Stadt und Meer im Ostseeraum während des 17. und 18. Jahrhunderts. Seehandel, Sozialstruktur und Hausbau - dargestellt in historischen Informationssystemen

Stadt und Meer im Ostseeraum während des 17. und 18. Jahrhunderts. Seehandel, Sozialstruktur und Hausbau - dargestellt in historischen Informationssystemen

Organisatoren
Forschungsverbund "Städtesystem und Urbanisierung im Ostseeraum in der Neuzeit" gemeinsam mit der Hansestadt Stralsund
Ort
Stralsund
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.09.2005 - 09.09.2005
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Von
Andrea Pühringer

Der Forschungsverbund "Städtesystem und Urbanisierung im Ostseeraum in der Neuzeit", angesiedelt an der Universität Rostock sowie an der Hochschule Wismar, veranstaltete gemeinsam mit der Hansestadt Stralsund seine vierte und - aufgrund des Auslaufens des Projektes - letzte Konferenz, die ähnlich wie die Vorgängerveranstaltungen aufgebaut war.
Wurden ursprünglich die Konzeption von historischen Informationssystemen und die Analyse von Demografie, Wirtschaft und Baukultur im 17. und 18. Jahrhundert in den Blick genommen, so behandelte das Anschlussprojekt des Verbundes nun Stadt und Meer im Ostseeraum während des 17. und 18. Jahrhunderts, mit den Schwerpunkten Seehandel, Sozialstruktur und Hausbau, wiederum dargestellt anhand historischer Informationssysteme 1.

Ein insgesamt erfreulicher Aspekt dieser Tagung war, dass in ihrem Rahmen ein Forum zur Verfügung stand, bei dem nicht nur eine Reihe junger Projektmitarbeiter/innen ihre Arbeiten vorstellen konnten, sondern sich gleichzeitig durch die internationale Teilnehmerschaft das Eingebundensein in einen regionalen Verbund innerhalb des Mare Balticum zeigte.

Die Tagung gliederte sich in vier Sektionen, die von einer Einführung in die allgemeine Kleinstadtforschung sowie in die pommersche Stadtgeschichte in Spätmittelalter und Frühneuzeit, über die wechselvolle Geschichte Stralsunds im 17. und 18. Jahrhundert bis hin zur Vorstellung von Stadtinformationssystemen in der Geschichtswissenschaft reichten. Die Sektion zu frühneuzeitlicher Schifffahrt und Seehandel im Ostseeraum beschloss die Tagung und machte auch hier wiederum die Verbundenheit der deutschen Ostseeküste mit dem Baltikum und Skandinavien deutlich.

Grundsätzlich basiert das Forschungsprojekt auf interdisziplinären Ansätzen in Verbindung mit multimedialen historischen Informationssystemen. Darüber hinaus besaß es die einmalige Möglichkeit, auf eine, neben dem "üblichen" quantitativen Datenmaterial - für viele Frühneuzeitler/innen - beneidenswerte Quelle, das sogenannte "Schwedischen Matrikelwerk" Zugriff zu haben. Dabei handelt es sich um einen für das frühe 18. Jahrhundert ausgesprochen genauen Kataster mit Parzellenbeschreibungen, die bis hin zu Anmerkungen über Größe und Qualität von Wohnraum, Betriebsstätten, Heizmöglichkeiten u.ä. reichen. Da er für den Großteil derjenigen Städte existiert, die sich unter schwedischer Herrschaft befanden, bietet er eine gute Vergleichsgrundlage für die Urbanisierung der Region.

