Umbruch und Wandel. Oberfranken nach dem Ersten Weltkrieg

Umbruch und Wandel. Oberfranken nach dem Ersten Weltkrieg

Organisatoren
Martin Ott, Institut für Fränkische Landesgeschichte, Universität Bamberg / Bayreuth
Ort
Thurnau
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.10.2018 - 13.10.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Astrid Schneck / Jens Detzer, Forschungskolleg Franken, Institut für Fränkische Landesgeschichte, Universität Bamberg / Bayreuth

Anlässlich des Jubiläums der Revolution von 1918 veranstaltete das Institut für Fränkische Landesgeschichte eine Tagung zu Umbruch und Wandel Oberfrankens nach dem Ersten Weltkrieg. Damit leistete die Veranstaltung einen Forschungsbeitrag zum Strukturwandel in der Region in der frühen Weimarer Republik.

Die erste Sektion beleuchtete strukturelle Umbrüche in staatsrechtlicher Hinsicht. Dabei skizzierte JANNIS TRILLITZSCH (Bamberg) einführend den verfassungsrechtlichen Systemwechsel in Bayern 1918/19 von der Monarchie zum Freistaat. Das Königreich Bayern versuchte seit seiner Existenz 1806 seine Souveränität zu festigen. Nach dem Tod Ludwigs II. 1886 hatte das Ansehen der Monarchie stark gelitten. Als dessen Onkel Prinzregent Luitpold 1912 starb, entstand ein Machtvakuum, das auch der neu gekrönte Sohn Luitpolds, König Ludwig III., nicht mehr füllen konnte. Nach Ausbruch der Revolution von 1918 verließ der König München, Kurt Eisner agierte bis zu seiner Ermordung im Februar 1919 als erster Ministerpräsident des Freistaats Bayern. Im April 1919 floh die bayerische Regierung im Zuge der Bildung einer Räterepublik in München ins fränkische Bamberg, da dort militärischer Schutz gewährleistet werden konnte. Dort entstand 1919 die demokratische „Bamberger Verfassung“.

Einen spürbaren Einfluss auf die Entstehung der „Bamberger Verfassung“ hatte der Hochschullehrer und Staatsrechtler Robert Piloty (1863–1926). WOLFGANG EHBERGER (München) berichtete, wie dieser aufgrund seiner Expertise als Lehrstuhlinhaber für Staats- und Verwaltungsrecht in Würzburg Ende 1918 Teil einer externen Juristenkommission für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung wurde. Zunächst wurde gegen den Widerstand Pilotys die „Räte-Idee“ Eisners in den Verfassungsentwurf miteinbezogen. Doch die herbe Wahlniederlage der USPD in der Landtagswahl im Februar 1919 zeigte ein eindeutiges Votum für eine parlamentarische Demokratie. Im August 1919 wurde die Bayerische Verfassung schließlich fertiggestellt, die als wegweisend für eine freiheitlich-demokratischen Grundordnung gilt.

Zum Schutz der Regierung wurde im Frühjahr 1919 in Bamberg die „Polizeiabteilung des Staatsministeriums des Inneren“ als zunächst nur vorläufiger Ersatz für die politische Polizeiabteilung der Polizeidirektion München gegründet. MARC SEELIGER (Thurnau) wies in seinem Beitrag über die Entwicklung der politischen Polizei in Nordbayern auf einen strukturellen Wandel im bayerischen Polizeiwesen hin. Aufgrund der anhaltenden politischen Unsicherheit und des Einsatzes des Behördenleiters Graf Soden wurden die provisorischen Strukturen der neuen Einheit ab Oktober 1919 als „Polizeistelle für Nordbayern“ verstetigt. Analog zur übergeordneten Polizeidirektion München, mit ihrer politisch-polizeilichen Zuständigkeit für Südbayern war damit ein Schritt in Richtung Ausbau und staatlicher Zentralisierung des Polizeiwesens erfolgt. Im Fokus der Überwachungstätigkeiten standen linke Gruppierungen, während, insbesondere unter Sodens Nachfolger Heinrich Gareis, die zahlreichen rechten Verbände und Gruppen teilweise bewusst verharmlost wurden oder unbeachtet blieben.

Mit den Auswirkungen der politischen Veränderungen auf die Lebenswelt des Hochadels beschrieb JENS DETZER (Thurnau) einen Umbruch ganz anderer Art. Am Beispiel des Rechts der „Autonomie“, also der Möglichkeit ein familieninternes Hausgesetz zu erlassen, wurden zunächst die Vorrechte der Standesherren bis zum Ende des Kaiserreichs erläutert. Verdeutlicht wurde dies anhand eines Gerichtsprozesses, in welchem Wolfgang Graf zu Castell-Rüdenhausen seine eigene Familie auf Anerkennung der Standesmäßigkeit seiner Frau (geb. Faber) verklagte, wodurch das Problem der Ebenbürtigkeit mit dem Herrscherhaus zu Tage trat. Detzer zeigte, wie eng die bayerischen Richter 1913 die „Autonomie“ auffassten und wie die Standesherren nach der Revolution 1918 gezwungen waren, unebenbürtige Heiraten anzuerkennen. Während die ehemaligen Adelstitel Bestandteil des Namens wurden, verblieb dem Adel in der Weimarer Republik nur noch der Kampf um ihren in Gefahr geratenen Grundbesitz.

Beim Abendvortrag im IWALEWA-Haus Bayreuth entwickelte WERNER K. BLESSING (Erlangen) einen innovativen Zugang zu den Einwirkungen des Ersten Weltkriegs in Franken: Entgegen traditioneller, homogenisierender Entwürfe, trug dieser der Vielfalt des Raumes Rechnung. Die anfängliche Kriegsbegeisterung von 1914 resultierte in den verschiedenen Milieus keineswegs aus einheitlichen Vorstellungen von Krieg, Kriegszielen und Feindbildern. Auch bezüglich der Kriegserfahrungen und deren medialer Vermittlung ergaben sich soziale und regionale Unterschiede, ebenso bei den unmittelbaren Auswirkungen des Krieges auf Lebensstandard und Grundversorgung. Verteilungskonflikte, Erfahrungen des Verfalls staatlicher Autorität und die Bereitschaft zu Protest prägten sich in verschiedenen gesellschaftlichen und regionalen Umfeldern individuell aus. So litt besonders die Textilregion um Hof infolge des Krieges unter Arbeitskräftemangel und einer unzureichenden Versorgung mit Lebensmitteln. Im Zeichen einer vergleichsweise wenig privilegierten Arbeiterschaft kam es hier zu einer stärkeren Radikalisierung der politischen Linken – die MSPD ging in der USPD auf – als im besser situierten Nürnberger Raum, wo sich die beiden Parteien allenfalls auf gemeinsame Protestaktionen einigten.

Nachdem bereits Blessing den Blick auf gesellschaftliche Prozesse und Phänomene gelenkt hatte, schloss sich die zweite Sektion mit Beiträgen zum Wandel politischer, wirtschaftlicher und ziviler Lebenswelten an.

STEFAN LÜLF (München) erläuterte die intensive Einbindung fränkischer Städte in den zivilen europäischen Flugverkehr von 1919 bis 1933. Es waren vor allem ehemalige Militärpiloten, Veteranenverbände und die Kommunen mit ihren Zuschüssen, die das Fliegen auf kurzen Distanzen für wohlhabende Personen attraktiv machten. Das Flugnetz war in der Zwischenkriegszeit durch eine hohe Flexibilität in der Linienführung gekennzeichnet und lag anfangs in den Händen kleinerer Firmen. Erst 1926 wurden einige private Luftfluganbieter zur staatlichen Lufthansa vereinigt. Die Landebahnen, die zunächst vor allem aus geeigneten Wiesenflächen bestanden und wenig kostenintensiv waren, standen unter kommunaler Verantwortung. Angesichts der Krisenjahre stellten die Kommunen jedoch ab 1929 sukzessive die Zuschüsse für die Unterhaltung von Flugplätzen ein, wodurch das Flugnetz zusammenbrach und in dieser Form nicht wiederaufgebaut wurde. Trotz des Verbots der militärischen Fliegerei konnten in der Zwischenkriegszeit technische Fortschritte im zivilen Luftverkehr gemacht werden.

MATTHIAS BISCHEL (München) widmete sich dem paramilitärischen Bund „Bayern und Reich“ in Oberfranken, zu dem es bisher kaum Forschungen gibt. Als Nachfolgeorganisation der Einwohnerwehr Bayerns verfolgte der Bund ab 1922 deren ehemaligen Ziele, darunter die Wiederherstellung des Bayerischen Königtums. Mit Kronprinz Rupprecht und dem Ehrenpräsidenten des Bundes, Gustav von Kahr, hatte man dafür prominente Unterstützer. Unter dem Kreisleiter Franz Freiherr von Gagern wurde der Bund an der nördlichen Grenze Oberfrankens zum „Schutz“ vor dem „roten“ Sachsen und Thüringen eingesetzt. Durch die Konkurrenz der nationalsozialistischen Kampfverbände sei der Bund nach dem Hitler-Putsch 1923 zunehmend in die Krise geraten, bis er sich 1929 schließlich dem Wehrverband Stahlhelm anschloss. BISCHEL plädierte dafür, den Organisationsgrad solcher Wehrverbände als Faktor der politischen Sozialisation in der Weimarer Republik weiter zu erforschen.

Nachfolgend analysierte GÜNTER DIPPOLD (Bayreuth) das politische Leben im Raum Seßlach. Die dort vorherrschende gemischtkonfessionelle Situation wurde durch das Wahlverhalten der Orte Autenhausen (überwiegend katholisch) und Gemünda (überwiegend protestantisch) näher beleuchtet. In Seßlach hatte die BVP eine stabile Mehrheit, wohingegen die SPD in Gemünda dominierte. Im Coburger Raum dominierte insgesamt lange der nationalliberale Verband „Jungdeutscher Orden“. Demgegenüber wurden zur Grenzsicherung im Norden Oberfrankens bis 1923 vor allem Einheiten des radikalen Wikingbundes eingesetzt. Ab 1925 gelang es der NSDAP zunehmend, konkurrierende Gruppen auszuschalten und zum einzigen Bezugspunkt für das völkisch-nationale Lager zu werden. Dennoch konnte die BVP in Seßlach bei der Wahl 1932 weiterhin die meisten Stimmen auf sich vereinigen.

Daran anknüpfend beschäftigte sich ALEX BURKHARDT (St. Andrews/Marburg) mit der politischen Radikalisierung der protestantischen Mittelschicht in Hof nach dem Ersten Weltkrieg. Vorherrschend waren zunächst linksliberale und pro-republikanische Kräfte, die von bürgerlichen Vereinen und dem protestantischen Ortspfarrer getragen wurden. Die politischen Krisen Anfang 1919 unterliefen diese fragile pro-demokratische Einstellung. Die Geschehnisse in Hof während der Bayerischen Räterepublik habe eine anti-bolschewistische Gesinnung begünstigt. Ausgelöst durch die Unterzeichnung des Versailler Vertrags kamen starke nationale Strömungen hinzu. Auch der Aufmarsch der bayerischen Truppen und die Unruhen nach dem Kapp-Putsch trugen zur Radikalisierung bei. Als die Nationalsozialisten Ende 1922 in Hof Fuß fassten, trafen sie bereits auf eine rechte Grundstimmung, die durch die französische Besetzung im Ruhrgebiet und die anschließende Hyperinflation verstärkt wurde. Daher konnte der Völkische Block bei den Wahlen 1924 in Hof die überwältigende Mehrheit erlangen.

In der letzten Sektion zu Strukturen der Zukunft standen einzelne Akteure und ihre Zukunftsvorstellungen im Vordergrund. Zunächst sprach DIETER J. WEISS (München) über die politischen Vorstellungen Kronprinz Rupprechts in der Zwischenkriegszeit. Bei Ausbruch der Revolution in München floh der Wittelsbacher nach Österreich ins Exil und ließ sich schließlich ab 1919 in Berchtesgaden als Privatmann nieder. Er ermahnte Kurt Eisner, freie Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung abzuhalten. Den Thron wollte er nur auf legalem Weg besteigen und betonte stets seine Übereinstimmung mit dem Volkswillen. Seine politischen Anschauungen fasste er 1923 in einem Memorandum zusammen, in welchem er einen föderativen Ansatz und eine demokratisch legitimierte Monarchie als Staatsform favorisierte. Dieses Ziel verfolgte auch der Heimat- und Königsbund, der bis zu seiner Auflösung 1933 etwa 100.000 Mitglieder zählte. Durch dessen Leiter, Reichsrat Georg Enoch Freiherr von und zu Guttenberg, hatte Rupprecht auch Verbindungen nach Oberfranken. Zur Ausrufung der Monarchie als Mittel gegen die Machtübernahme Hitlers stand er bereit.

Daran anschließend widmete sich EVA KARL (Coburg) dem „Deutschen Tag“ in Coburg 1922. Sie beschrieb, wie die Abdankung von Carl Eduard Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha (1884–1954) zu einem Identitätsverlust der Bevölkerung führte. Coburg wurde bald darauf zu einer völkischen Hochburg. Zum hauptsächlich vom „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ ausgerichteten „Deutschen Tag“ kam auch Hitler, begleitet von 650 SA-Männern. Durch hemmungslosen Einsatz von Gewalt eigneten sie sich den städtischen Raum an. Diese Machtdemonstration wurde mit einem Marsch auf die Veste untermauert, was retrospektiv der Schaffung des nationalsozialistischen Mythos Coburgs diente. Die dortigen völkisch-nationalen Verbände sahen sich als Speerspitze des Aufstiegs der NSDAP. Im Januar 1931 hing deshalb in Coburg die erste Hakenkreuzflagge auf einem Amtsgebäude. Coburg war die erste Stadt, welche Adolf Hitler zu ihrem Ehrenbürger ernannte, sie erhielt 1939 den offiziellen Titel „Erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands“.

