"Und wenn wir einfach aufhörten?" Kulturen des Krieges und des Friedens im Jahr 1917 – Vorläufer, Folgen und Echos

"Und wenn wir einfach aufhörten?" Kulturen des Krieges und des Friedens im Jahr 1917 – Vorläufer, Folgen und Echos

Organisatoren
Institut Franco-Allemand de Sciences Historiques et Sociales de Francfort/Main; Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.09.2017 - 29.09.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Paul Alke / Carla Reitter, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Am 11. November 1918, Schlag 11 Uhr, beendeten die Armeen auf den Schlachtfeldern der Westfront ihre Kriegshandlungen. Qua Unterzeichnung des Waffenstillstands waren die zuvor noch verfeindeten Soldaten nun zu friedlichen Soldaten zweier Nationen geworden. Sie begegneten sich auf den Landstreifen zwischen den Gräben und tauschten Zigaretten. Es sind solche Szenen, die den Ersten Weltkrieg besonders töricht erscheinen lassen. Das Frankfurter Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften stellte sich aus diesem Grund auf seiner alljährlichen Tagung die retrospektive Frage „Und wenn wir einfach aufhörten?“. Im sich ebenfalls langsam zu seinem Ende neigenden Jubiläumsmarathon 2014 bis 2018 warfen die OrganisatorInnen der Tagung einen umfassenden Blick auf das Ende des Kriegs, oder besser gesagt die Enden des Krieges: In drei Sektionen ging es um kulturelle Vorstellungen vom Kriegsende, Friedensinitiativen und um Schauplätze, auf denen der Krieg nie zu einem Ende kam. Das Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften vereinte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Geschichts-, Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaften, und vor allem – in Abwendung von nationalen Geschichtsschreibungen – die deutsche und die französische Perspektive. Letztere wurde bereits in der Konzeption der Tagung deutlich, sind die „sorties de guerre“, also die im Plural gehaltenen „Kriegsausgänge“ ebenso wie die „entrée en paix“, der „Friedenseintritt“, im Gegensatz zum deutschen „Kriegsende“ doch eine in den französischen Geschichtswissenschaften beheimatete Begrifflichkeit. 1 Die Organisatoren Steffen Bruendel, Frank Estelmann und Pierre Monnet eröffneten die Tagung und skizzierten das Jahr 1917 angesichts der verschiedenen Initiativen und Kriegsereignisse als Binnenschwelle, an der die Durchhaltegesellschaften der kriegführenden Staaten an den Rand der Erosion gebracht wurden, an der aber auch Perspektiven für die Nachkriegs- und Friedenszeit sichtbar wurden.

In der ersten Sektion erörterten die ReferentInnen die Frage, wann und für wen der Erste Weltkrieg endete, wobei allen Beiträgen die Ansicht gemeinsam war, dass der Krieg über das Jahr 1918 hinauswirkte. CHRISTOPH CORNELIßEN (Frankfurt am Main) nahm dafür die Friedensnote von Papst Benedikt XV. in den Blick und erläuterte, dass sie paradigmatisch sei für die realpolitischen Unwägbarkeiten, die dem „Aufhören“ entgegenstanden. Das Oberhaupt der katholischen Kirche habe mit seinen Bemühungen, das „unnütze Gemetzel“ zu beenden, verkannt, wie vielfältig die Gruppe der Entscheidungsträger und wie tief und komplex sich die Strukturen der Entscheidungsfindung während der Kriegsjahre verzweigt hatten. Die „Penetranz des Misstrauens“ hatte sich nicht nur zwischen Feinden, sondern auch zwischen verschiedenen Lagern innerhalb der kriegführenden Gesellschaften breitgemacht und erschwerte eine mögliche Einigung, weil unterschiedliche Akteure und Institutionen an unterschiedlichen Zielen arbeiteten. Obwohl mit konkreten Vorschlägen ausgestattet, war die Initiative des Papstes letztlich im Gemengelage von Befehlsstrukturen, diplomatischen Interdependenzen und Erwartungslagen in den Bevölkerungen zum Scheitern verurteilt. Dieser Zustand hörte mit Kriegsende nicht einfach auf, wie CORINE DEFRANCE (Paris) und ULRICH PFEIL (Metz) in ihrem Vortrag darlegten. Dafür griffen sie die schon unter Zeitgenossen virulente Formel vom „Neuen Dreißigjährigen Krieg“ auf und wiesen damit auf eine anhaltende Kultur des Krieges hin, welche die Epoche – über Waffenstillstand und Friedensvertrag hinaus – prägte. In verschiedenen Bereichen dauerte der Krieg nach Kriegsende auf symbolischer und rhetorischer Ebene weiter an – bei staatlichen Trauerritualen, aber auch im Alltag internationaler Politik. So wurde Frankreich in Telegrammen des Deutschen Reichs noch bis zum Jahr 1924 als Feind bezeichnet. Trotz vieler ähnlicher Herausforderungen, mit denen die deutsche und die französische Gesellschaft in der Nachkriegszeit konfrontiert waren, gab es laut Defrance und Pfeil gravierende Unterschiede in der Selbst- und Fremdwahrnehmung zwischen den beiden Nachbarländern. Diese Einschätzung unterstützend zeigte VINCENT LANIOL (Paris), inwiefern weder der Vertrag von Rotonde noch der Vertrag von Versailles einen Beitrag zu einem echten Frieden leisten konnten. Eindrücklich rekonstruierte er die emotional und innenpolitisch verengten Handlungsspielräume der an den Verträgen beteiligten Akteure.

