21st Century Russian Cinema: on Boundaries, Margins and Space

21st Century Russian Cinema: on Boundaries, Margins and Space

Organisatoren
Mathias Althaler / Renate Hansen-Kokoruš / Ingeborg Jandl / Manuela Kovalev, Institut für Slawistik, Karl-Franzens-Universität Graz
Ort
Graz
Land
Austria
Vom - Bis
07.06.2018 - 09.06.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Egor Lykov

Die von Renate Hansen-Kokoruš, Manuela Kovalev, Ingeborg Jandl und Mathias Althaler organisierte Konferenz behandelte aus einer interdisziplinären Perspektive die Marginalität in der russischen Kinematographie des 21. Jahrhunderts. Die moderne russische Gesellschaft ist gespalten, und die Filme spiegeln einerseits diese Spaltung wider, andererseits tragen sie ebenfalls zur weiteren Spaltung der Gesellschaft bei. Mit dem Aufkommen der alternative cinema, der kinematographischen Medienerzeugnisse über und für niedrigere soziale Schichten, treten die Marginalität und die Devianz zunehmend in den Vordergrund der Betrachtung. Die Filme können dabei als sehr einflussreiche Medien fungieren, deren „aufklärerisches Potential“ die gesellschaftlichen Akzeptanzregeln der Marginalität nachhaltig verändert 1. Daher bedürfen solche Phänomene einer tieferen interdisziplinären Untersuchung. Die verschiedenen Umgangsformen mit Differenz und Diversität in der zeitgenössischen russischen Kinematographie wurden entlang der folgenden Fragen erörtert: Wie wird die Marginalität in der modernen russischen Kinematographie produziert? Welche marginalen Gruppen werden wie repräsentiert? Welche Stellung nehmen die Marginalität behandelnden Filme im Spannungsfeld zwischen der gesellschaftlichen Akzeptanz der Marginalität und der Zensur ein? Wie werden solche Filme im Ausland rezipiert, und welche ästhetischen Formen werden in diesen Filmen entwickelt? Welche Rolle spielen die räumlichen und geschlechtlichen Aspekte in der Repräsentation der Marginalität? Wie lassen sich die filmischen Bilder der marginalen Gruppen, Identitäten etc. mit dem Interesse des Publikums und den finanziellen Erfolgen der Filme in Verbindung setzen?

Die Diskussion methodischer Zugänge zur modernen russischen Kinematographie nahm im Tagungsablauf einen wichtigen Platz ein. Insbesondere das Verhältnis zwischen Realität und Virtualität in den Filmen rückte in den Vordergrund der Betrachtung. VLAD STRUKOV (Leeds) begründete die Sinnhaftigkeit der Benützung des Konzepts der Hyperlokalität nach Arjun Appadurai in der Untersuchung der Marginalität in der Kinematographie. Hyperlokalität sei dabei nicht ethnisch oder global zu verstehen, sie ermögliche multiple Analysefiltern und Perspektiven (interregional, russlandweit, föderal, transnational, global). Die Globalität werde lediglich zu einem Kontext, denn das Andere sei in den russischen Filmen visuell präsent, werde aber nicht wahrgenommen. So seien die Filme aus Jakutien, die kulturelle und sexuelle Diversität thematisieren und Gesellschaftskritik üben, populär in Thailand, aber unsichtbar in Russland. Hyperlokalität erfordere somit eine Revision des filmischen Kanons, in dem regionale Produktionen auch berücksichtigt werden sollen. BERNARDITA CUBILLOS (Los Andes) fasste die Relation zwischen Realität und Virtualität als Kristallbild nach Gilles Deleuze auf. Anhand des Films Russian Ark wurde die Transformation der historischen Zeit in die kinematographische Zeit behandelt. Der Film greife ein historisch und nationalpolitisch aufgeladenes Thema auf. Der repräsentierte Raum (Hermitage) fungiere dabei als kinematographisches Museum, Traum und Phantasmagorie. Zeit und Raum gehen im Film nicht mehr Hand in Hand, sondern lösen sich voneinander los. Sie schlussfolgerte, dass politische Kinematographie nicht mit dem filmischen Totalitarismus gleichzusetzen sei, denn der Film gebe den ZuschauerInnen Möglichkeiten, sich an der freien Konstituierung von Bedeutungen zu beteiligen.

