Rundum versorgt? Versorgungspläne des 20. Jahrhunderts zwischen Ideologien, Mangel und staatlicher Steuerung

Rundum versorgt? Versorgungspläne des 20. Jahrhunderts zwischen Ideologien, Mangel und staatlicher Steuerung

Organisatoren
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden
Ort
digital (Dresden)
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.04.2021 - 20.04.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Hendrik Malte Wenk, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Nicht nur aufgrund der gegenwärtigen Pandemie, die mit zeitweisem Mangel an Toilettenpapier und anderen Bedarfsartikeln in Supermärkten einherging, ist die Frage nach Versorgung relevant. Auch die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, die mit Krieg, Krankheiten und Katastrophen konfrontiert waren, mussten sich an ihrer Versorgungsleistung gegenüber der Bevölkerung seinerzeit messen lassen.

Wie Versorgungspläne in ihrem jeweiligen Kontext in die Praxis umgesetzt wurden und mitunter auch wieder scheiterten, darüber tauschten sich zahlreiche Historiker:innen im Rahmen eines interdisziplinären Online-Workshops aus. Die in vier Panels gegliederte Veranstaltung deckte den Zeitraum des Kriegsendes 1918 bis zum Spätsozialismus ab. Nach einer Begrüßung durch die Mitorganisatorin Maren Hachmeister (Dresden) befasste sich das erste Panel, das von Isabelle-Christine Panreck (Dresden) moderiert wurde, mit der Versorgung im Nationalsozialismus.

In seinem Überblicksvortrag referierte ANSELM MEYER (Dresden) über die allgemeine Wirtschaftspolitik im Nationalsozialismus. Ziel der Nationalsozialisten sei es gewesen, das Reich im Krieg blockadefest zu machen. Dafür sollte die Abhängigkeit von Importen beendet werden, und es wurde eine neue Agrarordnung erlassen, in der die Preise am allgemeinen Lohnniveau orientiert und festgesetzt wurden, um die dauerhafte Existenz der Bauern zu sichern. Im Krieg wurden dann Lebensmittelmarken ausgegeben, um die Verbrauchsmenge genau zu kontrollieren. Juden wurden weniger Kilokalorien zugesprochen als nichtjüdischen Deutschen. Was man zunächst nur im Reich praktizierte, wurde später Teil der Kriegspolitik. In allen annektierten Gebieten wurde eine Umverteilung der Güter zugunsten des Reichs vorgenommen, die auf dem Rücken der europäischen Juden und anderer „unerwünschter“ Volksgruppen stattfand. Um die Ostgebiete als Kornkammern und Exportüberschüsse für das Reich zu nutzen, musste die dortige Bevölkerung dezimiert werden. Dies betraf besonders die Juden, die bei der Zuteilung der Lebensmittel an unterster Stelle standen. Laut aktueller Forschung war diese ernährungspolitische Entwicklung ein maßgeblicher Teil der Vernichtungspolitik an den europäischen Juden.

MARLIS LAPAZINSKI (München) referierte über den Begriff der Daseinsvorsorge Ernst Forsthoffs am Beispiel Münchens während des Nationalsozialismus. Daseinsvorsorge bedeutet dabei, dass die politische Macht die Leistungen erbringen muss, auf die der Mensch in der modernen Gesellschaft angewiesen ist. Im Nationalsozialismus habe Forsthoff dies verwirklicht gesehen. Lapazinski hob aber auch hervor, dass das Verhältnis von Versorgern und Versorgten nicht aktiv/passiv gewesen sei, sondern von vielen Aushandlungsprozessen geprägt war. Um die Versorgung umzusetzen, wurden kommunale Ernährungs- und Wirtschaftsämter gegründet, deren Aufgaben von der obersten Reichsbehörde bestimmt wurden. Dieser Versorgungsaufwand stellte die Stadtverwaltung vor eine bis dahin nicht gekannte organisatorische Herausforderung. Auf alle Lebensmittelmarken seien die Wappen der jeweiligen Kommunen gedruckt worden, um die Menschen an ihre konkrete Heimatfront zu binden und die Distanz zur Reichsregierung zu verringern. An der Heimatfront in München versuchte der Oberbürgermeister, Ausgleich und Integration der verschiedenen Akteure herzustellen. Dies geschah zum Beispiel durch Propaganda, die stets vermittelte, dass die Lebensmittelversorgung gesichert sei. Doch solche durch Schlagzeilen unterlegten Botschaften könnten auch den gegenteiligen Effekt gehabt haben, so Lapazinski. Die Bevölkerung habe die reale Versorgungslage gekannt und auf die Propaganda mit Gerüchten und Witzen reagiert, die im Laufe des Kriegsgeschehens immer drakonischer bestraft wurden.

