Europa und der Alte Orient. Rezeption und Konstruktion von Orientbildern in der (Frühen) Neuzeit

Europa und der Alte Orient. Rezeption und Konstruktion von Orientbildern in der (Frühen) Neuzeit

Organisatoren
Kerstin Droß-Krüpe, Ruhr-Universität Bochum / Universität Kassel; Agnès Garcia Ventura, Universitat Autònoma de Barcelona; Kai Ruffing, Universität Kassel; Lorenzo Verderame, Sapienza University of Rome
Ort
digital (Kassel)
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.03.2021 - 04.03.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Falk Ruttloh, Alte Geschichte, Universität Kassel

Wenn auch die griechisch-römische Antike für die Bildung europäischer Identität(en) in der Vergangenheit bereits breit untersucht wurde, so ist das für den „Alten Orient“ nur bedingt der Fall. Dabei spielt auch dieser Kulturkreis eine wichtige Rolle bei der Ausbildung besagter Identität(en), die sich immer auch aus Alteritätsdiskursen als der Konstruktion eines wie auch immer geartete „Anderen“ konstituiert. Mit der Konferenz wollten die Organisatorinnen und Organisatoren KERSTIN DROß-KRÜPE (Bochum / Kassel), AGNÈS GARCIA VENTURA (Barcelona), KAI RUFFING (Kassel) und LORENZO VERDERAME (Rom) genau diese Zusammenhänge näher ergründen und Raum geben diese interdisziplinär zu besprechen. So kamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Altorientalistik, Alten Geschichte, Archäologie, Kunstwissenschaften, Literaturwissenschaften, Frühneuzeitlichen sowie der Neueren und Neuesten Geschichte zusammen, um epochenübergreifend Rezeptionsmechanismen aufzuzeigen und zu diskutieren.

CHRISTIAN FESER (Duisburg-Essen) eröffnete mit seinem Vortrag das erste Panel „Travellers and Archaeological Campains“. Konkreter skizzierte er mit seinen Ausführungen über die „Orient“-Reisen des englischen Reisenden Thomas Coryat im beginnenden 17. Jahrhundert dessen Konstruktionen von Orientbildern. Durch das zeitliche und regionale Vergleichen unterschiedlicher Kulturen durch Coryat konnten zeitgenössische Rezeptionsstrategien aufgezeigt werden. Mit dem anschließenden Beitrag von JOSEF WIESEHÖFER (Kiel) zu Carsten Niebuhr, Silvestre de Sacy und den Anfängen persischer Epigrafik wurden wissenschaftsgeschichtliche Verbindungen besprochen und auf deren Wirkmacht für entstehende europäische Orientbilder, aber auch auf ihre Funktion als Fundament folgender wissenschaftlicher Studien aufmerksam gemacht. Wie auch ohne eine klassisch wissenschaftliche Intention die Idee einer Region oder einer Kultur in Europa kommuniziert werden konnte, zeigte EVE MAC DONALD (Cardiff). Anhand von Zeichnungen sassanidischer Felsreliefs von dem im 19. Jahrhundert reisenden Briten Sir Robert Ker Porter konnten politische Perspektiven sowie die Formulierung europäischer Machtansprüche in Vorderasien dargestellt werden. HANNES GALTER (Graz) zeigte darauf Debatten rund um die Entzifferung der Keilschrift in der Zeitschrift „Fundgruben des Orients“ auf. Im Besonderen wurden hierbei wissenschaftliche Netzwerke, konkreter der Austausch von Joseph von Hammer-Purgstall, Carl Bellino und Georg Friedrich Grotefend, auf ihre Funktion und Wirkmacht hin untersucht. Auf die Funktion naturgeschichtlicher Schilderungen machte SILKE FÖRSCHLER (Kassel) mit ihrem Beitrag zur „Description de l’Égypte“ von 1809 aufmerksam. Hierbei wurden die dortigen Abbildungen altägyptischer wie altvorderasiatischer Bauten auf zugrundliegende Muster untersucht, auf die Darstellung von Tieren gemäß frühneuzeitlicher Sammlungs- und Sehgewohnheiten hingewiesen, aber auch die Verknüpfung der abgebildeten Naturgeschichte als Teil einer Geschichte des antiken „Orients“ aufgezeigt. KORDULA SCHNEGG (Innsbruck) beleuchtete die Funktion der Antike als ideelle Entwicklungsstufe für Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert anhand der „Orientalischen Briefe“ von Ida Hahn-Hahn. Weiter wurden die zugrundeliegenden Mechanismen für die Darstellung von Antike und „Orient“ durch Hahn-Hahn im Rahmen ihrer Schilderungen von Weiblichkeit und Fremdheit nachgewiesen und näher kontextualisiert. Mit dem Gästebuch der deutschen Babylon-Expedition des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts stellte GEORG NEUMANN (Berlin) eine bemerkenswerte Quelle vor. Nicht nur zeigen die in Teilen humorvollen Schilderungen, Anekdoten und Skizzen bestehende Orientbilder auf, sondern spiegeln ebenso zeitgenössische Geschichte wider.

