Polesien als Interventionslandschaft

Polesien als Interventionslandschaft

Organisatoren
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg; Justus-Liebig-Universität Gießen; Universität Siegen
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2017 - 24.11.2017
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Von
Silke Fengler, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung

Seit zwei Jahren wird Polesien, eine ausgedehnte Sumpf- und Waldlandschaft im Einzugsgebiet des Flusses Prypjat im ukrainisch-belarussischen Grenzgebiet, im Rahmen eines Forschungsverbundprojekts der Universitäten Siegen, Gießen und des Herder-Instituts Marburg untersucht. Polesien liefert als Schauplatz von zwei Weltkriegen, von Genoziden und von umfassenden Zentralisierungs- und Modernisierungskampagnen wechselnder Mächte zahlreiche Anknüpfungspunkte für die raumsensible historische Forschung. Der Marburger Workshop bot Wissenschaftler/innen aus Deutschland, den Niederlanden, Irland, Belarus und der Ukraine eine Plattform, um einen interdisziplinären Dialog über die „Interventionslandschaft“ Polesien zu führen. ANNA VERONIKA WENDLAND (Marburg), die das Verbundprojekt zu Polesien leitet, eröffnete den Workshop mit einem kurzen Rückblick auf die konzeptionell-theoretische Diskussion des ersten Workshops im Jahr 2016: Die Tauglichkeit des Konzepts der „Interventionslandschaft“ werde nun anhand empirischen Materials überprüft.

CHRISTOPH RASS (Osnabrück) stellte in seinem Eröffnungsvortrag ein alternatives Konzept vor, das der „Konfliktlandschaften“. Das Projekt untersucht in einer interdisziplinären Perspektive, wie "das Schlachtfeld" in seiner materiellen Genese in einen Dialog mit dem narrativ konstruierten "Schauplatz" des Krieges tritt, und wie sich beide Konstrukte wechselseitig beeinflussen. Rass zeigte, wie die Kriegsschauplätze Kalkriese und Hürtgenwald zu Fixpunkten aller möglichen Narrative für das doing landscape bzw. ein commemorative re-enactment durch Historiker, Kriegsveteranen, Landwirte und Geschichtspolitiker wurden. In seinem Kommentar warf THOMAS BOHN (Gießen) die Frage auf, was die Landschaft Polesiens dafür prädestinierte, zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen zu werden.