Postkoloniale und feministische Ansätze wurden ebenfalls behandelt. Fokussiert wurden die Darstellungen der populär gewordenen russischen Provinz. ANDREI ROGATCHEVSKI (Tromsø) behandelte ethnoreligiöse Minderheiten in Russland. Der Film fungiere dabei als Mythenbildung. Während die sowjetischen ethnographischen Filme idealisierte Harmonie repräsentierten, werden jetzt historisch verwurzelte Konflikte nach außen getragen. Am Beispiel des Films über den Kazymer Aufstand (1931–1934) wird gezeigt, dass die Eingeborenen nach wie vor aus kolonialer Perspektive gezeigt werden, da die visuelle klischeereiche Sprache von sowjetischen Filmen übernommen werde. Jedoch weiche der Plot von der realen Geschichte stark ab. Es vollziehe sich eine Umdeutung der historischen Ereignisse, indem die Eingeborenen im Film siegen. IRINA SCHULZKI (München) behandelte ethnische und soziale Marginalität am Beispiel der Jakuten, die in der Gesellschaft desubjektiviert werden. ADELAIDE MC-GINITY-PEEBLES (Manchester) setzte sich mit weiblichen Figuren im provinziellen Raum auseinander. Die Männer dominieren die filmischen Bilder, und lediglich der Film „Twilight Portret“ liefere die weibliche Wahrnehmung der russischen Provinz. Die Frauen seien in Filmen oft hilflos und fungieren als Opfer. Zugleich personifizieren sie Russland, was den Frauenbildern eine Ambivalenz verleihe.

Die russischen nationalen Narrative wurden in mehreren Vorträgen diskutiert. CAROLINE HILL (Innsbruck) skizzierte anhand des gesellschaftskritischen Films Uchenik die Spannungsfelder zwischen dem religiösen Fundamentalismus und Säkularismus (jüdischen Liberalismus), Homosexualität und Homophobie, welche die moderne russische Gesellschaft prägen. SONIA BACCHI (Bologna) diskutierte die Rezeption des Films Uchenik in Europa. Als eine „unabhängige Produktion“ sei der Film außerhalb Russlands berühmt geworden. In Russland hingegen sei der Film kritisiert worden, weil er ein negatives Bild Russlands vermittle. Die Teilnahme russischer Filme an europäischen Filmfestivals wurde als eine Vertriebsstrategie angesehen. EGOR LYKOV (Wien) betrachtete die russische Geschichte und Identität durch kinematographische Skandale. Es handelte sich um den Film Mathilda, der aufgrund seines Inhalts zum Politikum wurde, da der Film die religiösen Gefühle der Gläubigen durch seine obszönen Darstellungen des letzten (seliggesprochenen) Kaisers verletzt habe. Der Vortrag schilderte Dynamiken des Skandals und die Interessensgruppen, die den Skandal wesentlich mitgeprägt haben. Durch seinen kritischen Blick wurde der Film im russischen medialen Raum marginalisiert. Auch wenn der Film offiziell nicht verboten wurde, waren die subtilen Formen der Marginalisierung maßgeblich.

Dem sozialen Kontext der Filmproduktion wurde ebenfalls Aufmerksamkeit geschenkt. NATALYA SHEVCHENKO (Lyon) untersuchte sprachwissenschaftlich den Gebrauch von Schimpfwörtern in der Kinematographie. Anhand der Analyse von 17 Filmen stellte sie zwei Gebrauchsmodelle der tabuisierten Lexik fest: Den punktuellen und flächendeckenden Gebrauch. Diese Lexik habe sieben Funktionen: Emotionell-expressive (Ausdruck starker Emotionen), charakterisierende (charakterisiert die Figuren, schafft Atmosphäre), identifikatorische (definiert eine Personengruppe, Zugehörigkeit), provozierende (schildert schockierende Realität), realistische (schafft Wahrheitsanspruch), ästhetische (steigert Authentizität der Figuren) und humoristische Funktion. Die Schimpfwörter in Filmen wurden 2014 verboten, was dazu führe, dass die FilmproduzentInnen auf andere Ausdrucksmittel ausweichen müssen. MARIYA DONSKA (Salzburg) behandelte die Poetik des Obszönen am wilden Strand durch räumliche, soziale und körperliche Marginalisierung. Der wilde Strand fungiere dabei als Raum des kollektiven Lebens. Die soziale Marginalisierung drücke sich dabei durch Alkoholismus, Pein, hässliche leidende Körper und Close-Ups von unterschiedlichen Körperteilen, Dreck und Sexualität aus. Das sei auf poetologische Vorstellungen des Filmproduzenten zurückzuführen, der sich für „natürliches Kino“ einsetze und die Kunst als „Instrument der Kriegsführung“ verstehe.