PEDRO AZARA (Barcelona) führte mit seinen Ausführungen zum Bild Mesopotamiens in der Oper des 18. Jahrhunderts in das zweite Panel der Konferenz, „Opera“, ein. Besonders thematisierte er hier die europäischen Konnotationen von Symbolen wie dem Turm zu Babylon oder der Nutzung von Kostümen ottomanischen Stils zur Darstellung des „Orients“. Für seine Ausführung wurde ein Fokus auf die Libretti Petro Metastasios gelegt. DAVIDE NADALI (Rom) fuhr mit einer Fallstudie zur 1842 uraufgeführten, von Guiseppe Verdi komponierten Oper „Nabucco“ fort. Hierbei stand besonders die Analyse der genutzten Quellen, konkreter das Verhältnis von klassisch antiken Quellen zur Bibel im Vordergrund. VALESKA HARTMANN (Marburg) schloss den ersten Tag wie auch das Panel mit methodischen Überlegungen zur narrativen Funktion von Bühnenbildern in der barocken Oper. Hierbei stellte sie den Zusammenhang von in der Oper zu vermittelnden Emotionen und der gestalterischen Ausformung der Bühnenbilder vor und summierte eine Kanonisierung derer Gestaltung im 19. Jahrhundert.

Das Panel „Academia / Schools / Fiction“ eröffnete SEBASTIAN FINK (Innsbruck) mit seinen Ausführungen über Oswald Spengler und dessen geschichtsphilosophischer Einordnung der altvorderasiatischen Geschichte. Ziel war es hierbei, die Rolle des „Orients“ für kulturelle Entwicklungsprozesse und Geschichten des Niedergangs in Spenglers Schriften fassbar zu machen. ARNALDO MARCONE (Rom) stellte im Rahmen einer wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellung das Werk des italienischen Althistorikers Arnaldo Momigliano mit Fokus auf dem Band „Alien Wisdom“ vor. Er arbeitete heraus, in welchem Maße Momiglianos Ausführungen das Verhältnis zwischen den griechischen, römischen, jüdischen und vorderasiatischen Kulturen besprechen und konstruieren. Eine wissenschaftsgeschichtliche Stoßrichtung hatte auch der darauffolgende Vortrag von HANS NEUMANN (Münster). Dieser stellte Bilder des „Alten Orients“ in deutschen Weltgeschichten des 19. Jahrhunderts nach der Entzifferung der Keilschrift dar und skizzierte die dortige Verhandlung von geschichtsphilosophischen wie globalhistorischen Perspektiven. Unter der Fragestellung „Barbaren oder Vorbilder?“ schloss sich ein Exkurs zu Orientbildern in Schulbüchern der wilhelminischen Zeit durch BJÖRN ONKEN (Duisburg-Essen / Münster) an. Die zeitgenössische Quellenlage reflektierend, zeigte er die durchaus differenzierte Schilderung altvorderasiatischer Geschichte auf und wies auf die Funktion der Schulbücher für das bürgerliche Leistungsprinzip in Form der Würdigung der antiken Wissenschaft, Religion und Politik hin. Den letzten Beitrag zum Panel lieferte FRIEDHELM PEDDE (Berlin) mit seinen Ausführungen zur Konzeption des „Orients“ und seiner Kultur in den literarischen Werken von Karl May. Nicht nur wurde das fachliche Fundament der Werke Mays in Form der Nutzung von einschlägigen Übersetzungen keilschriftlicher Texte besprochen, auch stellte er im Besonderen die Rolle der Werke für die deutsche populäre Kenntnis dieser antiken Kulturen dar.

