6. Deutsch-Schweizerischer Studientag für Osteuropäische Geschichte

6. Deutsch-Schweizerischer Studientag für Osteuropäische Geschichte

Organisatoren
Universität Bern
Ort
Wiesneck
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.05.2018 - 04.05.2018
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Von
Eva Maurer / Felix Frey, Historisches Institut, Universität Bern

Studierende und Wissenschaftler/innen der Universitäten Zürich, Basel, Bern, Freiburg, Heidelberg, Konstanz und Tübingen trafen sich anlässlich dieses Studientags, um laufende Qualifikationsarbeiten und Forschungsprojekte zu diskutieren.

Ein erstes Panel zum Thema „Verflechten und Wandern“ (Chair: Klaus Gestwa, Tübingen) umfasste drei Beiträge, in denen transnationale Prozesse im Zentrum standen. KATERINA KOBCHENKO (Kiev / Konstanz) präsentierte ihr Forschungsprojekt zur ukrainischen Diaspora in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. Die Angehörigen der ‚dritten ukrainischen Emigrationswelle‘ bildeten in der BRD zahlreiche Verbände und Interessensgruppen. Diese äußerst heterogenen Akteurskollektive waren sich jedoch über keine einheitliche Strategie bei ihrer Positionierung im Gastland sowie dem korrekten Vorgehen gegenüber der Sowjetunion einig. Kobchenko zeigte auf, dass die von der bundesrepublikanischen Verwaltung als ‚Sowjetbürger‘ registrierten Ukrainerinnen und Ukrainer auf ihre Sichtbarkeit als eigenständige Gruppe hinarbeiteten. Dazu bedienten sie sich einer intensiven Publikationstätigkeit und öffentlicher Veranstaltungen. Das Fernziel der meisten ukrainischen Emigrant/innengruppen war jedoch auf den eigenen Herkunftsort gerichtet: Aus der Emigration heraus strebten sie die Selbständigkeit der Ukraine an und beabsichtigten, die sowjetische Republik vom sozialistischen Gesellschaftsmodell zu entkoppeln.

IVAN SABLIN (Heidelberg) führte als Projektleiter in das 2018 startende Forschungsprojekt Entangled Parliamentarisms: Constitutional Practices in Russia, Ukraine, China and Mongolia, 1905–2005 der Universität Heidelberg ein. Im Rahmen dieses Vorhabens befassen sich drei Doktorierende, ein PostDoc und der Projektleiter mit Konzepten und Praktiken des Parlamentarismus in Europa und Asien. Der geografische Fokus des Forschungsvorhabens liegt auf der Ukraine, Russland, der Mongolei und China. Wie Sablin darlegte, erfuhr das ursprünglich westeuropäische Konzept des Parlamentarismus in den genannten Staaten Umdeutungen und Veränderungen. Das Forschungsprojekt interessiert sich deshalb einerseits für die parlamentarischen Praktiken der einzelnen Länder, verfolgt aber auch die Wissenszirkulation nach, die das Konzept des Parlamentarismus im europäisch-asiatischen Raum erfuhr.

Den Abschluss des ersten Panels bildete der Vortrag von ELISABETH JANIK-FREIS (Basel), die ihr weit fortgeschrittenes Promotionsprojekt zu galizischer Auswanderung nach Südamerika vorstellte. In ihrer Präsentation legte Janik-Freis den Schwerpunkt auf die Grenzstadt Myslowitz im Deutschen Kaiserreich – sie grenzte bis 1914 im Dreikaiserreichseck an das Russische Reich und Österreich-Ungarn. Für Emigrierende aus der Donaumonarchie und insbesondere aus dem Zarenreich bildete Myslowitz ein wichtiges Nadelöhr beim Transit an die deutsche Nordseeküste, wo sie die Atlantiküberquerung antreten wollten. In der Myslowitzer Kontrollstation prüften kaiserliche Beamte russische und österreichische Migrantinnen und Migranten, deren hohe Zahl die Verwaltung jedoch wiederholt überforderte. Wie Janik-Freis darlegte, war das Grenzregime im Dreikaiserreichseck nicht nur auf Migrationsregulation ausgerichtet, sondern auch eng mit einem ethnisch aufgeladenen Hygienediskurs verbunden. So wurde die Verursachung der Hamburger Choleraepidemie von 1892 bald russischen und insbesondere jüdischen Migrant/innen angelastet.

