Villes en guerre. L’urbanité moderne à l’épreuve du conflit (1800-1914) [Städte im Krieg. Moderne Urbanität im Konflikt (1800-1914)]

Villes en guerre. L’urbanité moderne à l’épreuve du conflit (1800-1914) [Städte im Krieg. Moderne Urbanität im Konflikt (1800-1914)]

Organisatoren
Frank Estelmann, Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Aurore Peyroles, Institut franco-allemand de sciences historique et sociales, Frankfurt am Main; Société des études romantiques et dix-neuviémistes (SERD), Paris
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.05.2018 - 01.06.2018
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Von
Jeanne Yapaudjian, Institut für Romanische Sprachen und Literatur, Goethe-Universität, Frankfurt am Main / Lyon

Während zahlreiche Untersuchungen über Städte im Krieg mit Bezug auf die beiden Weltkriege erschienen sind, etwa der von Philippe Chassaigne und Jean-Marc Largeaud herausgegebene Sammelband „Villes en guerre (1914-1945)“ (2004), liegen für die Epoche zwischen 1800 und 1914 nur wenige Studien vor. Diese Beobachtung sowie die Reichhaltigkeit der literarischen und historischen Entwürfe zu diesem Thema veranlassten die beiden Tagungsorganisatoren FRANK ESTELMANN (Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) und AURORE PEYROLES (Institut franco-allemand de sciences historique et sociales, Frankfurt am Main) dazu, Spezialisten der Literatur- und Geschichtswissenschaft sowie der Architekturgeschichte zu versammeln. Rückblickend auf das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert des explosionsartigen Städtewachstums, ging es in der deutsch-französischen Tagung darum, eine Genealogie der besonderen Situationen zu entwerfen, in denen Städte zwischen 1800 und 1914 mit dem Krieg konfrontiert waren. Dabei wurde untersucht, wie die modernen Vorstellungen von Urbanität durch das städtische Leben bedrohende bewaffnete Konflikte und Gewalt in Frage gestellt, temporär suspendiert oder (re)aktiviert wurden. Die innerhalb der Grenzen der Stadt wütenden Kriege, von den Napoleonischen Kriegen bis zum Ersten Weltkrieg, erzeugten paradoxe und komplexe Situationen, die von den einzelnen Vortragenden auf ihre mehr oder weniger sichtbaren Spuren beleuchtet wurden. Von Interesse waren vor allem die Reaktionen französischer und deutscher, aber auch italienischer Schriftsteller auf die Negation von Urbanismus und Urbanität, die Kriege mit sich bringen, auf die durch Krieg und Gewalt ausgelösten Traumata, und die dabei beanspruchten Kategorien, Verfahren und Deutungsmodelle in Literatur, Publizistik sowie im kollektiven Gedächtnis.

