen zur Vernetzung bereits existierender Web-Projekte reichten. ELKE-VERA KOTOWSKI (Potsdam) eröffnete das Panel mit der Vorstellung des Projekts „Digitale Objekte des Exils”, das auf die Visualisierung und digitale Präsentation von Objekten, ihrem Kontext und ihrer Geschichte abzielt, die von jüdischen Emigranten aus Deutschland mit ins Exil genommen wurden. Anhand von ausgewählten Erinnerungsstücken deutsch-jüdischer Immigration in Lateinamerika veranschaulichte sie die sich wandelnden Kontexte und den Stellenwert dieser Objekte für ihre BesitzerInnen. PIERGABRIELE MANCUSO (Florenz) ging auf das „Ghetto Mapping Project” ein, im Rahmen dessen das Florentiner Ghetto auf Grundlage von Quellen aus dem Medici Archive virtuell rekonstruiert wird. DANA MÜLLER (Berlin) berichtete über ein Online-Portal, das vom Jüdischen Museum Berlin derzeit entwickelt wird. Das Portal hat zum Ziel, verschiedene Internet-Projekte zu bündeln und online verfügbare Informationen zum jüdischen Leben in Deutschland auf einer interaktiven Karte zu visualisieren und damit den nachhaltigen Zugang zu diesen Daten zu gewährleisten. Während die genannten Projekte noch im Aufbau sind, ist das einzige bereits öffentlich nutzbare der präsentierten digitalen Ressourcen und Instrumente die vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden veröffentlichte Online-Datenbank mit Quellenedition „Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte”, die von DANIEL BURCKHARDT und ANNA MENNY (beide Hamburg) vorgestellt wurde.

Die Abschlussdiskussion führte die im Konferenztitel genannten Konzepte „Kulturerbe” und „Kulturelle Nachhaltigkeit” zusammen, auf die innerhalb der einzelnen Konferenzbeiträge nur selten gemeinsam Bezug genommen wurde. Es wurde über eine Definition von jüdischem Kulturerbe diskutiert und die Frage gestellt, von wem, für wen und mit welcher Absicht jüdisches materielles und immaterielles Kulturerbe erhalten und restauriert wird. Hier wurde insbesondere über die Rolle der jüdischen Gemeinden und der akademischen Institutionen diskutiert. Ein wichtiges Thema waren außerdem die Folgen und Schattenseiten einer Anerkennung als Unesco-Kulturerbestätte. Vor dem Risiko der Musealisierung alles Jüdischen wurde gewarnt, vielmehr sollte die Pflege jüdischen Kulturerbes unter Einbeziehung der jüdischen Gemeinden stattfinden. Es wurde festgestellt, dass dies keine Frage des Eigentums sei, sondern der Übernahme von Verantwortung für Kulturerbe, die auch die Folgen berücksichtigt. Die Tagung zeigte mit ihrer Diversität der Beiträge und dem anregenden Austausch von TeilnehmerInnen aus Forschung, Pädagogik, Denkmalschutz oder Kulturarbeit erneut den Wert des Netzwerks Jüdisches Kulturerbe und den großen Bedarf zu dessen Verstetigung.

Konferenzübersicht:

Panel I Jüdisches Kulturerbe – Politische und philosophische Positionen
Chair: Theres Inauen (Basel)

Friedrich Schollmeyer (Universität Jena): Anthropologie als Kulturgut. Michael Landmanns Philosophie zwischen Utopie und Skepsis
Francine Giese (Universität Zürich): The Power of Symbols. Cultural Entanglement in Medieval Iberia and the Artistic Legacy of Sefarad

Panel II Kulturelle Nachhaltigkeit – geistes- und kulturwissenschaftliche Inputs
Chair: Stefanie Mahrer (Basel)

Ruth F. Davis (University of Cambridge): Tunisian Popular Song and the Jewish Past
Sarah Ross (Hochschule für Musik, Theater und Medien, Hannover): Cultural Sustainability as an Applied Research Strategy in Jewish Music Studies