Im zweiten Panel „Regieren und Regulieren“ (Chair: Carmen Scheide, Bern) stellte zunächst TIMM SCHÖNFELDER (Tübingen) sein Promotionsprojekt zu Bodenmeliorationen im Kubangebiet vor. Bereits in den 1920er-Jahren rückte diese Schwarzerde-Region in den Fokus von Agrarexperten. 1929 wurde mit dem Reisanbau begonnen, welcher in der Planung sowjetischer Experten dereinst den Weizen ablösen sollte – was aber nie geschah. Schönfelder zeigte die Komplexität des Zusammenspiels von lokalen Akteuren, westlichen Fachleuten und russischen Bodenkundlern auf, welche wiederum internationalen Expertengruppen angehörten. Es bildete sich ein „agromeliorativer Komplex“ (Schönfelder), der in Gestalt des sowjetischen Wasserbauministeriums vor allem in den 1970er-Jahren über große finanzielle Mittel verfügte. Er agierte weitgehend ohne externe Kontrolle, war aber mit den Mängeln sowjetischer Planwirtschaft konfrontiert. So blieben von Jahrzehnten hochgesteckter Ziele und Meliorationsmassnahmen nach 1989 vor allem versalzene Böden und eine monokulturell dominierte Landwirtschaft zurück.

BENJAMIN GOLDSCHMIDT (Zürich) skizzierte daraufhin die Eckpunkte seines Promotionsprojekts zur Hygieneaufklärung im polnischen Judentum der Zwischenkriegszeit. In diesem Zusammenhang zeigte er einen Filmausschnitt aus dem Dokumentar-/Propagandafilm «Mir kumen on» von 1936. Neben dem dort porträtierten Medem-Sanatorium, das Goldschmidt in einer bundistisch-jiddischistischen Tradition verortete, waren auch zionistische Akteure am Hygienediskurs beteiligt. Die Analyse eher religiös getragener Akteure in diesem Feld steht noch aus. In der Diskussion dominierte die Frage, wie weit die in den Quellen präsenten Diskurse als spezifisch jüdisch bezeichnet werden können, beziehungsweise wie sehr sie einen breiteren, sozialistischen wie auch bürgerlich-modernen Fokus auf Gesundheits- und Hygienepolitik in den 1930er-Jahren reflektierten.

Der zweite Konferenztag begann mit einem von Philipp Casula (Zürich) moderierten Panel zu "Darstellen und Wahrnehmen". MATHIAS KIENZLER (Freiburg) eröffnete die Runde mit der Vorstellung seines Masterprojekts zum Alltag und zur Lebenswelt US-amerikanischer Medienkorrespondenten im Moskau der Chruščëv-Ära. Kienzlers Interesse gilt dabei unter anderem der Frage, wie die Lebensrealitäten im Moskau dieser Zeit, etwa die Absonderung der Korrespondenten in bestimmten Ausländerbezirken und -häusern oder die Schwierigkeit, persönliche Gesprächspartner zu finden, ihre Arbeit und ihre Berichterstattung prägten.

Das Master-Projekt von IGOR ZADAY (Freiburg) wiederum widmet sich dem in der Zwischenkriegszeit international und gerade auch in Deutschland sehr populären historischen Roman „Vom Zarenadler zur Roten Fahne“ von Petr Krasnov. Zwischen 1918 und 1920 verfasst und in über ein Dutzend Sprachen übersetzt, bot er eine populäre Darstellung der Revolutionsjahre und des Bürgerkriegs. In der Diskussion kam auch die schillernde Biografie des Autors zur Sprache, der in den Kosakenregimentern bis zum General im Ersten Weltkrieg aufgestiegen war und später gegen die Bolschewiki zunächst im Bürgerkrieg, dann wiederum nach Exiljahren im Westen im Zweiten Weltkrieg kämpfen sollte.

TATIANA VORONINA (Zürich) befasst sich in ihrem Projekt mit der der späteren Sowjetzeit. Sie zeigte am Beispiel von Velikij Ustjug in der Region Vologda, in welcher Weise die ländliche Jugend Objekt von Sorge, Erziehungs- und Verbesserungsbemühungen staatlicher Akteure war. Dabei wurde deutlich, dass die drängendsten Probleme – wie etwa die Abwanderung der gebildeteren jungen Generation – von offiziellen Stellen teilweise ignoriert und teilweise durch andere Diskurse überdeckt wurden, oft aber auch kaum lösbar waren, da die fortschreitende Bildungsoffensive und Modernisierung der Sowjetunion die Abwanderung vom Land in die Stadt unweigerlich nach sich zog.