Während die erste Sektion zwar deutlich gemacht hatte, dass der Erste Weltkrieg weder nach Waffenstillstand noch nach Friedensvertrag endgültig überstanden war, widmete sich die zweite Sektion, den Anfängen des Kriegsendes im Jahr 1917. Das Kriegsende im Osten betrachtete SOPHIE CŒURÉ (Paris). Auf diskursiver Ebene stellte sie eine paradoxe Wahrnehmung Russlands in Frankreich fest: War Russland im Jahr 1914 noch als „rouleau compresseur russe“, als russische Dampfwalze, in Frankreich bekannt, wurde das Land nach den Revolutionen mit Frieden, aber auch mit Verrat assoziiert. Ebenso befasste sich NINA RÉGIS (Toulouse / Berlin) mit der Bedeutung öffentlicher Diskussionen für Krieg und Frieden, indem sie die Auseinandersetzungen über Brot in der deutschen Presse im Jahr 1917 vorstellte. Die wechselseitigen Einflüsse zwischen der Nahrungsmittellage und der Kriegsmüdigkeit führten laut Régis dazu, dass das Jahr 1917 zum Wendepunkt auf dem Weg zum Frieden wurde und stimmte so mit dem anfangs gezeichneten Bild der Binnenschwelle überein. MATTHIAS WAECHTER (Nizza / Freiburg) lenkte den Blick auf den US-amerikanischen Kriegseintritt und Woodrow Wilsons Rechtfertigung desselben. Im Zentrum der Argumentation stand laut Waechter die Vorstellung, dass der Kriegseintritt eine Chance darstellte, eine eigene globale Friedensordnung zu etablieren. Auf diese Weise deutete Wilson den amerikanischen Exzeptionalismus um und begründete eine Tradition der amerikanischen Weltpolitik, den Wilsonianismus, der über das gesamte 20. Jahrhundert und bis heute nachwirkt.