In der ersten Sektion, „Kriegsausbruch in der Stadt (1870-1871): von der belagerten zur revoltierenden Stadt“, standen die Belagerung von Paris und die Kommune im Mittelpunkt – sowie die Frage, wie dieses doppelte Ereignis als ‚städtisches‘ beschrieben wurde. Schwerpunkte lagen dabei auf dem Ablauf der Kämpfe in Paris und Châteaudun. Während der Eingangsvortrag von JOSEPH JURT (Freiburg) die diversen Veränderungen innerhalb von Paris beleuchtete und die Bedeutung der städtischen Barrikade herausarbeitete, entwickelte JEAN-MARC LARGEAUD (Tours) die mit dem Sektionsthema verbundenen Fragen in einer mikrohistorischen Perspektive auf die Schlacht von Châteaudun weiter. Châteaudun verkörpere im kollektiven Gedächtnis den Widerstand einer Stadt gegen eine einschüchternde, vergeltende und plündernde Armee, dessen einzelne Elemente analysiert wurden. Den Einfluss von Krieg und Kommune auf das zeitgenössische literarische Schaffen veranschaulichte dann ELÉONORE REVERZY (Paris) im Konzept der ‚poétiques du siège‘ (Poetik der Belagerungen) anhand der Beispiele von Edmond de Goncourt, Théophile Gautier, Joris Karl Huysmans und Léo Claretie. Deren in dieser Zeit entstandene Schriften zeugen nicht nur von einem hohen Maß an Aufmerksamkeit gegenüber der besonderen Situation eines Kriegsausbruchs innerhalb der Stadt, sondern hätten ebenso gemein, dass sie den Schauplatz der Stadt Paris im Kriegszustand in ein Schauspiel verwandelten, angesichts der Entbehrungen eine Poetik der ‚Liste‘ entwickelten, mit der sie die übriggebliebenen und die nicht mehr erhältlichen Nahrungsmittel aufzählten und den Ereignissen einen Sinn zuwiesen, der über das Chaos der Revolution hinaus in die Zukunft weise. Den Einfluss des historischen Kontextes der Pariser Kommune auf das literarische Schreiben bestätigen auch die Untersuchungen von HENNING HUFNAGEL (Zürich) über die Parnassiens: Während sich deren Vertreter ursprünglich vom Einfluss aktueller Ereignisse auf ihre Poesie distanzierten, versuchten Théophile Gautier, Leconte de Lisle und Théodore de Banville nun, ihre Dichtung den politischen Umwälzungen anzupassen, die Ereignisse der Zeit einzubinden und gleichzeitig ihren Prinzipien treu zu bleiben. Zu unterscheiden sei dabei eine Entwicklung politischer Inhalte in den Gedichten der Parnassiens vor, während und nach der Belagerung. Der historische Kontext spielte auch eine entscheidende Rolle in den von MALTE OSTERLOH (Berlin) erwähnten Texten über Georges-Eugène Haussmanns stadtplanerische Umgestaltung von Paris, die von einigen zeitgenössischen Schriftstellern als eine Art Krieg gegen Paris dargestellt wurde. Die Reaktionen auf die Haussmannisierung koinzidierten insofern mit dem Diskurs der Zerstörung, den man angesichts der Belagerung der Stadt und der Kommune reaktivierte.

CAROLINE MANNWEILER (Mainz) analysierte im Anschluss die Reaktionen in der republikanisch orientierten Zeitung „Le Rappel“ (1870-1871) auf die Belagerung von Paris. Die meisten Beiträger der Zeitung vertrauten darauf, sich durch das Medium des Lachens von den traumatisierenden Kriegserfahrungen zu distanzieren und damit den als typisch für Paris geltenden Widerstandswillen zu ehren. Es ging ihnen darum, den Granaten mit schallendem Gelächter und Gespött zu antworten und auf diese Weise zur hartnäckigen Weiterführung des Alltagslebens in der Stadt beizutragen. MICHAEL BERNSEN (Bonn) befasste sich ebenfalls mit der Pariser Eigenart, indem er die Mythen der Hauptstadt während des Deutsch-Französischen Krieges erforschte, insbesondere bei Victor Hugo. Dieser erklärte Paris zur Hauptstadt Europas, zum Mittelpunkt der Menschheitskultur in der Nachfolge Jerusalems, Athens oder Roms. Paris zu zerstören hieß für ihn, diesen Sonderstatus zu gefährden: Der Zerfall der Gemäuer hätte einen Zerfall der mythischen Erzählungen und ihrer Formen zur Folge – auch der von Victor Hugo selbst.

Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Kongresses standen Erlebnisberichte von Unabhängigkeitskriegen und kolonialen Eroberungen. TOBIAS BERNEISER (Marburg) rekonstruierte die Wiedereroberung Neapels im Jahr 1799 und die dabei verübten Massaker anhand der Schriften von Alexandre Dumas und Vincenzo Cuoco. Neapel erscheint dabei als ideologisches und philosophisches Schlachtfeld, auf dem vehement Partei für Revolution und Unabhängigkeit zu ergreifen war, weshalb die neapolitanischen Patrioten heroisiert und von beiden Autoren als Akteure auf der politischen Theaterbühne der Stadt im Krieg dargestellt wurden. Im Fall der ‚Cent-Jours‘, die Chateaubriand in seinen „Mémoires d’outre-tombe“ erwähnt, ist diese Theaterbühne eher ein Straßentheater. OLAF MÜLLER (Marburg) zeigte auf, wie Chateaubriand, Ludwig XVIII. ins Exil nach Gand in Belgien folgend, die Haltung eines machtlosen und enttäuschten Zuschauers einnimmt, verdammt dazu, passiv einer burlesken Komödie beizuwohnen, weit weg vom großen historischen Drama, welches nach der Schlacht von Waterloo in Paris stattfand. Eine ganz andere Haltung nimmt Stendhal ein, dessen Porträt als Spion DOMINIQUE DUPART (Lille) skizzierte, gestützt insbesondere auf die „Chroniques italiennes“. Spionage wird dort als Fortbestand des Krieges in Friedenszeiten gesehen. Ständig ausspioniert und polizeilich überwacht, ist Stendhal in seinem Amt als Konsul sowohl Flaneur als auch aktiver Agent, der in den Straßen der von ihm besuchten und bewohnten italienischen Städte herumstreifte.