KORNELIA KONCZAL (München) sprach über den Szaberplac im Breslau am Ende des Zweiten Weltkriegs. Szaberplac ist eine Wortneuschöpfung aus den polnischen Begriffen für Plünderung und Markt und bezeichnet Märkte, auf denen Geschäfte mit einst deutschen Gegenständen getätigt wurden. Solche Märkte habe es überall in Polen gegeben, der in Breslau sei aber der größte gewesen. Laut Konczal zeugen zahlreiche Berichte von der Wichtigkeit des Platzes im Leben Breslaus. Der Kontrast zwischen der vom Krieg zerstörten Stadt und der Energie, die von diesem Platz ausgegangen sei, habe viele Menschen fasziniert und die emotionale Distanz zwischen ihnen verringert. Dies habe eine beeindruckende Wirkung auf das Alltagsleben der Stadt gehabt und zu der Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls beigetragen.

Das von Mike Schmeitzner (Dresden) moderierte zweite Panel beschäftigte sich mit dem Komplex von Versorgung und Gesundheit. Zunächst ging es um die Auswirkungen der Spanischen Grippe auf die Städte Breslau und Prag. MATTHÄUS WEHOWSKI (Dresden) stellte die Auswirkungen der Grippe auf die Versorgung in Breslau heraus. Im Laufe der Pandemie konnte die Post nicht mehr zugestellt werden und die Straßenbahnen fuhren nicht mehr. Dies lag daran, dass in diesen Bereichen vor allem Frauen arbeiteten, die im Alter von 30 bis 40 die am stärksten vom Virus betroffene Gruppe darstellten. Während an der Front die Männer fielen, starben zu Hause die Frauen. Wegen des Arbeitskraftausfalls in den Gaswerken musste eine Sperrstunde für den privaten Gasverbrauch erlassen werden, die Krankenhäuser und Arztpraxen waren überfüllt. Auch damals habe es Schließungsdiskussionen gegeben, so Wehowski, allerdings sei es in Breslau nicht zu Einschränkungen des öffentlichen Lebens gekommen, weil der Bürgermeister dafür keine rechtliche Grundlage gesehen habe. In Prag sei die Situation ähnlich gewesen, so JOSEFINE MATZIG (Regensburg). In der Gesundheitsversorgung habe es einen vielfältigen Mangel gegeben. Für viele Menschen sei das damals als Allheilmittel geltende Medikament Aspirin das erste Mittel der Wahl gegen die Grippe gewesen. Der Mangel daran habe zu Wucherpreisen im Straßenhandel geführt, wo auch Aspirin-Fälschungen in Umlauf kamen.

FRIEDERIKE KIND-KOVÁCS (Dresden) näherte sich diskursanalytisch dem Thema der Kinderernährung im Ungarn der Zwischenkriegszeit. Die Ernährung von Kindern wurde aufgrund ihrer körperlichen Verletzlichkeit zu einem wichtigen politischen Thema. Dies müsse im Kontext des internationalen Kinderschutzes betrachtet werden. Kinder bekamen Lebensmittel, die nicht gut für ihre Entwicklung waren. Im Zuge der Auseinandersetzung wurde Milch als ideales Nahrungsmittel für Kinder angesehen. Neben der positiv konnotierten Muttermilch seien auch die gesundheitsförderlichen Eigenschaften von Kuhmilch propagiert worden, wobei das Problem bestand, dass es in Ungarn einen Mangel an Kuhmilch gab.

