Herausforderungen des Digitalen für Gedenkstätten und Dokumentationszentren

Herausforderungen des Digitalen für Gedenkstätten und Dokumentationszentren

Organisatoren
Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn; Stiftung Topographie des Terrors, Berlin
Ort
Bad Arolsen
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.06.2019 - 29.06.2019
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Von
Irina Grinkevich, Bildung, KZ-Gedenkstätte Dachau / Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau e.V.

Zum 65. Mal fand das Bundesweite Gedenkstättenseminar statt und bot Akteurinnen und Akteuren aus der Gedenkstättenarbeit und der historischen Bildung die Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen. Gastgeber waren dieses Jahr die Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution (vormals International Tracing Service, ITS). Eingeladen waren haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende in Einrichtungen und Initiativen aus dem Feld der Erinnerungskultur sowie Lehrkräfte und Forschende. Ziel dieser Fachtagung war der Austausch über die Möglichkeiten des Digitalen für alle Bereiche der Erinnerungsarbeit von der Vermittlung und Bildung über die Forschung und Archivierung bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit und Bereitstellung der Informationen. Das diesjährige Seminar hatte die bisher meisten Teilnehmenden, was die Aktualität des Themas betont.

Welche Möglichkeiten eröffnen interaktive Websites und Augmented Reality für das historische Lernen? Welche Herausforderungen bringen Außendarstellung und Kommunikation über das Internet und die Sozialen Medien mit sich? An welche Grenzen stoßen Einrichtungen bei der Digitalisierung und Online-Veröffentlichung der eigenen Sammlungen? Das 65. Bundesweite Gedenkstättenseminar hat sich zur Aufgabe gemacht, die Vielfältigkeit der Formate, die Herausforderungen, Chancen und Grenzen des Einsatzes digitaler Medien für Gedenkstätten, Dokumentationszentren und verwandte Einrichtungen zu diskutieren.

Bei seiner Begrüßung lobte Simon Lengemann besonders die glückliche Auswahl des Veranstaltungsortes; die Arolsen Archives seien ein Vorreiter in der Digitalisierung „verstaubter Archive“. Floriane Azoulay nahm Bezug auf die gerade aktuelle Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke und sprach eine neue Aufgabe der Gedenkstättenarbeit an: Neben der Bewahrung der Erinnerung sind Gedenkstätten aufgefordert, in Zeiten der gestiegenen Zahl der Hassverbrechen Stellung zu beziehen und sich gegenüber politisch motivierter Gewalt zu positionieren. Für die Erfüllung dieser Aufgabe ist eine intensivere Vernetzung und Zusammenarbeit verschiedener AkteurInnen der Gedenkstättenarbeit unausweichlich. Thomas Lutz formulierte die Kernbereiche der Gedenkstättenlandschaft, die von der Digitalisierung profitieren können: 1. Sammlung und Erfassung der Bibliotheken; 2. Vermittlung der historischen Orte und ihrer Geschichte an die BesucherInnen; 3. Kommunikationen mit den BesucherInnen über die neuen Medien.

Im Eröffnungsvortrag präsentierte MANUEL BURGHARDT (Leipzig) Überlegungen zu den Herausforderungen und Chancen des Digitalen für GLAMs (Galleries, Libraries, Archives and Museums) im Zeitalter des computational turns. Dabei betonte er die Schnittstelle zwischen Digital Humanities als Erweiterung der bestehenden Forschungspraktiken mit dem Ziel der Gewinnung neuer Ergebnisse und der Public History als Geschichtsvermittlung in der nicht-akademischen Welt. Zu den Herausforderungen zählte er die Notwendigkeit der Miteinbeziehung externer Dienstleister, um sowohl die Digitalisierung als auch die Erschließung der Metadaten technisch zu ermöglichen. Chancen sieht er nicht nur in der Bestandsicherung durch Langzeitarchivierung, sondern auch in der Herstellung neuer Zugänge zu Beständen für Nicht-AkademikerInnen und in der (Weiter-)Entwicklung der Citizen Science. Anhand der technischen Umsetzung dieser Zugänge zählte er Social Media, Webanwendungen, Apps, Augmented und Virtual Reality zu den möglichen Zugängen für ein breites Publikum.