Die dritte Sektion verhandelte das Ende des Ersten Weltkriegs in den literarischen und visuellen Kulturen. Das Beispiel der zwei „Lauenburger Tagungen“ im Frühjahr und Herbst des Jahres 1917 nahm STEFFEN BRUENDEL (Frankfurt am Main) zum Anlass, um die zunehmende Polarisierung der deutschen Intellektuellen über die Frage der Zukunft ihres Landes zu illustrieren. In seinem Vortrag beschrieb Bruendel, dass die Faszination für korporative Gesellschaftsmodelle sowie die Suche nach politischer Führung in den Diskussionen immer wieder virulent wurden. Die Parlamentarisierungsdebatte, die auch auf Burg Lauenstein geführt wurde, war von der Ablehnung einer westlich-liberalen Ordnung und dem Wunsch nach einer „Revolution von oben“ geprägt. Das Schwellenjahr 1917 steht laut Bruendel aus diesem Grund auch für die zunehmende politische Radikalisierung der Intellektuellen. BRIGITTE BRAUN (Trier) analysierte Filme der UFA hinsichtlich ihrer territorialen Darstellungen. Sie zeigte, in welchem Maße Landkarten im neuen Massenmedium zu Propagandazwecken genutzt wurden – als „Aufklärung“ für die Alliierten und „Information“ für die Bürger. Wenn die „Zerstümmelung des Volkskörpers“ anhand der Frage der östlichen Grenzen gezeichnet wurde oder die französische Besetzung des Rheinlandes als „Durchdringung“ und „Verseuchung“, diente der Film laut Braun als Mittel der kontinuierlichen Mobilmachung gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages und perpetuierte damit eine grundsätzlich feindliche Haltung im Gewand von Unterhaltung und Nachrichten. Eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise wählte NICOLAS BIANCHI (Montpellier), der sich mit der Repräsentation von Frauen in der Kriegsliteratur zwischen 1918 und 1939 in Frankreich und Deutschland beschäftigte. Die Konstruktion der abwesenden Weiblichkeit an der männlichen Front in den Werken von Barbusse, Chevallier, Renn, Remarques und anderen, weise, so Bianchi, auf die Vorstellungen vom Ende des Krieges hin. Die Frauenfiguren in der Heimat dienten in den literarischen Bearbeitungen als Projektionsfläche für das Ende des Krieges, für die Rückkehr von der Front und die Verarbeitung des Erlebten. Als „marraine de guerre“ verkörperten sie nostalgische Erinnerungen an eine heile Welt, evozierten aber auch die Furcht vor Untreue und männlicher Ohnmacht angesichts schleichender Emanzipation. Die Frauenfiguren an der Front wiederum wurden mit Argwohn betrachtet und als hypersexualisierte Verführerinnen konstruiert. Das „Reich der Abwesenden“ sei so gekennzeichnet von zwei Topoi: dem des „Krankenschwester-Engels“ – fürsorglich, mütterlich – und der feindlichen und gefährlichen „Spionin-Dämonin“.

Nach drei Tagungssektionen über die Ausgänge des Ersten Weltkriegs, ging es in der vierten Sektion zu guter Letzt um die psychisch und physisch versehrten Überlebenden, mit denen der Krieg – seine Folgen und die Erinnerung an ihn – langfristig in den Gesellschaften sichtbar war, also genau genommen niemals zu Ende ging. Hier konnte die Tagung ihrem transnationalen Anspruch wirklich gerecht werden: STÉPHANE TISON (Le Mans) stellte seine Forschungen zur Versorgung psychisch kranker Soldaten in Frankreich vor, die nach drei Jahren Krieg im Jahr 1917 anlief. Obwohl sich die zuständigen Ärzte und Behörden umfangreich mit der Thematik auseinandersetzen, führten sie die psychischen Symptome nicht auf die im Krieg erlittenen Traumata der Soldaten zurück. Dass dieser Zusammenhang bei physischen Kriegsleiden nicht geleugnet werden konnte, demonstrierte PAVAN DALLA TORRE (Padua) mit der Geschichte des italienischen Verbands körperlich behinderter Kriegsveteranen ANMIG. Die behinderten Veteranen hätten sich zu einer wichtigen sozialen Gruppe im Nachkriegsitalien entwickelt, die für angemessene Arbeitsbedingungen und Sozialhilfe kämpften. Auch in Deutschland setzten sich versehrte Veteranen für ihre soziale Versorgung und gesellschaftliche Anerkennung ein, wie NILS LÖFFELBEIN (Frankfurt am Main) in seinem Vortrag darlegte. Der staatliche Umgang mit den 2,7 Millionen Veteranen in der Verlierernation erschwerte die Stabilisierung der Weimarer Republik. Obwohl es ein laut Löffelbein vergleichsweise leistungsstarkes Versorgungssystem gab, erfuhren die Kriegsbeschädigten gesellschaftliche Ausgrenzung, was die Nationalsozialisten schließlich massiv für ihre Ziele zu instrumentalisieren wussten.

