Burchards Dekret Digital

Burchards Dekret Digital

Organisatoren
Projektteam „Burchards Dekret Digital“
Ort
digital (Kassel)
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.05.2021 - 18.05.2021
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Von
Leo Felder, Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel

Das Decretum Burchardi, entstanden im ersten Viertel des 11. Jahrhunderts, ist eine der wichtigsten kirchenrechtlichen Sammlungen des Mittelalters. Von Bischof Burchard von Worms verfasst, erfuhr das Werk eine umfangreiche Rezeption, die sich über ganz West- und Mitteleuropa bis in die Neuzeit hinein erstreckte. Seine Erforschung wird seit 2020 im Programm der Union der deutschen Akademien gefördert. Ein Team unter der Leitung von Ingrid Baumgärtner, Klaus Herbers und Ludger Körntgen hat damit begonnen, eine kritische Edition in Print und Online zu erstellen, die Überlieferung, Rezeption und rechts- wie kulturhistorische Bedeutung multiperspektivisch zu analysieren und eine international ausgerichtete, digitale Arbeitsplattform zur Texterschließung und Analyse der Wirkungsgeschichte aufzubauen. Bei der digitalen Projektvorstellung präsentierte das Projektteam die anvisierten Projektphasen, die methodischen Vorgehensweisen, die praktischen Erfahrungen mit der Arbeit und erste Zwischenergebnisse.

LUDGER KÖRNTGEN (Mainz) eröffnete die Veranstaltung mit einer Übersicht über die drei Projektphasen, für die jeweils sechs Jahre eingeplant sind. In der ersten Phase gilt es, auf der Basis der nach Hoffmann und Pokorny1 in Worms unter Burchard entstandenen Handschriften eine kritische Edition dieser ersten Version zu erarbeiten. Diese soll sowohl in einer Printedition im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica veröffentlicht als auch digital mithilfe von XML erschlossen werden. Im Zuge der zweiten Projektphase folgt die Einarbeitung der weiteren Überlieferung in die digitale Edition. Der Schwerpunkt der dritten Phase liegt auf der inhaltlichen Bearbeitung, die unter Berücksichtigung der direkten und indirekten Rezeption bei Gratian sowie in begleitenden Fallstudien zu einzelnen, konkreten Gegenstandsbereichen alle Phasen durchziehen soll. Die digitale Arbeitsplattform richtet sich nicht nur auf die Erfassung der vorliegenden Handschriften, Transkriptionen und Literatur, sondern auch auf den internationalen Austausch und die Kommunikation in der Kanonistik und darüber hinaus.

Die Gastrednerin GRETA AUSTIN (Puget Sound) stellte vier Argumente für eine moderne kritische Edition vor. Das Decretum Burchardi enthalte erstens nicht nur theologische Lehrsätze, sondern diente auch als praktisches Handbuch für Geistliche, in Klöstern und bei Konzilien. Als wichtige Quelle für vielfältige Aspekte des mittelalterlichen Lebensalltags erfreute es sich, wie die zahlreichen Abschriften zeigen, zweitens großer Beliebtheit; so war sein Einfluss auf spätere kirchenrechtliche Werke, wie etwa das Dekret Ivos von Chartres, beträchtlich. Trotz neuerer Sammlungen blieb das Decretum Burchardi immer relevant. Drittens schlug sich das breite wissenschaftliche Interesse der letzten Jahre, insbesondere seit Hoffmann und Pokorny die Wormser Redaktion erschließen konnten, in mehreren Dissertationen zu den Büchern XIX und XX nieder, die das weitere Potential erkennen lassen. Als letztes Argument für eine moderne Edition merkte Austin an, dass die momentan genutzte Edition von 1548 fast 500 Jahre alt ist.

KLAUS HERBERS (Erlangen) erörterte die Vorteile einer digitalen Edition. Es sei möglich, die komplexe und vielschichtige Überlieferungsgeschichte des Decretum Burchardi dynamisch darzustellen und die zahlreichen verschiedenen Fassungen, Vorlagen und Abhängigkeiten zu berücksichtigen. Einzelne Handschriftendigitalisate und zugehörige Literatur können direkt verlinkt und der Editions- und Emendationsprozess transparent und nachvollziehbar gestaltet werden. Trotzdem habe, so Herbers, auch eine klassische Edition Vorteile. Ein eindeutiger Text biete eine schnelle Übersicht und reduziere die Komplexität der Gesamtüberlieferung. Die Nutzerinnen und Nutzer könnten auf die Kompetenz der Editoren vertrauen und sich auf ihre inhaltlichen Fragestellungen konzentrieren. Die Aufnahme in die Monumenta Germaniae Historica fördere zudem die Reputation und die Sichtbarkeit des Projektes. Ein klassischer Druck biete außerdem eine materielle Langzeitsicherung. Die Kombination aus digitaler und klassischer Edition vereinige die jeweiligen Vorteile und ermögliche den Nutzerinnen und Nutzern, das für sie passende Format zu wählen.