VERENA LUCIA NÄGEL (Berlin) verlängerte Burghardts Problemaufriss in der Thematik der Tagung. Anhand des israelischen Projektes eva.stories, das das Tagebuch eines in Auschwitz ermordeten Mädchens in Form von Instagram-Stories darstellt, erhob sie die Frage, ob gerade Jugendliche genug Abstraktionsleistung erbringen können, um die Sorgen und Wünsche der Menschen in der damaligen Zeit zu erkennen. Vor allem in Zeiten des erinnerungskulturellen Wandels muss Digitalisierung laut Nagel als gesellschaftlicher Prozess verstanden und besonders mit Hinblick auf die Jugendlichen als Digital Natives durchgeführt werden. Die Umsetzung der Digitalisierung im Bildungssektor stellt neben der politischen und finanziellen auch eine didaktische Herausforderung dar: Sie darf nicht als Selbstzweck verstanden, sondern muss an die Inhalte angepasst werden und setzt entsprechende Medienkompetenz unter den Lehrkräften voraus. Nagel appellierte für mehr Reflexion über die Sinnhaftigkeit der Medien und über die Ziele der in der Entwicklung der digitalen Angebote engagierten öffentlichen AkteurInnen.

Den zweiten Seminartag eröffnete CHRISTOPH RASS (Osnabrück) der die veränderte Rolle der HistorikerInnen im Kontext der immer weiter steigenden Zugänglichkeit der historischen Dokumente für alle diskutierte. Neben der damit verbundenen Demokratisierung des Wissens führe diese Tendenz zur Desintermediation, in anderen Worten zum Verlust der Gatekeeper-Funktion von HistorikerInnen in Bezug auf Zugang zu den Archivdokumenten. Somit verliere die akademische Welt die Kontrollmöglichkeit über die Sinnbildung. Rass appellierte dazu, diesen Prozess mitzugestalten, wenn man von ihm nicht überrollt werden will. Eine weitere Gefahr des aktuellen Wandels sieht er in der Verladung der Sichtbarkeit der AkteurInnen historisch-politischer Bildung zugunsten derjenigen, die aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten für mehr Präsenz und Relevanz in der digitalen Welt sorgen. Durch die Quantifizierbarkeit der Nutzung digitaler Angebote können Benutzerzahlen wiederum als Druckmittel auf Geldgeber dienen, was dazu führen kann, dass kleineren Einrichtungen die Finanzierung verwehrt wird.

Im Anschluss wurden diverse Themenfelder, von Social Media und Geodaten über digitales Gedenken, Aufbewahren und Vermitteln bis hin zur Augmented und Virtual Reality in Arbeitsgruppen diskutiert.

Im Workshop „Online-Archive und die Online-Veröffentlichungen historischer Dokumente“ (AG 5) präsentierten ANDREAS WEBER (Stuttgart) und GIORA ZWILLING (Bad Arolsen) Online-Archive zum Thema Nationalsozialismus sowie Online-Zugänge der staatlichen Archive. Anschließend diskutierten die Teilnehmenden am Beispiel der Online-Archive in Bad Arolsen die Chancen und Herausforderungen solcher Angebote. Dabei war allgemeiner Konsens, dass es sich nicht um die Frage „ob?“, sondern „wie?“ handelt: Der Prozess der Digitalisierung sei notwendig und unaufhaltbar, müsse aber möglichst respektvoll gegenüber den in den Archiven erwähnten Personen gestaltet werden. Dies setzt einen enormen finanziellen Aufwand voraus (Erschließung, Überwachung der Kommentare, sprachliche Kompetenzen des involvierten Personals usw.), sodass insbesondere für kleinere Einrichtungen nur eine Lösung durch Vernetzung möglich sei. Online-Archive werden daher zukünftig zunehmend einen Verbundcharakter zwischen verschiedenen Einrichtungen erhalten.

