8. Kartengeschichtliches Kolloquium

8. Kartengeschichtliches Kolloquium

Organisatoren
Ingrid Baumgärtner, Kassel; Ute Schneider, Essen; Martina Stercken, Zürich
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.05.2019 - 25.05.2019
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Von
Bettina Schöller, Kompetenzzentrum »Zürcher Mediävistik«, Universität Zürich

Das Kartengeschichtliche Kolloquium, das in regelmäßigen Abständen in Essen, Kassel und Zürich stattfindet, erfuhr dieses Jahr bereits seine achte Wiederholung. Dank der Förderung durch die Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung konnte es im Mai 2019 an der Universität Duisburg-Essen stattfinden. Ursprünglich von Ingrid Baumgärtner (Kassel), Ute Schneider (Duisburg-Essen) und Martina Stercken (Zürich) als eine Plattform für den eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs konzipiert, entwickelte sich das Kolloquium in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen und epochenübergreifenden Plattform für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des deutschsprachigen Raums, die sich in ihren Qualifikationsarbeiten mit kartographischen Erzeugnissen befassen.

Den Auftakt machte RAOUL DUBOIS (Zürich), der sich mit der Materialität von Pilgerberichten und ihren Bildprogrammen des 15. und 16. Jahrhunderts auseinandersetzte. Er zeigte auf, dass die Bücher und Briefe von Hans Tucher, Bernhard von Breidenbach und Gabriel Muffel, die von Reisen ins Heilige Land berichten, den Daheimgebliebenen eine imaginative Teilhabe an der physischen Erfahrung des Reisens ermöglichten. Die wiederholte Aufforderung zum Blättern und Drehen der Seiten oder zum Auffalten von Karten erlaubte den Lesenden, die Bewegung der Pilger durch den Raum nachzuvollziehen. DUBOIS demonstrierte das narrative Potential von Breidenbachs Ansicht Jerusalems, die sich als Faltblatt in einigen Druckwerken findet und den Höhepunkt der Pilgerreise, den Anblick Jerusalems, illustriert. Im Prozess des Auffaltens entwickelt sich eine dynamische Bildfolge, die unterschiedliche Formen der Annäherung an die Heilige Stadt offenbart.

Nach der Funktion von Karten und dem Stellenwert kartographischen Denkens im Zuge der Kreuzzugsplanung des 14. Jahrhunderts fragte GION WALLMEYER (Essen). Während diese im 13. Jahrhundert noch eine marginale Rolle gespielt hatten, war die Planung mit Karten im 14. Jahrhundert weitgehend verankert. Wallmeyer stellte die Kartographie in eine Reihe mit weiteren Bereichen spezialisierten Wissens, die von christlichen Herrschern gefördert wurden, um neue Wege zur Rückeroberung des Heiligen Landes zu finden und um die angestrebte christliche Herrschaft zu organisieren. Kreuzzugsberater wie Fidenzio von Padua, Galvano di Levanto und Marino Sanudo nutzten dabei gezielt kartographische Erzeugnisse, insbesondere als Hilfe zur räumlichen Orientierung und zur Einschätzung von Distanzen. Dabei bestimmten angezielte Aussage und intendierter Zweck die jeweilige Form der kartographischen Darstellung.

HANNES WIETSCHEL (Jena) setzte sich mit der Rolle der Fotografie auf geographischen Forschungsreisen um 1900 auseinander. Dabei beschäftigte er sich hauptsächlich mit dem Fotomaterial von Hans Meyer, das auf dessen Reise zur Erforschung der Anden entstanden war. Da die damalige Fotografie das Versprechen einer unmittelbaren Abbildung des Sichtbaren nicht erfüllen konnte, sind Meyers zum Teil eindrückliche Bilder das Resultat mehr oder weniger intensiver Bearbeitungen in Form von Nachzeichnungen oder Montagen. Die fotografische Abbildung dessen, was gesehen werden sollte, ähnelte somit dem Vorgang des Zeichnens – der bis dahin gängigen Methode zur Darstellung geographischer Gegebenheiten. Ironischerweise kritisierte Meyer diese ältere Technik als defizitär, da sie subjektiv sei, weil der Zeichner eine vorgefasste Idee visualisiere und sich zudem von theoretischen Überlegungen anleiten lasse.