Das letzte Panel der Konferenz „Architecture / Arts and Crafts / Everyday Culture“ wurde von MARIA GABRIELLA MICALE (Berlin) mit einem Beitrag zur Verbindung des Leiters der deutschen Grabungen in Babylon und Assur, Walter Andrae, und dem Direktor des Vorderasiatischen Museum in Berlin, Anada K. Coomaraswany, begonnen. Hierbei wurden die anthroposophischen Argumentationsstrukturen beider besonders im Hinblick auf ihre Interpretation von altvorderasiatischer Architektur thematisiert. Den Einfluss dieser altvorderasiatischen Bauformen auf die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts stellte BRIGITTE PEDDE (Berlin) vor. Am Beispiel des Einsteinturms auf dem Potsdamer Telegrafenberg wie dem mittlerweile zerstörten Karstadt-Gebäude auf dem Berliner Hermannplatz zeichnete sie Verbindungslinien unter anderem zu den von Walter Andrae angefertigten Rekonstruktionszeichnungen assyrischer und babylonischer Tempelgebäude nach. In eine andere Richtung zielte der Vortrag von FRANCES PINNOCK (Rom). Diese kontextualisierte die Einflüsse des „Orients“ auf die Mode seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. In diesem Kontext erläuterte sie, wie sich historische Umschwünge wie der Zweite Weltkrieg auf den Umgang mit dieser Bezugsebene in der Mode auswirkten. CHRISTOPH HEYL (Duisburg-Essen) stellte im Folgenden den Bezug der frühen Kaffeekultur Englands im 17. Jahrhundert auf den „Orient“ als imaginiertem Herkunftsort dieses Getränks dar. Anhand von zeitgenössischen Flugblättern für und wider den Konsum des Getränks wurden die dort zugrundeliegenden Orientbilder besprochen. Das Panel beschloss MICHAEL YONAN (St. Davis, Kalifornien) mit dem letzten Vortrag der Konferenz. Seine Analyse von Interpretationen altvorderasiatischer Personen und Motiviken in deutscher Keramik des 18. Jahrhunderts zeigte durch mehrere Fallstudien auf, wie diese Vorstellungen im Medium Porzellan durch eine Reihe anderer zeitgenössischer Werke wie durch die Arbeiten des flämischen Barockmalers Paul Peter Rubens beeinflusst worden sind.

Nicht zuletzt die hohe Zahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern wie auch die angeregten Diskussionen zeigten, dass die hier bearbeiteten Themen eine große Aktualität besitzen. Auch fiel die für eine digitale Konferenz ungewöhnlich produktive und herzliche Atmosphäre auf. Aus fachlicher Perspektive zeigte sich immer wieder wie fruchtbar die vorliegenden Metarezeptionen im interdisziplinären Austausch bearbeitet werden können und wie sehr selbst die moderne, sich mit altvorderasiatischen Kontexten auseinandersetzende, Wissenschaft Rezeptionsphänomenen aufsitzt. Es kann bei den Annäherungen an solche nicht die Kernfrage sein, ob der „Orient“ richtig oder falsch dargestellt wurde, sondern viel mehr wie und in welcher Situation er wie rezipiert, angeeignet und als Argument benutzt wurde. Auch boten die vorgetragenen Themen immer wieder Raum, um über heutigen Eurozentrismus in der Wissenschaft zu diskutieren. Dementsprechend wurde dann auch von LORENZO VERDERAME (Rom) und AGNÈS GARCIA VENTURA (Barcelona) in ihrem Resümée konstatiert, dass es nicht nur die Forschungsobjekte untereinander zu kontextualisieren gilt, sondern ebenso das Verhältnis zwischen Forschenden und Forschungsobjekt selbst thematisiert werden muss.