MELANIE FOIK (Münster) referierte über den massiven Mangel an Krankenschwestern im frühen kommunistischen Polen. Um diesen Zustand zu verbessern, wurden die Zugangsvoraussetzungen gesenkt und der Schwesternberuf ideologisch bereinigt, das heißt, von Religiosität befreit. Des Weiteren sollte das polnische Rote Kreuz neue Schwestern ausbilden. Diese Politik, die auf „Masse statt Klasse“ ausgerichtet war, brachte dem Berufsbild der Krankenschwester einen enormen Reputationsverlust. Das Regime propagierte stets die Modernität und den technischen Fortschritt des Berufs, aber die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der Krankenschwestern waren überall bekannt. Dies habe zu einer regelrechten Fluchtbewegung aus dem Beruf geführt, was wiederum mit einer Akademisierung des Pflegeberufs beantwortet wurde, um dessen Attraktivität zu erhöhen. Zu einer Verschlechterung der Lage führte auch die systematische Verdrängung von Ordensschwestern aus dem Gesundheitswesen. Dies geschah aus ideologischen Gründen, obwohl die Ordensfrauen eine solide Ausbildung in der Pflege vorweisen konnten und durch die Abwesenheit einer eigenen Familie jederzeit zur Verfügung standen. Schlussendlich konnte der Krankenpflegekader nicht auf einem adäquaten Niveau stabilisiert werden, so Foik.

Das dritte, von Maren Hachmeister moderierte Panel befasste sich mit Versorgung in der DDR. ANDREAS KÖTZING (Dresden) referierte über die Darstellung der Wohnraumversorgung im Film. An mehreren kurzen Einspielern illustrierte er die kontroverse Debatte über die Wohnraumproblematik in der DDR, die sich zwischen Propaganda und durch reale Erfahrungen gespeiste Kritik bewegte. Das Regime setzte das Wohnungsbauprogramm Honeckers positiv ins Bild. Doch gleichzeitig zeigte beispielsweise der Film „Insel der Schwäne“ – der davon handelt, dass ein Junge aus dem ländlichen Brandenburg in einen Ost-Berliner Häuserblock zieht –, dass das propagierte Bild von weiten Bevölkerungsteilen nicht geteilt wurde. Auch Aufnahmen der staatlichen Filmdokumentation – die in der DDR allerdings mit einem Sperrvermerk versehen wurden – setzten die teilweise grotesken Zustände in den DDR-Wohnungen in Szene. So wurde beispielsweise ein Mieter, dessen Küchenwand großflächig verschimmelt war, von einem Interviewer gefragt, ob dies nicht ein Schönheitsfehler sein könne.

NADJA THIESSEN (Darmstadt) referierte über die Auswirkungen des Katastrophenwinters 1978/79 in der DDR. Die enormen Schneemassen und der Kälteeinbruch hätten massive Einschränkungen des Verkehrs und Energieausfälle zur Folge gehabt. Letzteres sei vor allem der Energieversorgung durch Braunkohle geschuldet gewesen, die durch ihren hohen Wasseranteil gefror und deshalb nur erschwert abgebaut und durch den Zusammenbruch der Infrastruktur auch nicht mehr transportiert werden konnte. Anhand der Zeitungsmeldungen jener Zeit ließe sich aber feststellen, so Thiessen, dass die Probleme klar benannt wurden und auch über eingeleitete Maßnahmen berichtet wurde. Die Meldungen, dass die Menschen „gemeinsam“ gegen die Katastrophe ankämpften, war keine reine Propaganda. Neben den zahlreichen staatlichen Massenorganisationen gab es tatsächlich viele Bürger:innen, die sich selbst organisierten, um Hilfe zu leisten.

Das letzte Panel wurde von Anselm Meyer moderiert und thematisierte den Bereich Versorgung und Sozialpolitik. NORMA LADEWIG (Berlin) referierte über die Künstlersozialpolitik in Westdeutschland. Schon in den ersten Jahren der Bundesrepublik habe sich die Frage gestellt, wie man Künstler:innen am besten in das neue demokratische System integriert. In den 1970er-Jahren sei dann ein neuer kulturpolitischer Topos diskutiert worden. Der bisherige Topos des brotlosen Künstlers sollte demontiert werden; stattdessen wurde vermehrt materielle Sicherheit als Voraussetzung für künstlerische Freiheit gesehen. Gerechtigkeit als Leitwort des Sozialstaats der 1970er-Jahre wurde zum einen durch die Kernbegriffe der Kunstautonomie – nämlich Qualität und Freiheit –, zum anderen aber auch durch das „Starprinzip“ des Kunstmarktes herausgefordert. Im politischen Raum habe sich dabei die Vorstellung von Kunst als Arbeit durchgesetzt.