Keynote Lecture

Ezra Kopelowitz (Beer Sheva): Successful Jewish Education in an Open Society – or: Opting into thick Jewish Culture

Panel III Jüdischer Kulturraum Aargau – Kurzpräsentationen

A - Historische Dimension
Chair René Bloch (Bern)

Jacques Picard (Universität Basel) ‚Doppeltür‘ und ‚Jüdischer Kulturraum Aargau‘. Informationen zu den neuen Vorhaben im Kanton Aargau
Dominik Sauerländer (Fachhochschule Nordwestschweiz): Jüdische Lebenswelten zwischen ländlicher Gemeinschaft, Urbanisierung und Verbürgerlichung 1830-1980.

B – Aargau als be- und entgrenzter Kulturraum: Porträts und Streiflichter
Chair: Angela Bhend (Basel)

Barbara Piatti (Basel): Travelling through Melnitz Country. Charles Lewinsky’s Novel as a Guidebook for Literary Tourists
Karen Roth-Krauthammer (Omanut, Zürich): Ein Kind Europas: William Wyler (1902-1981) oder Ben Hur in Hollywood
Susanne Pfankuch (Zürcher Hochschule Angewandte Wissenschaften): Alis Guggenheim (1896-1958) oder Kunst als Weise der Erinnerung

Panel IV Exkursion in das Surbtal, Kanton Aargau

Panel V Jüdische Friedhöfe: Spurensuche, Erforschung, Restaurierung und Nutzung Chair: Katrin Keßler (Braunschweig)

Olga Goleta (Minsk): Spuren jüdischen Lebens in Belarus: Die Geschichte der Zerstörung jüdischer Friedhöfe nach 1945
Michael Studemund-Halévy: UNESCO-Welterbeantrag: Der Portugiesenfriedhof in Hamburg

Panel VI UNESCO Weltkulturerbe: Aktuelle Anerkennungsprozesse
Chair: Ulrich Knufinke (Braunschweig)

Alexander von Kienlin (TU Braunschweig): Input zu Fragen und Problematik von UNESCO-Weltkulturerbe
Sarah Laubenstein (Kulturdirektion Landeshauptstadt Erfurt): Das Erfurter jüdisch-mittelalterliche Erbe: Vermittlung als Bestandteil des Antrags auf Aufnahme in die Welterbeliste der UNESCO
Joachim Glatz (Landeskonservator a.D., Worms): Die Wormser Synagoge – Ein herausragendes Zeugnis jüdischer Kultur, Geschichte und Tradition

Panel VII Jüdische Kultur zwischen materieller und virtueller Dimension
Chair: Sarah Ross (Hochschule für Musik, Theater und Medien, Hannover)

Elke-Vera Kotowski (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam): „Was spricht – worüber?“ Objekte des Exils und ihre Kontextualisierung – Erinnerungsstücke deutsch-jüdischer Immigration in Lateinamerika
Daniel Burckhardt und Anna Menny (Universität Hamburg): Jüdisches Kulturerbe digital. Materiell – immateriell – virtuell
Piergabriele Mancuso (Boston University) und Lorenzo Vigotti (Columbia University): Ghetto Mapping Project: Recovering a Lost Jewish Space
Dana Müller (Jüdisches Museum Berlin): Nachhaltigkeit in digitalen Projekten. Ein Bericht aus dem Jüdischen Museum Berlin

Abschlussdiskussion: Nutzen, anerkennen, virtualisieren: Was meint ein nachhaltiger Umgang mit jüdischem Kulturerbe? Ein Rück- und Ausblick zur Basler Tagung:

Sarah Ross (Hannover) / Alexander von Kienlin (Braunschweig) / Ezra Kopelowitz (Beer Sheva) / Jacques Picard (Universität Basel)