INGRID BAUMGÄRTNER (Kassel) stellte die weiteren Projektbeteiligten an den drei Standorten vor, deren besondere Leistungen und gutes Zusammenspiel sie hervorhob.

CORNELIA SCHERER (Erlangen) legte die Gründe dar, warum die Frankfurter Handschrift unter den fünf Handschriften der Wormser Redaktion als Editionsgrundlage für die erste Projektphase ausgewählt wurde. Eine Probekollation der Bücher VI und XII ließ erkennen, dass die wenigen Abweichungen auf der Textebene häufig auf orthographische Varianten zurückzuführen seien. Am Ende der Bücher II, III, IV und IX finden sich jedoch größere Unterschiede, aufgrund derer die Handschriften in zwei Gruppen einzuteilen seien. Während die Editio princeps von 1548 der Kapitelanordnung der vatikanischen Überlieferung (V) folge, dokumentierten spätere Handschriften, dass die Anordnung des Frankfurter Manuskripts (F) am häufigsten vorkomme. Die Abweichungen am Ende der Bücher II, III, IV und IX führt Scherer auf spätere Nachträge zurück, die teilweise auf Rasur stehen und von anderen Händen stammen. Die digitale Edition werde diese Bearbeitungsprozesse darstellen und mithilfe einer Konkordanz und einer flexiblen Kapitelanordnung sichtbar machen.

LOTTE KÉRY (Kassel) führte Möglichkeiten und Methoden zur Rekonstruktion von Vorlagen und Rezeptionswegen vor. Dabei konzentrierte sie sich auf sprachliche und inhaltliche Veränderungen, die Informationen zu inhaltlichen Schwerpunkten liefern. Am Beispiel von Buch XVII 1, das auf dem zweiten Kanon des Konzils von Neocaesarea basiert, thematisierte Kéry die Erkenntnismöglichkeiten aus der Quellenanalyse. Der Beisatz et communio ei concedatur verweise auf das Sendhandbuch Reginos von Prüm als eine Vorlage, aus der Burchard allerdings nicht die gekürzte Version des Kanons übernommen habe. Als wahrscheinlich zweite Vorlage nannte Kéry das Paenitentiale ad Heribaldum des Hrabanus Maurus, das für weitere Stellen desselben Buches herangezogen worden sei. Für eine endgültige Zuordnung sei eine weitere Analyse der Gesamtüberlieferung nötig, die auch Veränderungen aufdecken könne, die Burchard selbst vorgenommen habe. So ersetzte er das neutrale nupserit durch das wertende fornicata est, womit er dem Text eine andere inhaltliche Tendenz gab. Während die digitale Edition eine vollständige Darstellung aller potenziellen Vorlagen und Parallelen ermögliche, fasse die Printedition die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen im Sachkommentar zusammen.

HELENA GEITZ (Mainz) fokussierte Buch XIX und dessen Vorlagen und Zuordnungen. Buch XIX ist mit 159 Kanones eines der längsten Bücher im Decretum Burchardi. Der fünfte Kanon enthält einen Katalog mit fast 200 Bußfragen und stelle damit quasi ein Buch im Buch dar. Wie Birgit Kynast zeigen konnte, basiert dieser Katalog auf dem Sendhandbuch Reginos von Prüm, den Burchard beträchtlich erweiterte. Geitz zufolge sei es ein Ziel, die 18 noch nicht identifizierten Kanones zu identifizieren. Zuordnung und Quellenanalyse werden allerdings dadurch erschwert, dass die zu Grunde liegenden Bußbücher gar nicht oder nur unvollständig ediert seien und Lücken in der kritischen Edition die Erkennung von Vorlagen erschweren. Außerdem unterliegen diese Bußbücher keiner einheitlichen Nomenklatur. Am Beispiel des achten Kanons zeigte Geitz, dass Burchard dessen Text teilweise veränderte und wahrscheinlich die Einzelüberlieferung Egberts als Vorlage nutzte. Da der darauffolgende und bisher unidentifizierte Kanon einem Auszug daraus ähnele, biete eine solche Quellenanalyse die Möglichkeit, weitere Kanones zu identifizieren.