Nach einführenden Worten von Kersten Krüger und Frank Braun erläuterte Holger Th. Gräf (Marburg) am Beginn der ersten Sektion den allgemeinen Stand in der historischen Kleinstadtforschung bzw. die Entwicklung dieser, in der traditionellen Stadtgeschichtsforschung nach wie vor unterbelichteten Disziplin. Er bot in diesem Zusammenhang einen umfassenden Überblick über die Thematik "Kleine Städte" seit den 1970er Jahren. Gleichzeitig betonte er ihren nicht zu unterschätzenden Beitrag für den Urbanisierungsprozess, dem oftmals noch mit Vorurteilen wie dem der "erzkonservativen Modernisierungsfeindlichkeit des Kleinstadtbürgertums" begegnet würde. Darüber hinaus verwies er auf die Rolle der Kleinstädte bei der Einbindung in den frühmodernen Staat sowie auf die Bedeutung regionaler Vernetzung von Kleinstädten bei gleichzeitigem Rückgang der großstädtischen Multiplikatorfunktion für die sozio-kulturelle Entwicklung.
Heidelore Böcker (Berlin) versuchte indes eine Darstellung der Kleinstädte und der Hanse in Vorpommern und Rügen während des späten Mittelalters, wobei sie vor allem auf den hohen Grad der Urbanisierung dieses Landstrichs verwies. Zwar stellte sie die Hansestadt als niederdeutschen Städtetypus quasi als "geschlossenes System" der Hanse als an sich offenem Wirtschafts- und Kommunikationssystem gegenüber, die im Thema angekündigten Freiräume und Knotenpunkte informeller Vernetzung wurden jedoch nicht deutlich.
Carina Hojenski (Rostock) stellte mit den Kleinstädten in Schwedisch-Pommern um 1700 ihr Dissertationsprojekt vor. Es ist ein Beispiel, des mehrfach auf der Tagung vorgestellten historischen Informationssystems, auf Basis des schwedischen Katasters, das als Basis für vergleichende Analysen des Städtesystems - hier von Schwedisch-Pommern - dienen soll. Insgesamt konstatierte sie zwei Gruppen von Städten, wobei die eine - zumeist diejenige der größeren Städte - auf internationale Handelsbeziehungen verweisen konnte, während die andere Gruppe - diejenige der Kleinstädte - stark in ihrem Umfeld verhaftet blieb. Gerade anhand der Sozialstruktur konnte dies näher beleuchtet werden. Der hier wiederum auftauchende Begriff der seit Jahren diskutierten "Städtelandschaft" blieb leider ohne theoretischen Unterbau oder methodische Reflexion, wurde indes in der anschließenden Aussprache kritisch diskutiert.

Die zweite, thematisch sehr dichte Sektion, die sich mit der Stralsunder Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts befasste, zeigte vor allem auch die interdisziplinären Aspekte des Forschungsverbundes auf. Anna Grabinsky (Rostock) beschäftigte sich in ihrem, auf ihrer Magisterarbeit beruhendem Vortrag mit dem Wiederaufbau Stralsunds nach den beiden Bränden, die 1678 und 1680 die Stadt heimgesucht hatten. Bei ersterem handelte es sich um ein Bombardement, bei zweiterem hingegen um einen tatsächlichen "zivilen" Stadtbrand. Ihre hauptsächlichen Quellen stellen Haussteuer-Register dar, auf deren Basis und gemeinsam mit dem Kataster rund 500 Gebäude genau datiert werden konnten. Die Register vermerkten nicht nur Wiederaufbau, sondern ebenso zeitlich befristete Steuerbefreiungen. Dementsprechend war es möglich, die den Bränden folgende Baukonjunktur minuziös nachzuvollziehen und auch Neubauten bzw. Brachlagen zu lokalisieren.
Karsten Labahn (Rostock) schilderte in seinem Vortrag, der ebenfalls seine Magisterarbeit zum Ausgangspunkt hatte, die innerstädtische Mobilität Stralsunds zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Er benutzt als Quelle das erwähnte, in ein Informationssystem umgewandelte schwedische Katasterwerk, anhand dessen er den Fragen nach Mobilität und Sesshaftigkeit der frühneuzeitlichen städtischen Gesellschaft nachzugehen suchte. Dabei analysierte er die Zusammenhänge von sozio-strukturellen Verhältnissen und Mobilitätsverhalten ebenso wie die Frage, wie die Mobilität die sozial-topographischen Verteilungsmuster der Gesellschaft beeinflusste, und inwieweit die sozialräumliche Gliederung der Stadt anhand der Analyse des Mobilitätsverhaltens aufgezeigt werden kann. Als bedeutendeste Kategorien für Mobilität erwiesen sich das Alter, die Abhängigkeit von Betriebsstätten sowie die sozialräumliche Gliederung der Stadtviertel.
Die beiden Kunsthistorikerinnen Friederike Thomas und Sabine Kahle (Wismar/Stralsund) näherten sich dem Thema der Stralsunder Baukultur der Schwedenzeit über sogenannte Hausbiographien.2 Dabei wurde ein Teil der 330 Häuser umfassenden barocken Bausubstanz Stralsunds genau untersucht, wobei Fragen nach Bauherren, beteiligten Handwerkern und Architekten nachgegangen wurde. Basierend auf einer jeweiligen Bauaufnahme der einzelnen, vor allem unsanierten Gebäude, die bessere Informationen zur Entstehungszeit lieferten als bereits renovierte, konnten Themen wie Überbauungen, mittelalterliche Vorgängerbauten oder die Wiederverwertung von Baumaterial ebenso geklärt werden wie jene Fragen nach dem vorherrschenden Baustil und dem Einfluss mehr oder weniger namhafter Architekten. Als Grundlagen dafür diente neben den schwedischen Matrikeln, die zum Teil auch Baupläne enthielten, ein Schadensregister aus der Zeit um 1711, sowie der Stadtplan von 1647. Den sehr informativen Vortrag beschloss eine Exkursion bei der zwei unsanierte Objekte - einer der wenigen Palaisbauten Stralsunds sowie ein viergeschossiges Giebelhaus - begangen werden konnten.