In der letzten Sektion „Deuten und Umdeuten“ (Chair: Felicitas Fischer von Weikersthal, Heidelberg) stellte zunächst IRINA TIBILOVA (Freiburg) ihr Dissertationsprojekt zur Heroisierung und Militarisierung der Arbeit in der Sowjetunion vor. Das Projekt, das im Rahmen eines SFB-Projekts zur vergleichenden Analyse von Heroisierung der Arbeit in China und der Sowjetunion situiert ist, analysiert die Evolution der Vergabe von Orden wie dem "Helden der sozialistischen Arbeit" über einen längeren Zeitraum. Dabei fragt es auch nach der Rolle der sich verändernden Arbeitswelten: Während in den 1920er- und 1930er-Jahren noch Traktorist/innen und Bergleute wie etwa Aleksej Stachanov prototypisch die sowjetischen Arbeitshelden verkörperten, ist zu ermitteln, ob die wachsend prominente und gut versorgte Gruppe der sogenannten ‘technischen Intelligenz’ später auch bei den Arbeitsauszeichnungen vorne lag.

Der letzte Beitrag von RENATE GERSTENLAUER (Konstanz) befasste sich mit jener Gruppe von Wolgadeutschen, welche bei Kriegsbeginn 1941 in die Rote Armee eingezogen wurden beziehungswise eintraten, in den folgenden Kesselschlachten dann aber entweder zur Wehrmacht überliefen oder als Kriegsgefangene die Seiten wechselten. Wie ihre weitere Biografie verlief und wie diese Episode später in persönlichen oder für die Behörden bestimmten biografischen Rekonstruktionen interpretiert wurde, untersuchte Gerstenlauer anhand unterschiedlicher Quellen wie Interviews mit Zeitzeugen oder für staatliche Stellen bestimmten Lebensläufen. Diese Ego-Dokumente hatten oft zum Gegenstand, den Anspruch der betroffenen Personen auf Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft zu untermauern.

Der sechste deutsch-schweizerische Studientag bot die Möglichkeit zum fachlichen Austausch und einen interessanten Einblick in laufende Forschungsprojekte der sieben beteiligten Lehrstühle. Geografisch wie konzeptionell wies der Studientag eine hohe Diversität auf, wobei sich fruchtbare Verbindungslinien in den Vorträgen und Diskussionen eröffneten.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Verflechten und Wandern
Chair: Klaus Gestwa (Tübingen)

Kateryna Kobchenko (Kiev / Konstanz): Die ukrainische Emigration in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Von nationaler Selbstbestimmung zu transnationalen Aktivitäten

Ivan Sablin (Heidelberg): Entangled Parliamentarisms: Constitutional Practices in Russia, Ukraine, China and Mongolia, 1905-2005

Elisabeth Janik-Freis (Basel): Myslowitz. Das Grenzregime am Dreikaiserreichseck um 1900

Sektion 2: Regieren und Regulieren
Chair: Carmen Scheide (Bern)

Timm Schönfelder (Tübingen): Roter Fluss auf Schwarzer Erde. Aufstieg und Fall der Bewässerung am Kuban

Benjamin Goldschmidt (Zürich): Hygieneaufklärung im polnischen Judentum der Zwischenkriegszeit

Sektion 3: Darstellen und Wahrnehmen
Chair: Philipp Casula (Zürich)

Mathias Kienzler (Freiburg): „Wonderland Moscow“ - US-Amerikanische Korrespondenten im Moskau der Chruščëv-Ära

Igor Zaday (Freiburg): Von der roten Fahne zum Reichsadler – Die Darstellung der Russischen Revolutionsjahre bei P. N. Krasnov und ihre Rezeption in Deutschland

Tatiana Voronina (Zürich): The Hope of the Late Soviet Village: Representation of the Rural Youth in Party / Komsomol reports and in the Soviet press

Sektion 4: Deuten und Umdeuten
Chair: Felicitas Fischer von Weikersthal (Heidelberg)

Irina Tibilova (Freiburg): Heroisierung und Militarisierung von Arbeit in der Sowjetunion von den 1920er-Jahren bis 1960

Renate Gerstenlauer (Konstanz): Wolgadeutsche Rotarmisten im deutsch-sowjetischen Krieg 1941-1945: Helden, Vaterlandsverräter oder Überlebenskünstler?