DIANA SIEBERT (Siegen) wandte sich in ihrem Vortrag zivilen Interventionen in Polesien zu. Sie entwickelte die These, dass von den fünf großen, als Konglomerat geplanten Modernisierungsprojekten der Ersten Republik Polen in Polesien lediglich die Flurbereinigung relativ erfolgreich war. Die Auflösung der Servituten, die Parzellierung von Agrarland, die militärische Besiedlung Ostpolesiens und die Melioration, an der sich auch niederländische Experten planerisch beteiligten, scheiterten an Geldmangel, Korruption und der Sorge des Staates, von ausländischen Kapitalgebern abhängig zu werden. Zudem seien die Projekte gegen den Willen der lokalen Bevölkerung durchgeführt worden. LIESBETH VAN DE GRIFT (Utrecht) regte in ihrem Kommentar an, die Wechselwirkung zwischen Planungsdiskursen und -praxis noch stärker aus der bottom up-Perspektive zu analysieren und dabei transnationale Einflüsse einzubeziehen. So ließe sich ein komplexes Verständnis über das Verhältnis von Staatsgewalt, in- und ausländischen Experten sowie der betroffenen Bevölkerung entwickeln. ARTEM KOUIDA (Gießen) griff in seinem Vortrag das Thema Melioration ebenfalls auf und stellte die überwiegend negativen Auswirkungen des sowjetischen Agrarentwicklungsprogramms im belarussischen Polesien dar. Kaum gesteigerte Ernteerträge standen gravierenden Umweltschäden gegenüber, die das Leben der rapide wachsenden Bevölkerung Polesiens in Stadt und Land nachhaltig veränderten. Der Biologiedidaktiker HANS-PETER ZIEMEK (Gießen) illustrierte in seinem Kommentar anhand von Tier- und Pflanzenpräparaten, wie hilfreich eine naturwissenschaftlich informierte Quellenkritik für die Geistes- und Sozialwissenschaften sein kann. Aufgrund der aus Bild- und anderen Quellen bestimmten Artenvielfalt ließen sich ganze Lebensräume rekonstruieren und die Einwirkung menschlicher Intervention nachvollziehen. KATJA BRUISCHs (Dublin) Vortrag beleuchtete die imperialen Wurzeln der sowjetischen Meliorierungsprogramme in Polesien im späten 19. Jahrhundert. Die von dem Hydraulikingenieur Josef I. Zhilinskij geleitete Westliche Expedition könne als paradigmatischer Fall der russländischen Umweltgeschichte gelten, da sie zum Modell für die Bewässerung von Steppengebieten im Zarenreich wurde. Die Expedition veränderte die öffentliche Wahrnehmung Polesiens stark und prägte den geographischen Diskurs, wonach das „rückständige“ Polesien durch staatliche Intervention zu einer Landschaft für Weideaktivität und Viehzucht wurde. In seinem Kommentar fragte der Landschaftsbiologe HANSJÖRG KÜSTER nach technikhistorischen Parallelen der polesischen Melioration zu Entwässerungsprojekten in den Niederlanden. Er regte an, den transnationalen wissenschaftlichen Meliorationsdiskurs systematisch in die Analyse einzubeziehen. THOMAS BOHN (Gießen) und ALIAKSANDR DALHOUSKI (Minsk) zeichneten in ihrem Vortrag die Metamorphose des im Süden der Belarus gelegenen Pripjat-Nationalparks nach. Unter der Ägide der Brüder Bambiza sei das Gelände seit den frühen 1990er-Jahren vom wissenschaftlich betreuten Naturreservat zu einem Nationalpark US-amerikanischen Stils umgewandelt worden, der internationale Jagdtouristen anlockt. Die belarussische Naturschutzbewegung habe den Eingriffen nichts entgegenzusetzen. Die Biologin ANNA-KATHARINA WÖBSE (Gießen) schlug in ihrem Kommentar vor, die Geschichte des Pripjat-Nationalparks in den internationalen Diskurs um Feuchtgebiete einzubetten. Seit den 1960er-Jahren habe sich eine international gut vernetzte wetland community gebildet, der es gelungen sei, die lange Zeit negativ konnotierten Moore und Sümpfe durch Groß-Kampagnen zu „liquid assets“ umzudeklarieren. Es sei spannend zu erforschen, welche Rolle diese Bewegung im Fall der polesischen Sumpflandschaft gespielt habe. Im Vortrag der Stadtsoziologin NATALJA OTRISHCHENKO (Lviv) rückte mit der polesisch-ukrainischen Atomstadt Slawutytsch der urbane Raum als Interventionsort in den Mittelpunkt. Entworfen und gebaut nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986, sollte die Stadt Umsiedler aufnehmen. In den Augen der von Otrishchenko befragten urbanen Bevölkerung habe sich Slawutytsch von einer Stadt der Wiedergeburt zu einer „grünen“ bzw. „jungen“ Stadt entwickelt, die stolz auf ihre „europäischen Quartiere“ sei (in denen als europäisch bezeichnete Stilelemente verbaut wurden). Ihre Bewohner pflegten kaum mentale Verbindungen zur Tschernobyl-Katastrophe. ANNA VERONIKA WENDLAND (Marburg) charakterisierte Slawutytsch in ihrem Kommentar als eine von „Notfall-bzw. Resilienz-Architektur“ geprägte Stadt. Sie könne als Versuch der Perestroika-Ära gedeutet werden, eine (post-)sozialistische Reformstadt zu kreieren. Obzwar viel Energie investiert worden sei, um die Erinnerung an Tschernobyl aus dem Gedächtnis der Bewohner zu tilgen, trage Slawutytsch weiterhin Züge einer typischen Atomstadt sowjetischen Stils. Anknüpfend an die Diskussion zu Slawutytsch, stellte die Ethnologin SVETLANA BOLTOVSKAJA (Marburg) Ergebnisse ihrer Feldforschung in den polesisch-ukrainischen Atomstädten Varash/Kuznecovsk, Netishyn und Prypjat vor. Ausgehend von Interviews mit Bewohnern dieser Städte sowie umliegender Dörfer rekonstruierte sie den Wandel lokaler Identitäten unter dem Eindruck der großen infrastrukturellen Kernenergieprojekte Polesiens. Während bei den ehemaligen Bewohnern der „Geisterstadt“ Prypjat das Katastrophennarrativ – oftmals in religiöser Überhöhung – vorherrscht, steht die Bevölkerung in Varash und Netishyn der Atomwirtschaft bis heute überwiegend positiv gegenüber. PAUL VICKERS (Gießen) griff in seinem Kommentar die These Boltovskajas auf, wonach in den drei Atomstädten infolge der Alltagspraxis der 1980er-Jahre ein melting pot entstanden sei, in dem die lokale und zugezogene Bevölkerung gleichermaßen von sowjetischen Modernisierungsanstrengungen profitiert habe. Er kontrastierte diese Einschätzung mit Befunden zur polnischen Industriestadt Lublin. Dort seien die Erwartungen der städtischen Bevölkerung an ein „gutes Leben“ trotz Infrastruktur und zahlreicher Kulturangebote enttäuscht worden. CLAUDIA KRAFT (Siegen) faßte in ihrem Abschluß-Kommentar die wichtigsten Diskussionslinien noch einmal zusammen. So sei nach der Reichweite von Interventionen zu fragen, die von unterschiedlichen Verwaltungsebenen betrieben wurden. Zugleich müsse man den Handlungsspielraum der betroffenen Bevölkerung ausloten. Eine longue durée-Perspektive ermögliche es zudem, den Wissenstransfer, die Wissensspeicherung und Wissensverluste – etwa im Hinblick auf Melioration – besser greifen zu können. Künftige Forschung sei gut beraten, über die Historisierung von „Natur“ im Sinne einer Wechselwirkung zwischen historischen Diskursen und der Materialität von Natur nachzudenken. Der Workshop zeichnete sich durch lebhafte Diskussionen aus, die durch den interdisziplinären Hintergrund der Teilnehmenden befruchtet wurden. Die Veranstaltung zeigte viele neue, über Polesien hinausweisende Perspektiven auf. Sie gab einen wichtigen Impuls, um das Forschungsverbundprojekt zu Polesien 2018 zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen.