In der Arbeitsgruppe „Digitalisierte Zeitzeugeninterviews in der historischen Bildungsarbeit“ (AG 6) stellten VERENA LUCIA NÄGEL (Berlin), STEFFI DE JONG (Köln) und SONJA BEGALKE (Berlin) aktuelle Projekte aus dem Bereich der digitalisierten Zeitzeugeninterviews vor. Insbesondere das „Forever Project“ des National Holocaust Center and Museum sorgte für eine rege Diskussion unter den Teilnehmenden. Dabei wurde gefragt, inwieweit entsprechende Quellenkritik noch möglich sei und ob die Immersion (nach James Fencott die Fähigkeit, mental nicht in der Umgebung präsent zu sein, in der man offensichtlich physisch präsent ist) nicht einen Missbrauch der Erwartungen der ZuschauerInnen und der ZeitzeugInnen darstelle. Zudem wurde davor gewarnt, dass die Anwendung moderner Medien für die Aufbewahrung der Zeitzeugeninterviews zu einer ungerechten Verteilung ihrer Präsenz führen kann. Beispielsweise bleiben die nicht-jüdischen Überlebenden in den neuesten Projekten stark unterrepräsentiert, wenn nicht ganz ausgeblendet, weil sie größtenteils älter waren und den heutigen Grad der Digitalisierung nicht mehr miterleben konnten.

Zum Abschluss des Tages stellte HANNES BURKHARDT (Nürnberg) seine fast abgeschlossene Dissertation vor und diskutierte die Chancen und Herausforderungen des Digitalen für das historische Lernen. Er warnte vor einer Vernachlässigung didaktischer Grundsätze bei der Vermittlung der Geschichtsthemen über Social-Media-Plattformen, auch wenn ihr Lebenswelt- und Gegenwartsbezug grundsätzlich dafür anfällig sei. In seiner Forschung kam Burkhardt zu dem Schluss, dass trotz des kommunikativen Charakters der Social Media kein ergebnisorientierter und diskursiver Meinungsaustausch über diese Plattformen stattfindet. Außerdem stellte er fest, dass aufgrund der Kurzlebigkeit und der rasanten Entwicklung von Internet-Trends eine entsprechend schnelle Auswertung empirischer Daten nicht möglich scheint.

Am Vormittag des dritten Veranstaltungstages wurden die meistgefragten Arbeitsgruppen nochmals für alle Interessierten geöffnet, bevor sich alle Teilnehmenden zur abschließenden Podiumsdiskussion zusammenfanden. Vertreter der großen Bildungsportale zur Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust äußerten sich zu Perspektiven von Internetplattformen bei der Bekämpfung des Geschichtsrevisionismus. THOMAS KRÜGER von der Bundeszentrale für politische Bildung (Bonn) betonte die Möglichkeit, bestimmte Adressatengruppen über Social Media zu erreichen, die man sonst aufgrund ihrer politischen bzw. gesellschaftlichen Passivität gar nicht erreichen würde. Dabei seien Bildungsportale auf Kooperationen mit Influencern angewiesen, die passend für jede Zielgruppe ausgesucht werden sollten. OLIVER SCHWEINOCH vom Lebendigen Museum Online des DHM (Berlin) konnte am Beispiel seiner Einrichtung und der aktuellen statistischen Daten zeigen, dass die von manchen Einrichtungen gefürchtete Kommentarfunktion zwar zeitlich intensive Betreuung benötigt, den Communities aber gewisse Selbstkorrektur und –regulierung erlaubt. ZIKO VAN DIJK (Wikipedia) warnte vor fehlenden einheitlichen Datenmodellen und der Gefahr der Ausnutzung freier Lizenzen durch Plattformen mit rechten Inhalten.