Während die Darstellungen der Homosexualität im russischen Film aufgrund der Zensurverhältnisse beinahe unmöglich sind, sind die filmischen Bilder der Behinderung unproblematisch. MANUELA KOVALEV (Graz) betrachtete den Film Klass korrektsii als Sozialhorror, in dem die gesellschaftlichen Vorstellungen über die Behinderung kritisiert werden. Die monströsen Bilder des Films zeigen deutlich, wie falsch die Vorstellung sei, dass soziale Devianz durch das Schulsystem ‚gebessert‘ werden könne. INGEBORG JANDL (Graz) diskutierte psychische Beeinträchtigung und die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn. Einen kritischen Blick auf das gesellschaftliche System liefere die filmische Adaptation der Erzählung Tschechows Palata Nr. 6. Dabei verliere das Subjekt seine Unabhängigkeit von der psychiatrischen Anstalt, und die Normalität und Wahnsinn seien als frei austauschbar dargestellt.

Die moderne russische Kinematographie wurde auch im Spannungsfeld zwischen Panslawismus und Politik erörtert. EGOR SHMONIN (Montreal) erklärte anhand des Films „für alle“ Elki, dass das Märchenhafte im modernen russischen Film politisch sei. Der Film sei ein Idealbild der russischen Gesellschaft, in der es keine Konflikte gebe, und die repräsentierten Geschlechterrollen seien archaisch. Zugleich sei der Film als geopolitische Repräsentation des „Pax Rossica“ zu verstehen. Das führe dazu, dass die Spielfilme realistisch wirken und mit dem tagesaktuellen politischen Geschehen zusammenhängen. DRAGAN BATANČEV (Montreal) behandelte den kinematographischen Neo-Panslawismus anhand persönlicher Netzwerke der FilmproduzentInnen nach Serbien. Obwohl die Serben in der russischen Kinematographie als ‚exotisch’ gelten, finden sie den Eingang in die russische Kulturszene nicht zuletzt durch ihre religiösen Überzeugungen. Das sei bei Miloš Biković, einem der populärsten serbischen Schauspieler, der Fall, der oft über die Religion diskutiere und den russischen Militarismus unterstütze. Das sei als eine Art kulturelle Diplomatie zu verstehen, wobei die serbischen Schauspieler als brückenbauende Figuren gelten.

Die Weltraumfahrt wurde an der Konferenz ebenfalls angesprochen. NATALIJA MAJSOVA (Antwerpen) betrachtete in ihrem filmgeschichtlichen Überblick die Konstruktion der sowjetischen Kosmonauten und analysierte Beziehungen zwischen Konstruktoren, Kosmonauten und der sowjetischen politischen Macht. Die Kosmonauten haben dabei nationale Charakteristika, sodass die Narrative aus dem Kalten Krieg in die moderne russische Kinematographie integriert seien. Der Plot bleibe genauso wie in der Sowjetunion normativ-optimistisch, die Stimmung patriotisch. ÅSNE HØGETVEIT (Tromsø) behandelte weibliche Außerirdische in den Science-Fiction-Filmen als die Verkörperung des Konzepts des „ewig Weiblichen“. Ihr Anderssein sei auf ihre übermenschlichen Fähigkeiten, Herkunft und Geschlecht zurückzuführen. Weibliche Außerirdische haben nur selten wichtige Rollen, während männliche Fantasien wie heterosexuelle Beziehungen bzw. Vater-Tochter-Beziehungen in den Vordergrund treten. Weibliche Cyborgs seien Intermediäre zwischen Mann und Leben, zwischen Menschheit und Gott. Die Erörterung vom Gender bei nicht-biologischen Substanzen stelle dabei die Position des menschlichen Subjekts und des Genders nachhaltig in Frage. An diesen Filmen werde ersichtlich, dass die Weiblichkeit nicht biologisch sei.