Im letzten Vortrag befasste sich MAREN HACHMEISTER mit den Vorstellungen und Praktiken der Versorgung der Rentner:innen in der DDR. Diese wurden als „Veteranen der Arbeit“ angesehen, die ihren Teil zum Aufbau des Sozialismus geleistet hatten. Eine wichtige Rolle kam dabei der Volkssolidarität zu, die auf allen Verwaltungsebenen Sekretariate unterhielt und überall Ortsgruppen mit ehrenamtlichen Helfern vorweisen konnte. Sie deckte das gesamte Spektrum der Altersvorsorge ab und erbrachte durch übergeordnete Koordination und Mittelbeschaffung auch eine Fürsorgeleistung. In der DDR habe sich in der Altersfürsorge ein Modell bewährt, das auf persönlichen Kontakt und Verbundenheit durch räumliche Nähe im Wohngebiet aufbaute. Die Mitglieder der Volkssolidarität hätten ihr Engagement für die Rentner:innen nicht nur als umfangreich, sondern auch als selbstverständlich betrachtet. Aus ihrer Perspektive sei ihnen nach der Wende abgesprochen worden, niemanden allein gelassen und jedem bis ins hohe Alter die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht zu haben.

Der Workshop deckte ein weites Feld ab, das vom Ende des Ersten Weltkriegs über die Künstlerversorgung in der späten Bonner Republik bis hin zur Honecker-DDR reichte. Dabei wurde oft deutlich, dass Versorgung nicht unabhängig von den materiellen Bedingungen der Zeit betrachtet werden kann. Vielmehr wurden die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von „Versorgung“ und „Care“ in den verschiedenen Zeitepochen deutlich. Außerdem zeigte sich, dass die Diskussion über Versorgung immer mit konkreten Krisen, Katastrophen und Notlagen oder mit bestimmten ideologischen Zielen und Erwägungen einherging. Insbesondere wurde aufgezeigt, welche Dynamiken die Versorgungspraktiken in den Wohngebieten und Massenorganisationen der DDR in akuten Notsituationen, aber auch für das generelle Gemeinschaftsleben erzeugen konnten.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Versorgung und Nationalsozialismus

Chair: Isabelle-Christine Panreck (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden)

Anselm Meyer (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden): Arbeitskraft und Kilokalorien. Der Zusammenhang von Volkswohlfahrt, Kriegsführung und Völkermord im Nationalsozialismus

Marlis Lapazinski (Ludwig-Maximilians-Universität München): Versorgung im Extremfall – Pläne und Praktiken der Lebensmittelversorgung auf kommunaler Ebene zu Beginn des Zweiten Weltkriegs

Kornelia Konczal (Ludwig-Maximilians-Universität München): Versorgung und Eigentum – „Politics of Plunder” in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg

Panel 2: Versorgung und Gesundheit

Chair: Mike Schmeitzner (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden)

Matthäus Wehowski (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden) / Josefine Matzig (Uni Regensburg): Versorgung in der Zeit multipler Krisen. Breslau und Prag während des politischen Umbruchs und der Spanischen Grippe (Oktober-Dezember 1918)

Friederike Kind-Kovács (Technische Universität Dresden): Mother milk and milk for mothers: thinking about nursing bodies in post-WWI Hungary

Melanie Foik (Universität Münster): Zum Problem des Schwesternmangels im Gesundheitsdienst der Volksrepublik Polen. Politische Ambitionen beim Aufbau eines „sozialistischen Krankenpflegekaders“ und deren Effekte auf die pflegerische Versorgung und den Pflegeberuf

Panel 3: Versorgung in der DDR

Chair: Maren Hachmeister (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Andreas Kötzing (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden): DDR-Wohnraumversorgung im Film

Nadja Thiessen (Technische Universität Darmstadt): Versorgungswege durch den Schnee – Die DDR im Katastrophenwinter 1978/79

Panel 4: Versorgung und Sozialpolitik

Chair: Anselm Meyer (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden)

Norma Ladewig (Freie Universität Berlin): Künstlersozialpolitik in der Bundesrepublik

Maren Hachmeister (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden): Die Rentnerkartei in der DDR. Schnelle Versorgung zwischen Privatsache und staatlicher Aufgabe


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