Abschließend wurden die Ergebnisse der Tagung ausgewertet. Als großer Wunsch stellte sich die Vernetzung der Gedenkstätten heraus, damit auch kleineren Einrichtungen mit geringen finanziellen Möglichkeiten die Teilhabe an den Digitalisierungsprozessen ermöglicht werden kann. Es wurde auch betont, dass verschiedene Einrichtungen vereinzelt Expertise besitzen, die mehr Sichtbarkeit und Zugriff durch andere AkteurInnen historisch-politischer Bildung erhalten sollten, wozu das Gedenkstättenforum gegebenenfalls verstärkt als Kommunikationsplattform zwischen verschiedenen Einrichtungen beziehungsweise Projekten dienen sollte. Die noch fehlende Niederschwelligkeit und Barrierefreiheit im Internet wurde von den Teilnehmenden als notwendige Grundvoraussetzung zur Ermöglichung der Teilhabe an Digitalisierungsprozessen für ein breites Publikum definiert. Hinzu kommt, dass HistorikerInnen zunehmend auch Kompetenzen in technischen Bereichen gewinnen sollten, um in der Lage zu sein, bestimmte Zielgruppen in den Prozess miteinzubeziehen, anstatt ihnen „hinterherzurennen“. Trotz der angesprochenen Herausforderungen verstanden die meisten Teilnehmenden Digitalisierung als eine Chance für die Weiterentwicklung der Gedenkstättenpädagogik im Kontext der aktuellen globalen Kommunikationstrends.

Insgesamt erwies sich das Seminar erneut als wichtigster Treffpunkt für die Vernetzung der großen und kleinen Einrichtungen der historisch-politischen Bildung. Die Zahl der Teilnehmenden sowie die Qualität der Beiträge und der in Arbeitsgruppen behandelten Themen gaben einen umfassenden Einblick in die wichtigsten Digitalisierungsprojekte der Gedenkstättenlandschaft und verdeutlichten das Potenzial und die Notwendigkeit der Vernetzung und des Austausches von Expertise auf dem Gebiet.

Konferenzübersicht:

Simon Lengemann (Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn), Floriane Azoulay (Arolsen Archives, Bad Arolsen), Thomas Lutz (Stiftung Topographie des Terrors, Berlin): Begrüßung

Manuel Burghardt (Universität Leipzig): Herausforderungen des Digitalen für GLAMs (Galleries, Libraries, Archives, and Museums)

Verena Lucia Nägel (Freie Universität Berlin): Von digitalen Klassenzimmern und virtuellen Zeitzeugenbegegnungen#

Christoph Rass (Universität Osnabrück): Chancen und Herausforderungen von Online-Archiven zu den NS-Verbrechen für Forschung und Vermittlung

AG 1: Das Internet als Informationsquelle für historisches Lernen

Svea Hammerle (Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin), Simon Lengemann (Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn), Ingolf Seidel (Agentur für Bildung e. V., Berlin)

AG 2: Social Media im Spannungsfeld von PR und Vermittlung

Tessa Bouwman (Gedenkstätte Bergen-Belsen, Lohheide), Anke Münster (Arolsen Archives, Bad Arolsen)

AG 3: Geographische Informationssysteme (GIS) in Forschung und Vermittlung

Sebastian Bondzio (Universität Osnabrück), Henning Borggräfe (Arolsen Archives, Bad Arolsen)

AG 4: Gedenk- und Totenbücher im Internet

Andreas Kranebitter (KZ-Gedenkstätte Mauthausen), Tanja von Fransecky (Bundesarchiv, Koblenz)

AG 5: Online-Archive und die Online-Veröffentlichung historischer Dokumente

Andreas Weber (Landesarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart), Giora Zwilling (Arolsen Archives, Bad Arolsen)

AG 6: Digitalisierte Zeitzeugeninterviews in der historischen Bildungsarbeit

Verena Lucia Nägel (Center für Digitale Systeme, Freie Universität Berlin), Steffi De Jong (Universität zu Köln), Sonja Begalke (Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, Berlin)

AG 7: Digitale Angebote für die Vor- und Nachbereitung von Gedenkstättenbesuchen

Christa Schikorra (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg) Bernhard Schütz (Berthold-Brecht-Gymnasium Darmstadt)

AG 8: Digitalisierung durch Kooperationen mit kommerziellen Anbietern?

Anette Meiburg (Bundesarchiv, Koblenz), Harald Stockert (MARCHIVUM, Stadtarchiv, Institut für Stadtgeschichte Mannheim)

AG 9: Augmented Reality an historischen Orten

Iris Groschek (KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg), Jens-Christian Wagner (Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Celle) Stephanie Billib (Gedenkstätte Bergen-Belsen, Lohheide)

Hannes Burkhardt (Nürnberg): Geschichte in Internet und Social Media. Herausforderungen und Chancen für historisches Lernen, Gedenken und Erinnern