Das gebrauchte Buch / The Used Book. Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte

Das gebrauchte Buch / The Used Book. Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte

Organisatoren
Ute Schneider, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz; Daniel Bellingradt Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2018 - 26.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Kristina Hartfiel, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf

Seit einiger Zeit widmen sich Historikerinnen und Historiker im Rahmen eines material turn den ‚Dingen‘ und schreiben Geschichten über deren Produktion, Verwendung, Zirkulation sowie Bedeutung, wobei das (Be-)Nutzen von Bücher gemeinhin weniger Berücksichtigung findet.1 Dass jedoch ‚papierene Medien‘ – um einen Ausdruck aus der Konferenz aufzunehmen – als Objekte einen Platz in der Materiellen-Kultur-Forschung beanspruchen können, zeigte die diesjährige Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte. Unter Führung von Daniel Bellingradt (Erlangen), der die Tagung gemeinsam mit Ute Schneider (Mainz) konzipiert hatte, versuchte man interdisziplinär und epochenübergreifend Antworten zu finden, ab wann es sich um ein gebrauchtes Buch handelt. In seinem Vortrag machte DANIEL BELLINGRADT (Erlangen) dementsprechend einleitend vier mögliche Zugänge zum Buchgebrauch aus: Über die Materialität der Buchexemplare, im Sinne ihrer physischen Beschaffenheit wie auch des „afterlife of paper“ (Leah Price), über die Einführung einer chronologischen Ordnung (altes vs. neues Buch), über die Nutzung (gekauft/gelesen vs. ungekauft/ungelesen) sowie den Besitz (second-hand book) von Büchern.

Die ersten Vorträge zeigten, dass sich eine beginnende Segmentierung des Buchhandels und damit das Auftreten eines spezialisierten Gebrauchtbuchhandels an unterschiedlichen Orten in Europa zu unterschiedlichen Zeiten in den Quellen greifen lässt: Zunächst verfolgte GRAEME KEMP (St. Andrews) anhand von englischen Auktionskatalogen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Frage, wie preiswert tatsächlich gebrauchte Bücher waren. Ausgangspunkt bildete dabei die Mitteilung des Buchhändlers und Verlegers Robert Clavell im Vorwort zu seinem General Catalogue of Books Printed in England, dass Käufer auf Auktionen meist mehr für Bücher zahlen würden als im Handel. Die Auktionskataloge warben dabei auf ihren Titelblättern mit gebrauchten Büchern als Raritäten, so Kemp. Mit einem Vergleich von Auktions- und Neupreisen kann Kemp diese zeitgenössische Aussage jedoch widerlegen. Wenige Jahre nach ihrer Erstpublikation waren viele Werke bereits um die fünfzig Prozent billiger. Auch MONA GARLOFF (Stuttgart) zeigte anhand von „regulären Verkaufskatalogen“, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts im Reich das gebrauchte Buch von Buchhändlern als Wahrnehmungsebene eingeführt wurde. Beispielsweise anhand der Sortimentskataloge von Johann Bielcke aus Jena oder Georg Peter Monath aus Nürnberg erklärte sie, dass in der Quellensprache gebrauchte Bücher gebundene Bücher waren und sich der Buchmarkt um 1700 in Deutschland segmentierte. Die Buchhändler führten in ihren Katalogen die materiale Kategorie ‚Gebundene Bücher‘, beispielsweise als Käuferinformation, ein, womit sich die Herausbildung des Antiquariatsbuchhandels als spezifische Handelsform des gebrauchten Buches andeute. In Österreich gewann die spezialisierte Tätigkeit von Antiquaren und damit das Verständnis von Büchern als rare Ware erst im 19. Jahrhundert an Bedeutung, wie GEORG STÖGER (Salzburg) darstellte. Anhand von Quellen aus Wien und Salzburg zeigte er, wie gebrauchte - in der Quellensprache ‚alte‘ - Bücher auf sekundären Märkten wie dem Wiener Tandelmarkt beispielsweise als Leih- oder Sammelobjekt zirkulierten. Auch beim Recycling von Büchern waren die TrödlerInnen involviert, indem die Papierbögen als Käsepapier wiederverwertet oder als Makulatur verkauft wurden. Dabei spielten die materiellen Eigenschaften im Gebrauchtwarenhandel eine wichtige Rolle, da sich der Preis der gebrauchten Waren anhand der Äußerlichkeiten und des Gewichtes definierte. Zum Abschluss der Sektion zu den Formen des Gebrauchtbuchhandels, widmete sich SVENJA HAGENHOFF (Erlangen) der Verwertung von Büchern in der Gegenwart. Sie beschrieb verschiedene Phänomene des aktuellen Umgangs mit Büchern als nicht (mehr) benötigte Kulturgüter, wie zum Beispiel den Handel mit Büchern auf/durch „Momox“ oder die Weiterverwertung als Altpapier oder Dämmstoff. Ebenfalls mit dem gegenwärtigen Zustand beschäftigten sich MARISA KLEIN und CHRISTINA SCHÜSSLER (beide Mainz), die Ergebnisse einer Umfrage unter Antiquariaten zum zeitgenössischen Gebrauchtbuchmarkt im Rahmen eines Werkstattseminars an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vorstellten.