Konferenzübersicht:

Anna Veronika Wendland (Marburg): Begrüßung

Panel 1 Landschaft und Umwelt – Teil I
Moderation: Thomas Bohn (Gießen)

Christoph Rass (Osnabrück): Vorstellung des interdisziplinären Projekts „Konfliktlandschaften“
Kommentar: Thomas Bohn (Gießen)

Diana Siebert (Siegen): Polesien 1921-1939: Parzellierung, Flurbereinigung, Auflösung der Servituten, Sumpfentwässerung – Boden für Einheimische oder Neusiedler?
Kommentar: Liesbeth van de Grift (Utrecht)

Artem Kouida (Gießen): Die Melioration im belarussischen Polesien: Modernisierung auf Kosten der Natur
Kommentar: Hans-Peter Ziemek (Gießen)

Panel 2 Landschaft und Umwelt – Teil II
Moderation: Anna Veronika Wendland (Marburg)

Katja Bruisch (Dublin): Der Staat im Moor: Territorialisierung und Umweltwandel im Westen des Russischen Reichs (ca. 1873-1914)
Kommentar: Hansjörg Küster (Hannover)

Thomas Bohn / Aliaksandr Dalhouski (Gießen): Rewilding Belarus. Der Pripjet-Nationalpark 1969-2015
Kommentar: Anna-Katharina Wöbse (Gießen)

Natalja Otrishchenko (Lviv): Slavutych: Urban Practices, Memories and Imaginations
Kommentar: Anna Veronika Wendland (Marburg)

Panel 3 Raum und Identitäten
Moderation: Claudia Kraft (Siegen)

Svetlana Boltovskaja (Marburg): Nukleare Transformation lokaler Identitäten: Regionalbewußtsein und Atomwirtschaft im ukrainischen Polesien
Kommentar: Paul Vickers (Gießen)

Zusammenfassung und Ausblick

Claudia Kraft (Siegen)


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