Die methodisch und disziplinär breit gefächerte Tagung ist meiner Auffassung nach sehr gelungen und förderte den interdisziplinären Austausch, auch wenn die Zeit für die Diskussion nicht immer ausreichte. Aus fachlicher Sicht war die Tagung ein wichtiger Meilenstein in der Erforschung der zeitgenössischen russischen Filmkultur und Gesellschaftskritik. Die Untersuchung der Non-Konformität in der russischen Literatur gewinnt zurzeit immer mehr an Bedeutung 2. Die Einbeziehung von anderen Medien in die Untersuchung von Umgangsformen mit Differenz hat dem Forschungsfeld zweifellos gutgetan. Neben SlawistInnen und FilmwissenschaftlerInnen waren an der Tagung auch HistorikerInnen, SprachwissenschaftlerInnen und KulturwissenschaftlerInnen vertreten. Trotz der interdisziplinären Zusammensetzung gab es nur noch wenig Einbindung der Erkenntnisse anderer wissenschaftlichen Disziplinen in die eigene Forschung der Vortragenden. Stärkere Einbindung kultureller Kontexte in die Untersuchungen wäre ebenfalls wünschenswert. Nichtsdestotrotz hat diese breit angelegte Erörterung der filmbildlichen Marginalität in der modernen Russischen Föderation die zahlreichen Facetten der (ethnischen, sozialen, politischen, kulturellen, geschlechtlichen, räumlichen etc.) Differenz in der modernen russischen Kinematographie auf den Punkt gebracht und deutlich gemacht, dass dies ein lohnendes Forschungsfeld ist, das viel Raum für die künftigen interdisziplinären Untersuchungen bietet.

Konferenzübersicht:

Minority Groups in Contemporary Russian Film - Students of the Institute of Slavic Studies
Film Screening - Andrei Zviagintsev Neliubov’ (Loveless, 2017)

Keynote Lecture:
Unseen Cinema: Theorizing the (In)visibility of Minorities in Russia - Vlad Strukov (Leeds)

Keynote Lecture:
On the Beneficence of Marginality, or David vs Goliath: Avant-garde Artists and Reindeer Herders in Aleksei Fedorchenko’s Angely revoliutsii (2014) - Andrei Rogatchevski (Tromsø)

Session 1: Marginalized Identities 1
Marginalized Groups
Uchenik: A Clash of Russia’s Civilizational Margins? - Caroline Hill (Innsbruck)

Session 2: Marginalized Visions

Russian Cinema Abroad: Transnational Relationships
Contemporary Russian Arthouse Cinema and its Relations with Europe. The Example of Kirill Serebrennikov’s Uchenik (2016) - Sonia Bacchi (Bologna)

‘Our Serbian brat’: Towards Cinematic Neo-Panslavism? - Dragan Batančev (Montreal)

The Aesthetics of Marginality

Cinematic Medium and its Political Projections in Aleksandr Sokurov’s Russian Ark - Bernardita Cubillos (Los Andes)

Zachem nuzhen mat v kino? O razlichnykh funktsiakh nenormativnoi leksiki v sovremennom khudozhestvennom kino - Natalya Shevchenko (Lyon)

Session 3: Marginalized Worlds
Creating New Spaces

Good Cinema: The New Fantasmic Documentality of Post-Soviet Russia - Egor Shmonin (Montreal)

Russian Film as Political Event: Russian Identity and History between Popularization and Marginalization - Egor Lykov (Vienna)
Documenting Marginalized Spaces

Aleksandr Rastorguev’s Dikii, dikii pliazh. Zhar nezhnykh. Marginality Produced by the Documentary Gaze - Mariya Donska (Salzburg)

(Re-)territorialization of the History of Soviet Spaceflight in 21st Century Russian Blockbusters - Natalija Majsova (Antwerp)

Session 4: Marginalized Identities 2
Marginalized Bodies

Life at the Margins in Ivan Tverdovskii’s Klass korrektsii - Manuela Kovalev (Graz)

Physical and Mental Disability in 21st Century Russian Film - Ingeborg Jandl (Graz)

Margins of Body and Language in Aleksei Balabanov’s Kochegar - Irina Schulzki (Munich)

Gendered Spaces

Provincial Spaces, Sexual Violence and Gendered Nationhood in Angelina Nikonova’s Twilight Portrait (2011) - Adelaide McGinity-Peebles (Manchester)

From Aelita (1924) to Star Worms (2011): The Female Alien and the Moral Vertical in Russian/Soviet Sci-Fi Cinema - Åsne Høgetveit (Tromsø)

Conclusion

Anmerkungen:
1 Vgl. Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 479.
2 Vgl. exemplarisch die aktuellen Sammelbände: Smola, Klavdia, Mark Lipovetsky (Hg.), Russia – Culture of (Non)Conformity. From the Late Soviet Era to the Present. In: Russian Literature 96–98, 2018. Smola, Klavdia (Hg.), Jewish Underground Culture in the Late Soviet Union. In: East European Jewish Affairs 48/1, 2018.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts