HT 2018: Einheit oder Spaltung durch Transformation? Erfahrungen und Narrative einer langen Geschichte des (post)kommunistischen Umbruchs in Zentraleuropa

HT 2018: Einheit oder Spaltung durch Transformation? Erfahrungen und Narrative einer langen Geschichte des (post)kommunistischen Umbruchs in Zentraleuropa

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
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Von
Kornelia Kończal, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die von KERSTIN BRÜCKWEH (Potsdam/Tübingen), THOMAS LINDENBERGER (Dresden) und MICHAL KOPEČEK (Prag/Jena) geleitete Sektion zum (post)kommunistischen Umbruch in Ostmitteleuropa setzte sich zum Ziel, ein umfassendes Bild der Gesellschaften in der Systemtransformation zu zeichnen. In ihrem Zentrum standen somit nicht die politischen Großereignisse der Jahre 1989–1991, sondern Lebenswelten und Ideen. Die Referate zur jüngsten Zeitgeschichte in (Ost)Deutschland, Polen, Serbien, Slowenien und der Tschechoslowakei bzw. Tschechien und der Slowakei sollten dabei helfen, Antworten auf zwei übergreifende Fragen zu finden. Zum einen ging es um das Verhältnis zwischen den Erfahrungen vor Ort und den Entwicklungen auf der Makroebene; zum anderen um qualitative und quantitative Quellen, mit deren Hilfe man die Geschichte der Transformation am ergiebigsten erforschen kann. Der Beitrag der Sektion von Brückweh, Lindenberger und Kopeček zur Beantwortung dieser Fragen geht jedoch über die Summe der einzelnen Annäherungen hinaus, denn vier der fünf Fallstudien entstanden im Rahmen von Verbundprojekten, die sich aktuell mit der zeithistorischen Transformationsforschung beschäftigen.1 Das aus fünf kurzen Referaten, zwei Kommentaren und einer ausführlichen Diskussion bestehende Panel kann somit als ein Schaufenster in dieses inzwischen florierende Forschungsgebiet betrachtet werden.

Dem Titel der Sektion entsprechend, versuchten alle Referentinnen und Referenten die Praktiken der Spaltung und Integration auszuarbeiten. ANA KLADNIK (Dresden) analysierte diese Problematik am Beispiel der Freiwilligen Feuerwehr in Serbien und der slowenischen Region Vojvodina. Anhand statistischer Angaben konnte sie zeigen, dass die Mitgliedschaft in der serbischen Feuerwehr stets entlang nationaler Zugehörigkeiten organisiert war, während sie sich in Slowenien trotz Diskriminierung der Minderheiten in vielen Lebensbereichen durch Heterogenität auszeichnete. Welche alltagsgeschichtlichen Konsequenzen diese Unterschiede mit sich brachten, diskutierte Kladnik anhand von Interviews mit (ehemaligen) Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr. Andere Dimensionen des lokalen Neben- und Miteinanders erörterte MARKUS KRZOSKA (Siegen/Gießen) am Beispiel der Infrastrukturgeschichte im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck. Obwohl der Systemwechsel 1989 einen erheblichen Einschnitt für die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Region bedeutete, kamen grenzüberschreitende Spannungen und Konflikte damit keinesfalls zu Ende. Auch hochdotierte Infrastrukturprojekte zur Förderung der trilateralen Kooperation konnten, so Krzoska, die fest eingefahrenen Muster im Denken und Handeln der lokalen Akteure nicht durchbrechen. PIOTR FILIPKOWSKI (Warschau/Wien) beschäftigte sich mit den lokalen und nationalen Dimensionen des in Polen seit 1989 anhaltenden und seit 2015 weiter eskalierenden Konflikts um die Erinnerung an die Gewerkschaft Solidarność und das Erbe der Privatisierung. Anhand von 30 Interviews mit den ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der nach 1989 privatisierten und im Jahre 2009 geschlossenen Werft in Gdynia zeigte er, wie zwei zuerst nur lokal miteinander rivalisierende Narrative über die Arbeiterproteste vom Anfang der 1980er-Jahre sowie den Ablauf der Wirtschaftsreformen der 1990er-Jahre inzwischen den Ton der nationalen Debatte über den Sinn und Zweck der Systemtransformation angeben.

ADÉLA GJURIČOVÁ (Prag) hob in ihrem Kommentar den explorativen Charakter aller drei Referate hervor und lobte die Entscheidung der Vortragenden, die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten der Transformationszeit als solche zu erkennen. Trotz thematischer und methodologischer Unterschiede zeichneten sich die drei Präsentationen auch durch weitere Gemeinsamkeiten aus. Eine von ihnen war der Fokus auf – wenn auch unterschiedlich definierte – lokale Entwicklungen. Eine andere lag in der Überzeugung, dass die Geschichte der Transformation nur dann fruchtbar konzeptualisiert werden kann, wenn man den Spätsozialismus mit dem Postsozialismus zusammendenkt, denn die Wurzeln des Letzteren liegen in der Zeit vor 1989. Folgerichtig sind Historikerinnen und Historiker der Transformation mit einem erheblichen Bruch in der archivalischen Überlieferung konfrontiert, die der Systemwechsel verursachte. Viele Forscherinnen und Forscher, was auch die hier besprochene Sektion zeigte, versuchen diese forschungspraktische Herausforderung mit Hilfe von Oral History zu bewältigen, die – so manche Beobachter – in Ostmitteleuropa gerade einen regelrechten Boom erlebe.

Das Referat von ANJA SCHRÖTER (Potsdam) war der Geschichte der Vergemeinschaftung gewidmet. Am Beispiel eines Ostberliner Wohnbezirksausschusses zeigte sie, dass lokale politische Partizipation breiterer Bevölkerungskreise bereits vor 1989 stattfand und dass die damals partizipatorisch und auf die soziale Gestaltung ausgerichteten Politikvorstellungen für das politische Handeln der Akteure in der unmittelbaren Umbruchsphase prägend blieben. MATĚJ SPURNÝ (Prag/Jena) analysierte wiederum den Wandel der Stadt- und Raumplanung in der Tschechoslowakei der 1980er-Jahre. Die Abkehr von großflächigen Plattenbausiedlungen und die Rückkehr zur Urbanität, die sich sowohl in den kulturellen Empfindlichkeiten als auch in den Expertendiskursen beobachten ließen, sei, so Spurnýs These, nicht aus dem Westen importiert gewesen, sondern stellten das Ergebnis einer Entwicklung dar, die sich im gesamten Ostblock vollzogen habe und erkläre, warum die (neo)liberale Stadtplanung in Ostmitteleuropa nach 1989 so schnell angenommen wurde.

Von den Referatsthemen ausgehend stellte CLAUDIA KRAFT (Wien) in ihrem abschließenden Kommentar fünf allgemeinere Überlegungen zur zeithistorischen Transformationsforschung vor. Forscherinnen und Forscher, die sich mit diesem Kapitel der jüngsten Zeitgeschichte beschäftigen, sollten ihrer Meinung nach nicht nur über die verschiedenen Zusammenhänge zwischen den Mikro- und Makroebenen, sondern auch über die Zeitvorstellungen der Akteure in der Transformation kritisch nachdenken. Eine bisher zu schwach belichtete Perspektive auf die Transformationszeit stelle Kraft zufolge die Trias Infrastruktur – Institution – Individuum. Als ein weiteres Desiderat erwähnte sie die Wissensgeschichte: vor allem im Hinblick auf die Frage danach, wer autorisiert ist, welche Geschichte der Transformation zu erzählen. Eine der größten Baustellen in der Historisierung der Transformationszeit sei allerdings, das Verhältnis zwischen der Geschichtswissenschaft und den allzu oft wenig kontextsensiblen Sozialwissenschaften. Inwieweit sich die Beziehungen zwischen den Disziplinen neu ordnen, sobald die prozessbegleitenden sozialwissenschaftlichen Expertendiskurse aus der Transformationszeit zum Untersuchungsgegenstand der Historikerinnen und Historiker werden, ist in der Tat eine spannende Frage.

Vor dem Hintergrund des Kontrasts zwischen dem Triumphalismus der frühen 1990er-Jahre und den aktuellen Krisendiagnosen kristallisierten sich in der abschließenden Diskussion mehrere Begriffspaare heraus, die man als Ordnungskategorien für eine Reihe weiterer Projekte zur zeithistorischen Transformationsforschung betrachten könnte: Internationalisierung und Renationalisierung, Innovation und Nachahmung, Universalismus und Partikularismus sowie Erfahrung und Erinnerung. Es wäre hochinteressant gewesen, das heuristische Potenzial dieser Relationsbegriffe zusammen mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Sektion “Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft?“ zu diskutieren.2 Die andere Sektion zur Transformationsforschung fand aber leider in einem 500 Meter entfernten Saal der Münsteraner Universität zur selben Zeit statt, sodass die deutsch-deutsche und die ostmitteleuropäische Transformationsgeschichte (schon wieder) separat behandelt wurden und das interessierte Publikum vor der Qual der Wahl stand. Die Narrative zur Transformationszeit müssen sich nicht nur, wie Thomas Lindenberger in seinem Schlusswort zurecht betonte, verdichten, sondern auch inter- und transregional besser miteinander verzahnen.

Sektionsübersicht:

Kerstin Brückweh (Potsdam/Tübingen) und Thomas Lindenberger (Dresden): Einführung

Ana Kladnik (Dresden): From open to closed society? Local practices of division and integration in Serbia and Slovenia (1985-2000)

Markus Krzoska (Siegen/Gießen): In großer Nähe so fern? Das Neben- und Miteinander im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck vor und nach dem Systemwandel von 1989

Piotr Filipkowski (Warschau/Wien): Oral history and divided memory. Researching Polish (post)socialist transition “from below”

Adéla Gjuričová (Prag): Kommentar

Anja Schröter (Potsdam): Vergemeinschaftung und Spaltung auf lokaler Ebene vor, während und nach 1989 in Ostdeutschland

Matěj Spurný (Prag/Jena): Das Zuhause zwischen Staatsozialismus und Postsozialismus

Claudia Kraft (Wien): Kommentar

Thomas Lindenberger (Dresden): Schlusskommentar

Anmerkungen:

1 Gemeint sind die Projekte „Ehrenamtliche Arbeit in lokalen Gemeinden zwischen Staatssozialismus und liberalem Kapitalismus. Die Geschichte der Freiwilligen Feuerwehr in Deutschland und Ostmitteleuropa 1980–2000“ unter der Leitung von Thomas Lindenberger und Philipp Ther, „Rooms for Manoevre in State Socialism“ unter der Leitung von Claudia Kraft und Jerzy Kochanowski, „Transformations from Below: Shipyards and Labor Relations in the Uljanik (Croatia) and Gdynia (Poland) Shipyards since the 1980s“ unter der Leitung von Ulf Brunnbauer und Philipp Ther sowie „Die lange Geschichte der „Wende“. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989“ unter der Leitung von Kerstin Brückweh.
2 Tagungsbericht HT 2018: Daniel Trabalski, Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft? Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Transformations- und Umbruchszeit nach 1990. 25.09.2018–28.09.2018, Münster, in: H-Soz-Kult 09.11.2018.