Konferenzübersicht:

Kai Ruffing (Kassel) / Kerstin Droß-Krüpe (Bochum / Kassel): Welcome and Opening

Panel I: Travellers and Archaeological Campaigns
Chair: Ulrich Niggemann (Augsburg) / Arnaldo Marcone (Rom) / Anne-Charlott Trepp (Kassel)

Christian Feser (Duisburg-Essen): Thomas Coryate and his image of the Orient

Josef Wiesehöfer (Kiel): Carsten Niebuhr, Silvestre de Sacy and Sassanian Testimonia

Eve MacDonald (Cardiff): Putting yourself in the Picture: Sir Robert Ker Porter and the Sasanians

Hannes Galter (Graz): Joseph von Hammer-Purgstalls Fundgruben des Orients und die Entzifferung der Keilschrift

Silke Förschler (Kassel): Naturgeschichte und die Evidenz des Orients in der Description de l'Égypte

Kordula Schnegg (Innsbruck): Antike, Emanzipation und Orientalismus in den Orientalischen Briefen (1844) von Ida Hahn-Hahn

Georg Neumann (Berlin): Die Ausgrabungen in Babylon im Spiegel des Gästebuchs der Expedition

Panel II: Opera
Chair: Agnès Garcia Ventura (Barcelona)

Pedro Azara (Barcelona): Singing in the Ruins: Operas and the Image of Mesopotamia in the 18th Cent.

Davide Nadali (Roma): From the Bible to Nabucco: The Question of the Sources

Valeska Hartman (Marburg): Narrative Space: Ancient Orient in 19th Cent. Stage Design

Panel III: Academia / Schools / Fiction
Chair Kai Ruffing (Kassel) / Kerstin Droß-Krüpe (Bochum / Kassel)

Sebastian Fink (Innsbruck): Oswald Spengler's Ancient Near East

Arnaldo Marcone (Rom): Arnaldo Momigliano e la sua immagine dell’Oriente

Hans Neumann (Münster): Der (Alte) Orient in den deutschsprachigen Weltgeschichten des 19. Jahrhunderts

Björn Onken (Duisburg-Essen / Münster): Barbaren oder Vorbilder? Orientbilder in wilhelminischen Schulbüchern

Friedhelm Pedde (Berlin): The German Novelist Karl May as a multiplier of knowledge about the Ancient Near East

Panel IV: Architecture / Arts and Crafts / Everyday Culture
Chair: Lorenzo Verderame (Rom) / Sebastian Fink (Innsbruck)

Maria Gabriella Micale (Berlin): "Ich habe genug von dieser edlen Stadt in Trümmern". Walter Andrae's Perennial Past: Sources and Implications in 20th Cent. Art Historical Scholarship

Brigitte Pedde (Berlin): Reconstruction drawings of Ancient Near Eastern buildings as inspira-tion for architecture in the 1920ies

Frances Pinnock (Roma): Fashion and the Ancient Orient

Christoph Heyl (Duisburg-Essen): Der dunkle Fremde. Die Debatte über den Kaffee im England des 17. Jahrhunderts

Michael Yonan (St. Davis, California): Ancient Near Eastern Themes in German Porcelain of the 18th Cent.

Agnès Garcia Ventura (Barcelona) / Lorenzo Verderame (Rom): Closing Remarks