PHILIPP MEYER (Erfurt/Leipzig) befasste sich mit dem Verhältnis nationalistischer Weltanschauung und kartographischer Wissensproduktion von 1890–1945 am Beispiel von Hermann Haack und Paul Langhans. Beide waren für den Justus Perthes-Verlag tätige, einflussreiche Kartographen. Während Langhans sich in den 1890er-Jahren für den Aufbau eines nationalistischen Verlagsprogramms verantwortlich zeichnete, gestaltete Haack sein Kartenwerk aus Gründen der Verkaufbarkeit erst bewusst politisch neutral. Langhans verlor nach dem Ersten Weltkrieg an Einfluss, da sein Kartenstil das zeitgenössische Publikum kaum mehr ansprach, während Haacks auf Anschaulichkeit und Fernwirkung zielender Stil als modern galt. Da die Nachfrage stieg, produzierte Haack mehr und mehr auch völkische Karten. MEYER konnte aufzeigen, dass der pragmatisch denkende Haack die Balance zwischen Politik und Verlagsökonomie stets fand und es ihm zudem gelang, sich nach dem 2. Weltkrieg als unpolitischen Kartographen darzustellen. Später wurde Haacks Andenken innerhalb des Verlags in Ehren gehalten, während Langhans aus der Ahnengalerie entfernt wurde.

Wie sehr die Kartographen des 18. Jahrhunderts auf Methoden zurückgriffen, die bereits vor dem Zeitalter der Vermessung gängig waren, wurde von IRINA PAWLOWSKY (Tübingen) deutlich gemacht. Sie zeigte auf, wie der französische „Lehnstuhlgeograph“ Philippe Buache Informationen von Reisenden auswertete und in seinen Karten verarbeitete, mit dem Ziel, die Ordnung der Natur erkennbar zu machen und abzubilden. Nur wenige Monate nach einer französischen Expeditionsreise erschienen Buaches erste Karten der Terres Australes. Aus Mangel an detaillierten Kenntnissen entwickelte er Hypothesen auf der Grundlage von Vergleichen und Analogien. So überlagerte er die Karte des Südpols mit jener des besser erforschten Nordpols, um Schlüsse über die Gestalt der Länder zu ziehen. Doch wie bereits in der mittelalterlichen Kartographie üblich, bildete Buache nicht lediglich Raum ab, sondern integrierte auch eine zeitliche Komponente. Mit den Routen der Expeditionsschiffe erzählte er die Geschichte der Entdeckungen, und anhand des Vergleichs mit anderen Landmassen verwies er auf das zukünftige Potential der südlichen Länder.

SASCHA STANDKE (Göttingen) fokussierte auf die Zeit um 1600, als die Ausbildung eines neuen Raumbewusstseins in Politik und Verwaltung immer häufiger den Anstoß zur Aushandlung von Grenzen gab. Konflikte um Grenzziehungen führten dazu, dass Karten mehr und mehr lineare Grenzverläufe darstellten, um Herrschaftsräume eindeutig zu definieren. Standke nannte als Beispiel die Streitigkeiten zwischen dem Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel und dem Herrschaftsgebiet von Corvey. Im Zuge derer entstanden innerhalb kurzer Zeit fünf verschiedene Karten, die als Entscheidungsgrundlage dienen sollten. Diese Karten nutzten das ganze Spektrum der geographischen Darstellungsmöglichkeiten, von der schematischen Messskizze über eine flächige Grenzdifferenzkarte bis hin zur Ansicht des gesamten Raums von einem erhöhten Standpunkt aus. Festzuhalten ist, dass sie ihren Zweck erfüllten und eine schnelle Lösung der Grenzkonflikte ermöglichten, was ihren hohen Wert für die Visualisierung des neuen Raumbewusstseins und die Effizienz der neuen kartographischen Figur der linearen Grenze unter Beweis stellt.