Während die erste Sektion vor allem die verschiedenen Distributionswege von gebrauchten Büchern in den Blick nahm, konzentrierte sich die zweite Sektion auf die Akteure und den Bucherwerb und rückte den Zugang zum Buchgebrauch über Nutzung und Besitz in den Fokus. JULIA BANGERT (Mainz) schilderte in Anlehnung an ihre im letzten Jahr eingereichte Dissertationsschrift die Suche und den Kauf von gebrauchten Büchern für die Bibliotheca Augusta (heute Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) durch so genannte Buchagenten. 28 dieser Zwischenhändler waren festangestellt, verteilten sich auf alle größeren europäischen Druckorte wie Nürnberg, Den Haag oder Rom und halfen mit ihrem umfangreichen Kontaktnetzwerk Herzog August dem Jüngeren zu Braunschweig-Lüneburg eine der größten Fürstenbibliotheken des 17. Jahrhunderts aufzubauen. Während der Herzog Novitäten zumeist über die Buchhändler direkt erwarb, beschafften ihm die Agenten vor allem seltene, wertvolle Bücher, die in seiner Sammlung noch fehlten. Gelegentlich kauften sie einzelne Werke sogar selbst und auf eigene Gefahr und kamen so – wie der Nürnberger Georg Forstenheuser – gezwungenermaßen zu ihrer eigenen Bibliothek auf Basis abgelehnter Titel, wie Bangert erläuterte. In der gelehrten Welt der Frühen Neuzeit hatten gebrauchte Bücher eine besondere Wertigkeit, weil sie beispielsweise eine berühmte Provenienz aufwiesen, durch Vorbesitzer reich annotiert waren und somit gelegentlich eine regelrechte intellektuelle Diskussion offenbarten wie SHANTI GRAHELI (Glasgow) in ihrem Vortrag an einigen Beispielen darstellte. Die res publica litteraria tauschte sich intensiv über Details zum gebrauchten Buch(handel) aus und fungierte damit als "used book club", um eine prägnante Aussage Daniel Bellingradts aus der Diskussionsrunde zu zitieren. Graheli betonte allerdings, dass dies nur eine Seite der Medaille sei, da die Gelehrten auch Neupublikationen diskutierten beziehungsweise sich gegenseitig zuschickten wie die Autorin dieses Berichts aus eigenen Forschungen zu berichten weiß. Ein weiteres Beispiel für die enge Verknüpfung von Gelehrtenrepublik und Büchern aus zweiter Hand lieferte ELISABETH ENGL (Erlangen). Am Beispiel der umfassend überlieferten Korrespondenz des Nürnberger Arztes und Botanikers Christoph Jacob Trew, widmete Engl sich der Praxis des Bucherwerbs bei Auktionen im 18. Jahrhundert. Anhand der Versteigerung der botanischen Bibliothek Joseph von Rathgebs in Wien zeichnete Engl den Prozess des Erwerbs bei einer Bücherauktion detailreich nach – von der Durcharbeitung des Auktionskatalogs durch Trew selbst, über den Ablauf der Aktion und das Bieten in Zusammenarbeit mit seinem Wiener Korrespondenten Siegmund Valentin Popowitsch bis hin zum Transport der Bücher nach Nürnberg. Insgesamt ersteigerte Trew auf dieser Auktion 118 Bücher, was für ihn eine nicht sonderlich erfolgreiche Auktion gewesen sei, so Engl. Allerdings zeige dieses Beispiel, wie eingangs im Vortag von Kemp, dass anhand von Auktionen eine preisgünstige Beschaffung von Büchern möglich war.