DANIEL RITTENAUER (München) lenkte schließlich den Blick auf einen der mächtigsten NSDAP-Männer in Bayern, Adolf Wagner, und seine weitgehend unerforschten frühen Jahre. Nach dem Ersten Weltkrieg verschlug es den gebürtigen Elsass-Lothringer als Bergwerksdirektor nach Erbendorf. Sein Einstieg in die Politik fiel mit dem wirtschaftlichen Niedergang des oberpfälzischen Bergwerkbetriebes zusammen: 1924 zog er in den bayerischen Landtag ein und wurde 1929 Gauleiter von Groß-München. Wagner, oft als der „brutale und rücksichtslose Despot von München“ dargestellt, sei nicht in dem Maße für den Aufbau der Partei verantwortlich gewesen, wie er es selbst zeitlebens glauben machen wollte. Tatsächlich war er unter den wichtigen NS-Größen wenig vernetzt. Der Aufbau der NSDAP-Strukturen geschah hauptsächlich aus den Ortsgruppen heraus. Insgesamt müsse die Forschung in diesen und ähnlich gelagerten Fällen behutsamer mit dem Quellenmaterial umgehen, um sich nicht von der Selbstdarstellung und Überhöhung solcher NS-Funktionäre täuschen zu lassen, so Rittenauer.

Insgesamt beleuchtete die Tagung vielfältige Prozesse, welche die politischen Verhältnisse in der Region sowie die Lebenswelten und Zukunftsvorstellungen der Menschen vor und nach dem Ersten Weltkrieg prägten. Das durch hohe innere Vielfalt gekennzeichnete Oberfranken und seine Nachbarregionen wurden hinsichtlich verschiedener Brüche und Kontinuitätslinien untersucht, welche das Königreich und den Freistaat Bayern formten und veränderten. Es entstanden neue, landeshistorische Perspektiven auf Umbruch, Wandel und Zukunftsperspektiven zur Zeit der frühen Weimarer Republik.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Strukturen im Umbruch. Vom Königreich zum Freistaat
Moderation: Günter Dippold (Bayreuth)

Jannis Trillitzsch (Bamberg): König, Reichsverweser, Ministerpräsident – politischer und verfassungsrechtlicher Systemwechsel in Bayern 1918/19

Wolfgang Ehberger (München): Robert Piloty – ein Vater der Bamberger Verfassung

Moderation: Marcus Mühlnikel (Thurnau)

Marc Seeliger (Thurnau): Die Wächter des Freistaats in Nordbayern? Die Entwicklung der politischen Polizei von der „Polizeiabteilung des Staatsministeriums des Innern in Bamberg“ zum „Staatspolizeiamt Nürnberg-Fürth 1919–1923

Jens Detzer (Thurnau): Die Vorrechte der bayerischen Standesherren im Kaiserreich und was von ihnen übrigblieb. Die politischen Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg als Zäsur für den süddeutschen Hochadel

Abendvortrag:
Moderation: Martin Ott (Thurnau)

Werner K. Blessing (Erlangen): Prozess und Revolution. Zu Frankens Vielfalt im frühen 20. Jahrhundert

Sektion II: Strukturen im Wandel. Lebenswelten
Moderation: Verena Spicker (Thurnau)

Stefan Lülf (München): Die Zentrale des europäischen Flugverkehrs? Die Einbindung (ober-) fränkischer Städte in den Luftverkehr 1919–1933

Matthias Bischel (München): Der Bund „Bayern und Reich“ in seiner Hochburg Oberfranken. Ein Motor politischer Radikalisierung und Militarisierung

Moderation: Martin Ott (Thurnau)

Günter Dippold (Bayreuth): Politisches Leben in Oberfranken 1918–1923 – das Bespiel des Raums Seßlach

Alex Burkhardt (St. Andrews/Marburg): Democrats into Nazis: The Radicalisation of Hof’s Bürgertum after the First World War

Sektion III: Strukturen der Zukunft. Akteure und Visionen
Moderation: Verena Spicker (Thurnau)

Dieter J. Weiss (München): Die politischen Vorstellungen Kronprinz Rupprechts von Bayern in der Zwischenkriegszeit

Eva Karl (Coburg): Das erste Kapitel der neuen deutschen Geschichte“. Der deutsche Tag in Coburg 1922: Machtprobe und Mythos

Moderation: Marc Seeliger (Thurnau)

Daniel Rittenauer (München): Bergwerk, Landtag, NSDAP – Adolf Wagners Wirken in der Oberpfalz 1919–1929