Mit Blick auf die kolonialen Eroberungen schilderte SARGA MOUSSA (CNRS, Thalim) den Aufenthalt des Malers Eugène Fromentin in der algerischen Stadt Laghouat, die 1852 eine mörderische Belagerung erlebte. Fromentin begab sich dabei zu den Schauplätzen der von der französischen Armee zuvor begangenen Massaker und verweilte dort im Angesicht der hinterlassenen Verwüstung. Er betont in seinen Schriften eindringlich die Allgegenwärtigkeit der unmittelbaren Vergangenheit durch minutiöse und geradezu fotografische Beschreibungen der zerstörten Orte – und verweist (wenn auch zögernd) auf die Verantwortlichen. DANIEL LANÇON (Grenoble) beschäftigte sich mit dem ägyptischen nationalen Widerstand und dem kolonialbritischen Interventionismus während des Bombenangriffs auf Alexandria im Juli 1882. Auf der Grundlage von Zeugnissen, Pressedepeschen, Logbüchern und Schriftwechseln zeigte er auf, wie dieses kurze Ereignis Anlass für eine Vielzahl von Reaktionen und unterschiedlichen Erzählweisen gegeben hat. Man findet in den Zeugnissen sich wiederholende Stilelemente: Sie reichen von Auflistungen an Kriegsschäden bis hin zum Nachvollzug der theatralen Dimension einer bombardierten Stadt und verhandeln kontinuierlich die Frage des französischen und englischen Einflusses in Ägypten.

Der dritte Teil der Tagung hatte die Folgen des Krieges zum Thema. DARYL LEE (Brigham Young) ging – ausgehend von seiner eigenen Suche nach den zurückgebliebenen Spuren der Pariser Kommune – davon aus, dass die Zerstörung von Paris als Verlust des Stadtgedächtnisses zu sehen sei, der bis in die heutige Zeit nachvollzogen werden könne. AUDE DERUELLE (Orléans) wiederum analysierte die Darstellung von Städten im Krieg in der Gattung des historischen Romans. Sie zeigte ausgehend von den Napoleonischen Kriegen, wie der Krieg im städtischen Schauplatz dieser Romane den epischen Kodex der Stadtdarstellungen reaktivierte und wie die Stadt als Ort der Zivilisation dank dieses Kodexes gegen die Barbarei des Krieges und der Kriegsgegner gestellt wurde. MATTHIAS HAUSMANN (Dresden) schlug in seinem Vortrag die symmetrische Erforschung der Städte im Kriegszustand vor, wie sie in der Science-Fiction-Literatur des 19. Jahrhundert erscheinen. Die von ihm untersuchten Texte von Louis-Sébastien Mercier, Théophile Gautier und Joseph Méry, die nicht als besonders handlungsreich auffielen, hätten dennoch den Krieg zum zentralen Thema, wobei sich insbesondere die Zerstörung von Paris dem futuristischen Imaginären als Konstante aufdrängte. ELIZA CLUEA-HONG (ENSA-Versailles) betonte die Anziehungskraft apokalyptischer Stadtbilder in Literatur und Architektur und untersuchte sie insbesondere in den Beziehungen zwischen dem Schriftsteller Paul Scheerbart und dem Architekten Bruno Taut.