In einer dritten und letzten Sektion ging es um das Buch als Ressource und das Recycling als Gebrauch wurde in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Dabei kam die Ebene der Materialität vertiefend in den Blick der Tagung, da insbesondere der wesentlichen Rohstoff von Büchern, das Material ‚Papier‘, begutachtet wurde. Zunächst stellte SANDRA ZAWREL (Erfurt) den Handel mit Altpapier in Amsterdam während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar und beleuchtete die ökonomischen Wiederverwertungsstrategien von Makulatur – ein Thema das sowohl in der Buchhandelsgeschichte als auch in der modernen Distributionsforschung, wie bereits der Vortrag von Hagenhoff zeigte, ein blinder Fleck ist. Auch MATT POLAND (Washington) plädierte in Anlehnung an die medientheoretischen Ausführungen von Jussi Parikka für eine "deep media history", die die traditionelle Buchgeschichte in größeren Zusammenhängen denkt und vor allem umwelt- und ökonomische Kontexte off-stage berücksichtigt. So konzeptionalisierte Poland den Schriftsteller Charles Dickens als Medientheoretiker. Insbesondere dessen Novelle „Our Mutual Friend“ (1865) mit den Darstellungen von Arbeit, Schmutz / Abfall und Papier würde das Verständnis und Nachdenken über die Druckkultur im Viktorianischen England vertiefen. Zum Abschluss der Tagung rückten zwei Vorträge das Recycling von Büchern aus Rohstoffknappheit im Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt. Während PETER THORSHEIM (Charlotte) zunächst die Wiederverwendung und Weiterverarbeitung von Büchern in Großbritannien beleuchtete, blickte CAROLIN ANTES (Mainz) auf die deutsche Seite der Mobilisierung und Wiederverwertung des privaten Buchbestands. Im Gegensatz zu Großbritannien, wo in der Kriegszeit erfolgreich jeder angehalten wurde, Bücher zur Altpapiergewinnung zu spenden, richteten sich die Aufrufe in Deutschland vor allem an Behörden. Explizite Büchersammlungen aus diesem Grund und damit auch die Verwertung von Raritäten, gab es hier nicht. Allerdings wurden beispielsweise bei Betriebsstilllegungen oder den Enteignungen der Juden im Reich und in den besetzten Gebieten unerwünschtes, verbotenes und unverkäufliches Schrifttum der Altpapierverwertung zugeführt, erläuterte Antes – wohingegen beispielsweise juristisches Schrifttum aus jüdischem Besitz deutschen Behörden zugesprochen wurde.

Insgesamt zeigte diese sehr vitale Tagung, dass die eingangs von Daniel Bellingradt vorgestellten Zugänge zum Buchgebrauch kaum voneinander zu trennen sind. Materialität, Konsum, Aneignung und Zirkulation sind – insbesondere auf dem frühneuzeitlichen Buchmarkt – verschränkt, da neue Bücher in einem großen Maße als ungebundene ‚Halbwaren‘ in den Handel kamen und ihre weitere Gestaltung, wie zum Beispiel die der Einbände, erst vom Käufer vorgenommen wurden. Lesefertige Bücher im heutigen Sinne waren dementsprechend meist gebrauchte Bücher, wie viele Vorträge deutlich machten. Dennoch ließ sich eine einheitliche und geschärfte Definition des gebrauchten Buchs wie auch eine deutliche Abgrenzung zum Nicht-Gebrauchten nicht erarbeiten. Zumindest bei der Autorin blieb die Frage bestehen, ob es überhaupt ungebrauchte Bücher gibt: Wird nicht jedes Buch in irgendeiner Weise gehandhabt? Wenn nicht offensichtlich gelesen oder annotiert, wenigstens gesammelt, geordnet oder anderweitig verwertet? Ist es nicht wie verschiedene Forschungen schon gezeigt haben, ergiebiger das Buch als materielles Artefakt zu verstehen,2 und müssten so nicht eher die Nutzungsintensitäten und „bookish practices“3, das heißt die unterschiedlichen, an die jeweiligen Exemplare gebundenen, Praktiken (von der Herstellung bis zur Benutzung), wie es mehrfach auf der Konferenz anklang, betont werden? Bücher sind – wie andere Dinge – polyvalent, der Umgang mit ihnen gestaltet sich individuell und ihr Gebrauch ist von daher kontingent – ein inspirierendes Ergebnis.