Dank der vielfältigen Perspektiven, die in den Vorträgen eingenommen wurden, konnten „die Enden“ des Ersten Weltkriegs auf der Tagung phänomenologisch in den Blick genommen werden. Dabei wurde in den meisten Fällen deutlich, dass zwar die Kriegshandlungen im Jahr 1918 zu einem Ende kamen, dies aber mitnichten ein Ende des Krieges oder einen Anfang des Friedens bedeutete. Die Vorträge demonstrierten, wie der Ersten Weltkrieg langfristig in die an ihm beteiligten Gesellschaften hineinwirkte. Den Gesamteindruck der Tagung trübt ein wenig, dass einige Referentinnen und Referenten die dreitägige Veranstaltung nur für ihre Sektion oder den Nachmittag, an dem sie vortrugen, besuchten, weswegen keine kontinuierliche Diskussion des Gegenstands zustande kam. Insgesamt regte die Tagung zum Nachdenken über das Tagungsformat an sich an, denn trotz der spannenden Sektionen verfolgten abgesehen von den ReferentInnen in der Regel nur fünf bis zehn weitere Gäste das Geschehen.

Konferenzübersicht:

I. Einfach aufhören – wann und für wen endete der Erste Weltkrieg?

Christoph Cornelißen (Frankfurt am Main): „Die Friedensnote Benedikts XV. vom 1. August 1917 – Probleme des Friedensschließens im Weltkrieg“

Corine Defrance (Paris) / Ullrich Pfeil (Metz) : „Quand s’arrête la Première Guerre mondiale en France et en Allemagne?“

Axel Dröber (Paris): „Wann endete der Krieg? Phänomene transnationaler Mobilität in Deutschland und Frankreich während der Zwischenkriegszeit“

Vincent Laniol (Paris): „L’armistice de Rethondes et le traité de Versailles : une entrée en paix?“

Anne Duménil (Amiens): „Les initiatives de paix des institutions et organisations supranationales“

Guillaume Lancereau (Paris): „Les usages politiques de l’histoire en lendemain de guerre: la démobilisation intellectuelle des historiens de la Révolution française“

II. 1917 – Der Anfang vom Ende des Krieges?

Sophie Cœré (Paris): „1917, les révolutions russes et la paix. Les paradoxes de la géopolitique et de l’idéologie“

Matthias Waechter (Nizza / Freiburg): „Die Rolle der USA und Präsident Wilsons 1917“

Nina Régis (Toulouse / Berlin): „‘Der Schrei nach besserem Brot‘: Eine unmögliche Zensur? Eine Analyse zum Kriegsbrot in der deutschen Presse des Jahres 1917. Hintergründe und Auswirkungen“

III. Aufhören – Das Ende des Ersten Weltkriegs in den literarischen und visuellen Kulturen (1917-2017)

Steffen Bruendel (Frankfurt am Main): „Vorstellungen vom Kriegsende. Kunst und Literatur 1917/18“

Milan Horňáček (Olmütz): „‘Abschied von Habsburg‘. Inszenierungen des Kriegsendes in deutschsprachigen Kriegsromanen aus Böhmen und Mähren“

Brigitte Braun (Trier): „Krieg? Frieden? Grenzen? – Film und kulturelle Mobilmachung“

Nicholas Bianchi (Montpellier): „L’empire des absentes. Présences féminines et retours à la vie civile dans le roman de 14, France-Allemagne“

Maria Erben (Bonn): „Menschengemachte Apokalypse: Romain Rollands und Karl Kraus‘ Visionen des endlosen Kriegs“

Olag Müller (Marburg): „Frieden am Horizont: 1917 in Autobiographie und Fiktion nichtmobilisierter Autoren“

IV. Trauma und Verstümmelung – Der endlose Krieg

Stéphane Tison (Le Mans): „Les soldats blessé psychiques. Une sortie de guerre interminable?“

Ugo Pavan Dalla Torre (Padua): „Living Memory of the War: Mutilated Soldiers in Italy”

Nils Löffelbein (Frankfurt am Main): „Der staatliche Umgang mit den Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik und im Dritten Reich“

Bérénice Zunino (Besançon): „‘Hier aber ist das nüchtern-wahre, das gemein-naturgetreue Bild des Krieges photographisch festgehalten‘ – Körperversehrte als visuelle Erinnerungsorte des Krieges in Ernst Friedrichs Friedenspädagogik“

Anmerkung:
1 Stéphane Audoin-Rouzeau / Christophe Prochasson, Sortir de la Grande Guerre. Le monde et l’après 1918, Paris, Tallandier, 2008. Verwiesen sei an dieser Stelle noch auf die Veranstaltungsreihe des DHI Paris „Les sorties de guerre. France, Allemagne, Europe 1917-1923“, die noch bis zum Mai dieses Jahres stattfindet.


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