Schließlich zeigte JOËLLE PRUNGNAUD (Lille), in welchem Maße die Verwüstungen des Ersten Weltkriegs die Erinnerung an die Trümmer der Pariser Kommune reaktivierten. Dies wies sie in den Debatten um den Wiederaufbau nach 1918 nach: Sollte man die neuerlichen Ruinen erhalten, restaurieren oder dem Erdboden gleichmachen? Hat die Vergangenheit Lösungen für die Gegenwart, hilft das Schon-Erlebte das Nie-Erlebte zu überwinden? Die sich überlappenden Erinnerungen zweier Kriege dienten dazu, die Konzeption des Urbanen angesichts des Krieges zu reflektieren, insbesondere hinsichtlich der erneut relevanten Frage nach der Funktion der kollektiven Erinnerungsarbeit, also danach, inwiefern die Bewahrung der Ruinen als Zeugnis erlebten Leids und das Bedürfnis nach einem möglichst unbeschwerten Neuanfang miteinander verbunden werden konnten.

Die Tagung stieß vielfältige Reflexionen über Städte im Krieg im ‚langen‘ 19. Jahrhundert an. Eine Vielzahl der Vorträge befasste sich mit der Belagerung von Paris, einem symbolträchtigen Zeichen des Kriegsausbruchs in einer der Hauptstädte der Moderne, aber auch die Unabhängigkeits- und Kolonialkriege (in Italien, in Algerien, in Ägypten) wurden eingehend thematisiert. Dabei wurde Wert auf die Beschreibungskategorien der materiellen Zerstörung und Trümmerlandschaften von Städten im Kriegszustand und auf die Folgen für das kollektive Gedächtnis der Stadtbewohner und anderer an Krieg, Gewalt und deren Verarbeitung beteiligter Gruppen gelegt. Die zerstörte Stadt oder die Stadt als von Barrikaden durchzogenes Schlachtfeld wurde oft als Theaterszene interpretiert, die der Schriftsteller-Historiker als Zeuge beobachtete, versunken in den Wirren der Zeitgeschichte, aber dennoch aus einer gewissen Vogelperspektive. Das erschütternde Ereignis der Stadt im Krieg hat, wie sich zeigte, kontinuierlich zum Wandel der Mentalitäten, Konzepte und Poetiken beigetragen, die in Literatur und Publizistik des 19. Jahrhunderts zu beobachten sind.

Konferenzübersicht:

Sektion 1

Joseph Jurt (Freiburg): La Commune de Paris comme forme d’organisation face aux menaces extérieures et intérieures

Jean-Marc Largeaud (Tours): Réalités et représentations du combat en ville: Châteaudun en 1870

Éléonore Reverzy (Paris): Poétiques du siège de Paris: Goncourt, Gautier, Huysmans

Henning Hufnagel (Zürich): Idylles prussiennes. Hugo et les Parnassiens face au siège de Paris

Malte Osterloh (Berlin): «Andromaque, je pense à vous !» L’haussmannisation comme conduite de la guerre

Caroline Mannweiler (Mainz): «Cette inaccessible gaîté de Paris», ou la littérature face aux canons – le journal «Le Rappe» (1870-71)

Michael Bernsen (Bonn): «La dispersion des pierres fera la dispersion des idées»: Paris et ses mythes pendant la guerre franco-allemande chez Victor Hugo

Sektion 2

Tobias Berneiser (Marburg): Alexandre Dumas et Vicenzo Cuoco: la reconquête de Naples en 1799

Olaf Müller (Marburg): Waterloo vu de Bruxelles dans les «Mémoires d’outre-tombe» de Chateaubriand

Dominique Dupart (Lille): Échos de la guerre dans les cercles littéraires urbains

Sarga Moussa (CNRS, Thalim): Fromentin à Lagouhat. Violence et traumatisme en situation coloniale

Daniel Lançon (Grenoble): Résistance nationale égyptienne et interventionnisme colonial anglais: récits et discours sur le bombardement d’Alexandrie, ville cosmopolite (juillet 1882)

Sektion 3

Daryl Lee (Brigham Young, Provo UT): Witnessing and Collecting de Paris Commune Ruines

Aude Déruelle (Orléans): Villes en guerre dans le roman historique

Matthias Hausmann (Dresden): Les villes dans les guerres futures: la littérature d’anticipation du XIXe siècle

Eliza Culea-Hong (ENSA-Versailles): FUTUR DYNAMIQUE / FUTUR-DYNAMITE: Du «wonderland futuriste» à la dissolution de la ville à l’aube du XXe siècle

Joëlle Prungnaud (Lille): Des ruines de la Commune aux dévastations de la Grande Guerre: l’effet retour