Anhand einer Auslegeordnung von kartographischen Darstellungen, entstanden im osmanischen Istanbul des 16. Jahrhunderts, zeigte NADJA DANILENKO (Berlin), wie sehr Weltbilder und Weltkarten von politischen und kulturellen Vorstellungen geprägt waren. Nach der Eroberung Konstantinopels 1453, als das osmanische Reich expandierte, wurde Istanbul als politisches und kulturelles Zentrum etabliert. In dieser Zeit der florierenden Bildung und Kultur entstanden auf der Grundlage sowohl arabischer und persischer wie auch westeuropäischer Vorlagen zahlreiche geographische Werke: erdbeschreibende Texte wurden ins Osmanische übersetzt, Atlanten, Reiseberichte und Pilgerhandbücher studiert, Portulankarten und Weltkarten nicht nur kopiert, sondern adaptiert und mit Erzeugnissen der eigenen Kultur angereichert. Danilenkos Projekt möchte weniger als bislang üblich auf den innovativen Charakter dieser neuen Werke fokussieren, sondern die Frage aufgreifen, wie überliefertes Material aus dem eigenen und aus anderen Kulturkreisen verarbeitet und kontextualisiert wurde, wer die Werke in Auftrag gab, wie weit sie verbreitet waren und wie und von wem sie rezipiert wurden.

Seine bereits publizierte Dissertation über Raumwahrnehmung und Orientierung im südlichen Ostseeraum vom 10. bis ins 16. Jahrhundert stellte STEFAN STRIEGLER (Greifswald) vor. Er ging von einem sozialkonstruktivistischen Ansatz aus und definierte geographische Räume als handlungsbezogene und prozesshafte Konstruktionen. Ausgehend von der nicht unumstrittenen Prämisse, die damalige Lebenswelt sei von Mündlichkeit geprägt und die Wahrnehmung von Raum sei an körperliche Erfahrung gebunden gewesen, untersuchte er die Kommunikation geographischen Wissens, welche für die Orientierung im Raum nutzbar gemacht werden konnte. Am Beispiel des Konflikts zwischen dem Deutschen Orden und dem Großfürstentum Litauen im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts, als das Wissen über den Grenzraum aus strategischen Gründen von Seiten des Deutschen Ordens stets aktualisiert wurde, entwickelte er einige Faktoren, welche die Wahrnehmung des Raums geprägt hatten, unter anderem die Benennung von Örtlichkeiten oder die Deutungshoheit von Kundschaftern.

Das Kolloquium hat einmal mehr gezeigt, dass die Präsentation unterschiedlicher Methoden und Herangehensweisen an kartographische Erzeugnisse in diesem Rahmen äußerst gewinnbringend ist. Die Diskussion von mittelalterlichen, frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Karten und Texten erlaubt es, zeitübergreifende Phänomene und Entwicklungen zu fassen und vermeintliche Epochengrenzen zu hinterfragen. Das 9. Kartengeschichtliche Kolloquium wird im nächsten Jahr in Zürich stattfinden.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Moderation Ute Schneider

Raoul DuBois (Zürich): Das Blättern, Falten und Drehen im Umgang mit Heiligland-Karten (Breydenbach, Tucher, Muffel)

Gion Wallmeyer (Essen): Zeig mir den Weg nach Babylon – Die Funktion von Karten und kartographischem Denken in der Kreuzzugsplanung

Sektion II: Moderation Nils Bennemann

Hannes Wietschel (Jena): „Die photographische Werkstatt der Geographie. Unzuhandene Photographien und die Spuren ihrer geographischen Disziplinierung um 1900

Philipp Meyer (Erfurt/Leipzig): Von neuen Zeiten und neuen Räumen. Der Verlag Justus Perthes und der ‚kartographische Standpunkt‘ im Zeitalter politischer Ideologien (1890–1945)

Sektion III: Moderation Martina Stercken

Irina Pawlowsky (Tübingen): Hypothesen und Imagination. Die Antarktiskarte von Philippe Buache (1754)

Sascha Standke (Göttingen): Norddeutsche Grenzstreitigkeiten des 16. Jahrhunderts in Manuskriptkarten

Sektion IV: Moderation Ingrid Baumgärtner

Nadja Danilenko (Berlin): Die Welt sichten im osmanischen Istanbul (16. Jahrhundert)
Stefan Striegler (Greifswald): Von der kognitiven zur physischen Karte – Geografisches Wissen im Ostseeraum im Mittelalter


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