Konferenzübersicht:

Daniel Bellingradt (Erlangen): Einführung

1. Sektion: Formen des Gebrauchtbuchhandel / Forms of Second Hand Book Trade

Graeme Kemp (St. Andrews): How Cheap were used Books at Auction? Retail Prices Vs. Auction Prices in England at the End of the Seventeenth Century

Mona Garloff (Stuttgart): Anfänge des Antiquariatsbuchhandels im Alten Reich des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts

Marisa Klein/ Christina Schüssler (Mainz): Ergebnisse eines Werkstattseminars zum Gebrauchtbuchmarkt an der GU Mainz

Hans-Jörg Künast (Augsburg): Augsburger Bücherlotterien im 18. Jahrhundert (entfallen)

Georg Stöger (Salzburg): Zwischen Skarteke, Leihbibliothek und Sammelobjekt. Zirkulationen von Büchern im vormodernen Gebrauchtwarenhandel

Svenja Hagenhoff (Erlangen): Wohin damit? Zum Umgang mit gebrauchten und gar nicht erst gebrauchten Kulturgütern

2. Sektion: Gelehrte Akteure und das gebrauchte Buch / Scholars as Actors and used books

Julia Bangert (Mainz): Auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Kauf und Vermittlung gebrauchter Bücher für und an die HAB Wolfenbüttel über die Agenten Herzog Augusts d. J.

Shanti Graheli (Glasgow): Used Books and the Republic of Letters

Elisabeth Engl (Erlangen): Bibliotheken unter dem Hammer. Christoph Jacob Trews Käufe bei Bücherauktionen

3. Sektion: Die Wiederverwertung von Büchern / Recycling of Books

Sandra Zawrel (Erfurt): Snippers, Misdruk, Munnikgrauw. Der Handel mit Altpapier in Amsterdam während des späten 18. Jahrhunderts

Matt Poland (Washington): Charles Dickens as Media Theorist

Peter Thorsheim (Charlotte): Words as Weapons: The Reuse and Recycling of Books in Great Britain during the Second Word War

Carolin Antes (Mainz): „Reserven heraus!“ Mobilisierung und Wiederverwertung des privaten Buchbestands der deutschen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs

Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme ist beispielsweise der von der Autorin mitorganisierte Workshop „Vom (Be-)Nutzen der Bücher. Praktiken des Buchgebrauchs in der Frühen Neuzeit“, 14./15.11.2014, Haus der Universität Düsseldorf. Sowie: Nadezda Shevchenko, Eine historische Anthropologie des Buches. Bücher in der preußischen Herzogsfamilie zur Zeit der Reformation (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 234), Göttingen 2007. Jüngst auch Ulrike Gleixner u. a. (Hrsg.), Biographien des Buches (Kulturen des Sammelns. Akteure – Objekte – Medien, Bd. 1), Göttingen 2017.
2 Vgl. Kristina Hartfiel / Tobias Winnerling, (Making) Use of Books: Counting, Measuring, Weighing, Reading. What Use is ‘Materiality’ in Examining Early Modern Books?, in: Book History and Print Culture Network. Interdisciplinary Perspectives from German-Area Scholars (D-A-CH), https://bookhistorynetwork.wordpress.com/2015/11/25/hartfielwinnerling_making-use-of-books_pdf/ (15.10.2018); siehe auch den Beitrag von Ursula Rautenberg, Das Buch als Artefakt und kommunikatives Angebot. Die Exemplargeschichte des Herbarius Latinus (Mainz: Peter Schöffer, 1484) aus der Bibliothek des Christoph Jacob Trew, in: Ulrike Gleixner u. a. (Hrsg.), Biographien des Buches (Kulturen des Sammelns. Akteure – Objekte – Medien; Bd. 1), Göttingen 2018, S. 37–84, Tafeln S. 429–434.
3 Marina Frasca-Spada / Nick Jardine (Hrsg.), Books and the Sciences in History, Cambridge 2000, hier S. 7.