Frühneuzeitliche Wissenswelten und Sammlungen in Norddeutschland

Frühneuzeitliche Wissenswelten und Sammlungen in Norddeutschland

Organisatoren
Arbeitskreis Frühe Neuzeit der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2017 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Wencke Hinz, Residenzmuseum Celle

Frühneuzeitliche Wissenswelten und Sammlungen in Norddeutschland standen im Fokus der diesjährigen Herbsttagung des Arbeitskreises Frühe Neuzeit der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen.

Der Aufbau von Sammlungen verschiedener Ordnungen und Klassifikationen, die zunehmende Bedeutung und veränderte Bewertung von Wissensbeständen und die Verknüpfung mit einer spezifischen Form der ordnenden Logik entwickelten sich in der frühneuzeitlichen Epoche zu zentralen Charakteristika, die die Analyse und Rekonstruktion von Sammlungen und Wissenswelten in aktuellen Forschungszusammenhängen in den Blickpunkt rückt.

Nachdem bereits fürstliche und gelehrte Sammler als Akteure, verschiedenartige Sammlungspraktiken unterschiedlicher Bestände und die Materialität von Wissenswelten während der Herbsttagung 2016 thematisiert wurden, standen in diesem Jahr die Aspekte der Genese, der Innovation, der Interaktion sowie der Arkanisierung und Öffentlichkeit von archivalischen, bibliothekarischen und musealen Sammlungen im Vordergrund. In Anlehnung an aktuelle Entwicklungen der Tagungs- und Diskussionskultur wurden dabei je zwei prägnante historische Fälle den genannten Themenschwerpunkten zugeordnet und zur offenen Diskussion im Gesamtplenum bereitgestellt. Aufgrund der ausgesprochen ausgiebigen und informativen Diskussionen soll dieses Tagungsformat künftig fortgesetzt werden.

Nach der Begrüßung durch ANNE - KATHRIN HENKEL (Hannover) und HEIKE DÜSELDER (Lüneburg) sowie der Vorstellung der neuen Tagungsstruktur durch BRAGE BEI DER WIEDEN (Wolfenbüttel) begann das Tagungsprogramm mit Sektion I Genese.

BERND KAPPELHOFF (Hamburg), der die Moderation der ersten Sektion übernahm, stellte in seinen einführenden Überlegungen besonders die Diskrepanz zwischen den historischen Sammlungsschemata und den heutigen gesetzlich verankerten Regelungen und Definitionen hinsichtlich der jeweiligen institutionellen Form von Sammlungen und ihrem jeweils spezifischen Sammelgut heraus – eine zentrale Unterscheidung, die bei der Erforschung von Sammlungen unter dem Aspekt der Genese stets bedacht und berücksichtigt werden müsse.

Die zu diskutierenden exemplarischen Fälle der Sektion trugen MATTHIAS WEHRY (Hannover) und MARTIN KNAUER (Münster/Hamburg) vor. Der sogenannte Goldene Brief des birmanischen Königs Alaungphaya, der im März 1758 den britischen Königshof von Georg II. erreichte und von dort zur Verwahrung innerhalb der Medaillen-Sammlung an die Königliche und Churfürstliche Bibliothek in Hannover abgegeben wurde, gilt als herausragendes Beispiel für den „fluiden Charakter“ von Bibliothekssammlungen. Seine Überlieferungsgeschichte war nicht nur gekennzeichnet von den Handlungen einzelner Akteure und den jeweiligen klassifikatorischen Einordnungen in die verschiedenen Bestände der Bibliothek, sondern unterlag auch den sich im Verlauf der Jahrhunderte veränderten Sammlungs- und Funktionszuschreibungen, die von einer Einordnung als Kuriosität bis zu einer welfischen Memorabilia reichten. Die skizzierte Überlieferungssituation des „Goldenen Briefes“ und dessen Handhabung innerhalb der Bibliothekssammlung, unter anderem als repräsentatives Objekt, wirft nicht nur Fragen nach den variablen Aufbewahrungsmöglichkeiten der vielfältigen bibliothekarischen Bestände auf. In diesem speziellen Fall wäre auch eine Aufbewahrung im Archiv oder einer Münzsammlung möglich gewesen, so dass sich die grundsätzliche Frage nach den unterschiedlichen Motivlagen stellt, die die Genese von Sammlungen beeinflussen können.

Hieran anknüpfend sind Feldherrenbibliotheken, die oftmals als Teilbibliotheken größerer Sammlungen aufbewahrt wurden und überliefert sind, in einem Spannungsfeld zwischen praktischem Nutzen und Repräsentation zu verorten. Zum einen wurden die Bestände der Feldherrenbibliotheken als zentrale militärische Wissensbestände zur Vorbereitung von militärischen Aufgaben genutzt, zum anderen dienten sie im Sinne des „adeligen Sammelns“ als Repräsentationskammern der eigenen herausgehobenen Stellung innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Diese beiden Funktionszuschreibungen beeinflussten die bibliothekarische Genese und erklären die Einbindung einzelner Manuskripte, militärischer Modelle und Gemälde sowie die im Zuge der Aufklärung erfolgte Erweiterung der Sammlungsschwerpunkte um literarisch-philosophische Werke, u.a. in der exemplarisch vorgestellten Feldherrenbibliothek des Johann Matthias von der Schulenburg.

Aufgrund der zahlreichen Einflussmöglichkeiten, die den Prozess der Genese von frühneuzeitlichen Sammlungen und Wissensbeständen begleiteten und ihrer internen Fragilität, wird die detailgetreue Rekonstruktion archivalischer, bibliothekarischer und musealer Sammlungen allerdings eingeschränkt.

Die sich heute in den niedersächsischen Archiven, Bibliotheken und Museen widerspiegelnde Vielfalt ist der jeweils spezifischen Sammlungspolitik einer Institution zu zuordnen, laut JULIANE SCHMIEGLITZ-OTTEN (Celle) in ihren einleitenden Bemerkungen zur Sektion II Innovation. Die Sammlungspolitik ebenso wie die Frage nach immer neuen Erkenntnisgewinnen, die aus den bestehenden Sammlungen generiert werden können, beeinflussen die Wahrnehmung und Charakterisierung der sammelnden Institutionen und wirken innovativ.

Sowohl die Kunstsammlungen des Schlosses Salzdahlum, vorgestellt von JOCHEN LUCKHARDT (Braunschweig), als auch die Bibliothek des Wismarer Tribunals, referiert von KATJA JENSCH (Osnabrück/Wolfenbüttel), weisen entsprechende innovative Elemente auf.

Die Architektur und die Einrichtung des separaten Galeriebaus des Schlosses Salzdahlum sowie die Präsentation insbesondere der Gemälde als eine „Sammlungseinheit“, die nicht als Teil der Dekoration privater beziehungsweise öffentlicher Appartements genutzt wurde, sind Belege für den innovativen Charakter der Kunstsammlungen von Schloss Salzdahlum. Obwohl kunstgeschichtliche, repräsentative und vor allem auch machtpolitische Aspekte die Kunstsammlungen von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel auf Schloss Salzdahlum beeinflussten, stand insbesondere der Umgang seitens des Herzogs mit seiner Sammlung, der unter den Begriffen Separierung, Öffnung, Professionalisierung, Präsentation und Sicherung der Kontinuität subsumiert werden kann, beispielhaft für eine der frühesten innovativen frühneuzeitlichen Kunstsammlung im norddeutschen Raum.

Eine der ältesten Gerichtsbibliotheken auf dem Territorium des Alten Reiches ist diejenige des Wismarer Tribunals. Diese Institutionen- und Dienstbibliothek, mit zusätzlicher, an die Person des Rechtsgelehrten David Mevius geknüpften Memorialfunktion verbunden, verfügte bereits im 17. Jahrhundert über mehrere tausend Bände und verweist damit bereits auf das professionalisierte Rechtswesen, dessen Grundlage ein hoher Grad an Gelehrsamkeit des juristischen Personals bildete. Die als innovativ zu bezeichnende, fortschreitende juristische Wissenserweiterung schlug sich in der Zusammenführung verschiedener Bücherbestände und der stetigen Erweiterung der Bibliothek, insbesondere durch Ankäufe und Stiftungen, nieder. Neben Büchern wurde vielfach auch Prozessschriftgut in ungebundener Manuskriptform erworben, womit aber auch an diesem Beispiel eine genaue Abgrenzung zwischen den beiden Sammlungsinstitutionen Archiv und Bibliothek nicht vorgenommen werden kann und erneut auf die hinter den Sammlungen stehenden Interaktionsmuster verwiesen wird.

Die Sektion III Interaktion nahm diesen Aspekt auf. HEIKE DÜSELDER (Lüneburg), verwies in diesem Zusammenhang auf die vielfältigen Interaktionsformen zwischen einzelnen Sammlungen und Sammlungsbeständen, die unteranderem spezifische Netzwerke und soziales Kapital widerspiegeln. Diesen Zusammenhang erläuterte sie exemplarisch anhand der Interaktion zwischen den sakralen Beständen des Klosters St. Michaelis und den Lehrmittelbeständen der Ritterakademie in Lüneburg, die bisher früheste Form der Musealisierung sakraler Kunst im norddeutschen Raum und Grundstock für die Sammlungen des heutigen Museums Lüneburg.

Den langjährigen Prozess der Aktenteilung zwischen Wolfenbüttel und Hannover in den Jahren von 1636 bis 1691, der die Folge einer fürstlichen Erbteilung im welfischen Fürstenhaus war, skizzierte BRAGE BEI DER WIEDEN (Wolfenbüttel) und machte dabei auf die Auswirkungen von Krisen- und Kriegszeiten auf Archivbestände aufmerksam. Allerdings wirkte sich nicht nur der Dreißigjährige Krieg auf das Archiv aus, sondern auch der gesteigerte Raumbedarf und die Bedeutung eines geordneten Archivs im Rahmen des frühneuzeitlichen Regierungsverständnisses. Dieses führte letztendlich zu der nach Losverfahren erfolgten Aktenteilung zwischen Wolfenbüttel und Hannover. Sowohl von außen an die Sammlungsinstitution Archiv herangetragene als auch innere, aus der strukturellen Organisation des Archivs entstandene Interaktionsformen kennzeichneten die frühneuzeitliche Nutzung und Bedeutung von archivalischen Sammlungen und den darin verwahrten Informationen.

Eine von verschiedenen Akteuren ausgeübte Interaktion mit einer spezifischen Sammlung zeigte exemplarisch der Umgang mit der Privatbibliothek des Gerhard Wolter Molanus nach dessen Tod, thematisiert von ALESSANDRO APRILE (Hannover). Die Königliche und Churfürstliche Bibliothek, der Verleger und Hofbuchhändler Nikolaus Förster und die Erben von Molanus spielten dabei die entscheidenden Rollen und veranlassten die vollständige Separierung der umfangreichen Privatbibliothek, die neben mehreren tausend Büchern, unter anderem auch Münzen und Gemälde umfasste und somit als eine hybride Sammlung zu charakterisieren ist. Die Erwerbungen umfangreicher Teile der Privatbibliothek durch die Königliche und Churfürstliche Bibliothek spiegelt einerseits ihre Sammlungspolitik zu Beginn des 18. Jahrhunderts wider, andererseits die Interaktion zwischen Beständen herausragender Gelehrter, da bereits Teile des bibliothekarischen Nachlasses von Gottfried Wilhelm Leibniz vorhanden waren.

Frühneuzeitliche Sammlungen und Wissensbestände wurden in ihrer Bestandsbildung, ihrer Präsentation und ihrer Ordnung wesentlich von Aspekten der Arkanisierung und Öffentlichkeit beeinflusst, so BRAGE BEI DER WIEDEN (Wolfenbüttel) zur Einführung in die letzte Sektion IV Arkanisierung und Öffentlichkeit.

Einen speziellen Fall von Bestandsbildung, in dem das dezidierte Sammeln von Arkana zu einer grundlegenden Struktur zu gehören schien, stellte BEATE-CHRISTINE FIEDLER (Stade) anhand der Erskeinschen Sammlung vor. Diese Sammlung an Archivalien, die heute unter dem Titel „Stader Reichsarchiv“ im Niedersächsischen Landesarchiv – Standort Stade überliefert ist, wurde im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges vom schwedischen Kriegskommissar Alexander Erskein angelegt. Grundlage bildeten umfangreiche Plünderungen von Archivbeständen, die u.a. durch entsprechende Anweisungen des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna legitimiert wurden. Ein ausgeprägtes Bewusstsein sowohl für den historischen als auch hinsichtlich des politischen Wertes von Archivgut wird deutlich und klassifiziert Archive als politische Rüstkammern in der Epoche der Frühen Neuzeit, in denen die archivierten Wissensbestände als rechtliche und argumentative Mittel für die Ausübung von Herrschaft vorgehalten wurden. Trotz Anweisungen, die geplünderten Archivbestände an die schwedische Regierung nach Stockholm abzugeben, baute sich Erskein eigene Archivbestände auf, die u.a. verschiedenes Material zur Reichsgeschichte, zur Geschichte der Stadt Bremen und seiner persönlichen Dienstregistratur umfassten. Neben dem persönlichen Interesse an den historischen Überlieferungen bleibt die Frage offen, ob Erskein mit den in seinen Besitz gelangten Arkana seine Stellung bzw. seinen Einfluss bei den Schweden festigen und zugleich einen Prestigegewinn aus seiner Sammlung ziehen wollte. Eine Lagerung der Archivbestände auf dem erskeinschen Gut Schwinge verweist auf eine erneute Arkanisierung der geplünderten Archivalien und schließt eine Öffentlichkeit im Sinne von Nutzung und Zugang aus.

Ein deutlich verändertes Verständnis von Öffentlichkeit, maßgeblich beeinflusst von den Überlegungen der Aufklärer, nutzte dagegen Justus Möser in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie MARTIN SIEMSEN (Osnabrück) erklärte. Mösers Bibliothek, die sich über Erbschaften generierte und u.a. mittels gezielter Einkäufe ergänzt wurde, barg zugleich Arkana in Form von Protokollen der Landschaft des Fürstentums Osnabrück, wurde aber über entsprechende Veröffentlichungen in den sog. Intelligenzblättern einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht, in denen beispielsweise Ankäufe von Beständen verlautbart wurden. Diese in diesem Beispiel sichtbar werdende Bedeutungsverschiebung von Arkanisierung und Öffentlichkeit im Verlauf des 18. Jahrhunderts müsse bei Rekonstruktionen archivalischer, bibliothekarischer und musealer Sammlungen beachtet werden.

Frühneuzeitliche Sammlungen und Wissenswelten, so machte die diesjährige Herbsttagung des Arbeitskreises Frühe Neuzeit deutlich, sind in ihren vielfältigen Überlieferungsformen aus unterschiedlichen forschungsrelevanten Frageperspektiven zu betrachten. Genese, Innovation, Interaktion sowie Arkanisierung und Öffentlichkeit sind in diesem Zusammenhang relevante Analysekriterien, die aufeinander bezogen, die verschiedenen historischen Entwicklungen von archivalischen, bibliothekarischen und musealen Sammlungen aufzeigen und dazu beitragen, ein Charakteristikum der frühneuzeitlichen Epoche in den Gesamtkontext der Entstehung und Entwicklung von Wissens- und Informationswelten einzuordnen.

Die anregenden und weiterführenden Diskussionen im Rahmen dieses Tagungsformats trugen maßgeblich zur entsprechenden wissenschaftlichen Einordnung des Themas in den aktuellen Forschungsstand bei.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Anne-Kathrin Henkel (Hannover)

Heike Düselder (Lüneburg)

Vorstellung des Diskussionsformats durch Brage Bei der Wieden (Wolfenbüttel)

Sektion I Genese

Moderation: Bernd Kappelhoff (Hamburg)

Matthias Wehry (Hannover): Der Goldene Brief

Martin Knauer (Münster / Hamburg ): Reise- und Handbibliotheken kommandierender Feldherren

Sektion II Innovation

Moderation: Juliane Schmieglitz-Otten (Celle)

Jochen Luckhardt (Braunschweig): Kunstsammlungen des Schlosses Salzdahlum

Katja Jensch (Osnabrück/Wolfenbüttel): Bibliothek des Wismarer Tribunals

Sektion III Interaktion

Moderation: Heike Düselder (Lüneburg)

Brage Bei der Wieden (Wolfenbüttel): Aktenteilung zwischen Wolfenbüttel und Hannover

Alessandro Aprile (Hannover): Privatbibliothek Gerhard Wolter Molanus

Sektion IV Arkanisierung und Öffentlichkeit

Moderation: Brage Bei der Wieden (Wolfenbüttel)

Beate-Christine Fiedler (Stade): Erskeinsche Sammlung

Martin Siemsen (Osnabrück): Mösers Bibliothek

Abschlussdiskussion


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