Die dritte Sektion mit dem Thema Stadtinformationssysteme und Geschichtswissenschaft befasste sich nun näher mit der - von Historiker/innen oft nicht gern in den Blick genommenen - technischen Seite der EDV-gestützten Forschungsvorhaben, die in Gänze früher oder später im Internet zugänglich gemacht werden sollen bzw. bereits zugänglich sind. Hier war nun die interdisziplinäre Kooperation mit Informatikern gefragt. Søren Bitsch Christensen (Århus) und Mike Jensen (Rostock) präsentierten das Projekt "Urban Cultural Heritage of the Mare Balticum", ein IT-Projekt, das von der EU-Kommission gefördert wurde und ein gemeinsames Internetportal zu den "Historical Towns in the Baltic Area and Scandinavia" - als Verbund dreier Forschungseinrichtungen zum Ziel hat. Beteiligt sind "Den Digitale Byport" des Danish Centre for Urban History, University of Århus, das Projekt "Ostsee-Städte" des Arbeitsbereiches Multimedia und Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften der Universität Rostock sowie das "Cyber City" Projekt des Institute of Urban History der Universität Stockholm.3 In diesen Projekten werden, unterstützt von anderweitigen universitären Einrichtungen, historische Städte des Baltisch-Skandinavischen Raumes soweit wie möglich und unter bestimmten Kriterien in Datenbanken aufgenommen und über das Web zugänglich gemacht. Derzeit sind über das Webportal, das die unterschiedlichen Projekte verknüpft, 293 Städte abrufbar.
Stefan Kroll und Gyula Pápay (Rostock) stellten anhand der Sozialstruktur von Greifswald ihr - ebenfalls auf der schwedischen Landesaufnahme basierendes - Stadtinformationssystem vor. Dabei ging es nicht nur um die Verortung von Berufen, Steuerklassen, Wohn- und Arbeitsstätten sowie sozialer Stellung, sondern all diese - in einer Datenbank zusammengestellten Informationen - können auch mit einer Karte verknüpft und anhand dieser unterschiedliche Fragestellungen optisch wiedergegeben werden. Ein Instrumentarium, das als Basis für Forschungsarbeiten, in Zeiten, in denen Grundlagenforschung staatlicherseits kaum mehr gefördert wird, nur zu begrüßen ist.
Ein ähnliches Projekt zu Stettin stellte Katrin Möller-Funk (Rostock) vor, die dem schwedischen Katasterwerk noch Neubürgerlisten sowie Trauregister als Quellenbasis hinzufügt hatte. Auch sie versucht Fragen nach der Sozialstruktur zu beantworten - ein Vorhaben, das in weiterer Folge auch vergleichenden Ansätzen zwischen den einzelnen Städten Rechnung tragen soll, um den Fragen nach Städtesystem oder -hierarchie vertieft nachgehen zu können.
Jan-Olaf Linke (Freiburg/Br.) und Rainer Spittel (Bremen) beschlossen die Sektion mit der Präsentation von HGIS - Historischer Geographischer Informationssysteme in Lehre und Forschung, wobei es um Themen wie die EDV-gestützte Darstellung und Verknüpfung von historisch-thematischen bzw. kartographischen Problemen ging. Im Mittelpunkt stand dabei die Diskussion von offenen und geschlossenen Systemen und ihre Zugänglichmachung im Web.
In der vierten Sektion, die sich mit Schifffahrt und Seehandel im Ostseeraum befasste, beschäftigte sich Werner Scheltjens (Groningen) mit dem holländischen Handel in der baltisch-finnischen Region zwischen 1558-1780. Dabei präsentierte er unterschiedliche Quellen, anhand derer Fragen nach Schiffen, Schiffsgröße, Besitzer, Routenverlauf, Fracht, Zöllen u.ä. nachgegangen wurde.
Den Seehandel Pernaus im 18. Jahrhundert thematisierten Gregor Thomsen, Torsten Foy und Gyula Pápay (Rostock). Auch hier wurde ähnlichen Fragestellungen nachgegangen, die - dank Gyula Pápay, der wohl innerhalb des Forschungsverbundes als spiritus rector der digitalisierten Kartographie in Kombination mit historischen Fragestellungen gelten darf - auch ihre digitalisierte kartographische Darstellung fand. Er verband Tabellen mit den Daten der jeweiligen ein- und auslaufenden Schiffe mit zusätzlichen Informationen, die dann je nach Fragestellung über die Grafiken bzw. Karten abrufbar sind.

Die Schlussdiskussion offenbarte vor allem Fragen nach der Nutzbarmachung der Stadtinformationssysteme als Ressource - ihre Verbreitung und Bekanntmachung in der Öffentlichkeit. Frank Braun verwies darauf, dass etwa die Behörden von Denkmalschutz und Bauaufsicht bereits auf die Häuserbiographien zugriffen. Angedacht wurde auch, den Zugang für eine breite Öffentlichkeit über Museen, Stadtführungen u.ä. zu ermöglichen. Allerdings stellte sich besonders bei der Diskussion um den Einsatz von EDV-Systemen und der Aufbereitung bzw. Bearbeitung von Daten heraus, dass darüber bei weitem keine einhellige Meinung vorherrschte, da gerade Standardisierungen den Informationsgehalt von Quellen schwächen können und die EDV-Systeme diesen Ansprüchen gerecht werden sollten. Dennoch und das kann wohl als Quintessenz der Tagung gewertet werden, ist zum einen die interdisziplinäre Kooperation mittlerweile eine Unabdingbarkeit geworden, besonders wenn der weite Bereich der EDV betroffen ist. Zum anderen zeigte sich gerade anhand der vielen Möglichkeiten, die die EDV den Historiker/innen bietet, dass die wichtige Verbindung von Datenaufbereitung und methodisch-inhaltlichen Fragestellungen, die selbst bei der Erstellung von Grundlagen wie Datenbanken fundamental ist, schon bei den Vorüberlegungen zu bedenken ist.

Anmerkungen:
1http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/imd/forschung/homemare2/homeMaBa.htm
2http://www.bau.hs-wismar.de/braun/Wismar/HAUSBIOGRAPHIEN/Grundkarten/Kartennavigation/karte.htm
3http://www.baltictowns.com/portal


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