DANIEL GNECKOW (Kassel) veranschaulichte die praktische Arbeit beim Transkribieren mit TEI sowie dessen Vorteile und Problematiken. Im Vergleich zu gängigen Textverarbeitungsprogrammen biete TEI vielfältige Möglichkeiten, um die in Handschriften auftretenden Phänomene auszuzeichnen. Dies gehe mit einem erhöhten Aufwand bei der Transkription einher, der aber von den zahlreichen Vorteilen aufgewogen werde. Der zentrale Mehrwert liegt Gneckow zufolge in der flexiblen Gestaltung des Texts. Im Autorenmodus des Oxygen XML-Editors lasse sich mithilfe exakter Codierung beispielsweise das Layout der Handschriften mitsamt Rubrizierungen, Initialen und originalen Zeilenumbrüchen detailgetreu reproduzieren. Es sei möglich, aufgelöste Abbreviaturen wiederzugeben und einen Fließtext anzuzeigen, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Während beim Transkribieren in üblichen Textverarbeitungsprogrammen die Konventionen der Darstellung vor dem Bearbeitungsprozess festgelegt werden müssten, erlaube die Codierung in TEI den Transkribierenden sowie den späteren Nutzerinnen und Nutzern der digitalen Edition, die Textgestalt an ihre jeweiligen Erfordernisse anzupassen. Shortcuts des Editors und ein eigens für das Projekt entwickeltes Abkürzungsplugin unterstützen den Transkriptionsvorgang, indem sie das Einfügen komplexer Code-Blöcke und die automatische Erkennung häufiger Abbreviaturen ermöglichen.

Zuletzt skizzierte MICHAEL SCHONHARDT (Kassel) die technische Infrastruktur des Projektes, deren Ziel es sei, möglichst viele Bereiche und Anforderungen desselben mit wenig unterschiedlicher Technik abzudecken. Die Eingabe der Daten erfolge über den Oxygen XML-Editor. Alle Editionen, Beschreibungen und weiteren Informationen werden mit eXist-db in einer Datenbank gesammelt und können über weitere X-Technologien wie XSL oder XPath in nutzerorientierte Darstellungen wie HTML transformiert werden. Bei der technischen Umsetzung erhält das Projektteam Unterstützung von der Digitalen Akademie der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz und deren Trainee Elena Suárez Cronauer. Am Beispiel von Buch XVII 1 präsentierte Schonhardt die verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten der digitalen Edition. Ein ausblendbarer Sachkommentar bietet eine Übersicht über die quellenanalytischen Erkenntnisse. Über eine Farbkodierung können die Passagen in Burchards Dekret den verschiedenen Vorlagen direkt zugeordnet werden, sodass Nutzerinnen und Nutzer wählen können, welche Vorlagen sie sehen wollen. Zudem können vorhandene Editionen und Handschriftendigitalisate der Vorlagen direkt verlinkt werden, um die quellenanalytischen Bearbeitungsprozesse nachvollziehbar zu machen. Die verschiedenen digitalen Ebenen lassen unterschiedliche Analysemöglichkeiten zu und können Schonhardt zufolge inhaltliche Fragestellungen mit Grundlagenarbeit verbinden.

Der Launch vermittelte einen spannenden Einblick in die aktuellen Arbeitsprozesse des Projektes und veranschaulichte die zahlreichen Vorteile und Möglichkeiten einer digitalen Edition. Die instruktiven Quellenanalysen vermittelten aufschlussreiche Informationen und ließen erste Zwischenergebnisse erkennen. Die Kurzbeiträge gaben zudem einen guten Ausblick auf die weitere Arbeit und das künftige Potenzial des eindrucksvollen Projektes. Präzise Nachfragen zu den digitalen Verarbeitungsprozessen wie auch zur inhaltlichen Ausrichtung zeigten das allgemein große Interesse an einer digitalen Edition dieses wichtigen Werks.

Konferenzübersicht:

Ludger Körntgen (Mainz): Begrüßung und Vorstellung des Projektes

Greta Austin (Puget Sound): The Need for a Burchard Edition

Klaus Herbers (Erlangen): Möglichkeiten, Vorteile und Probleme klassischer und digitaler Editionen

Blick in die aktuelle Arbeit

Ingrid Baumgärtner (Kassel): Vorstellung der Projektteams

Cornelia Scherer (Erlangen): Die Frankfurter Handschrift als Editionsgrundlage

Lotte Kéry (Kassel): Erkenntnismöglichkeiten aus der Quellenanalyse

Helena Geitz (Mainz): Buch XIX – Bußpraxis und ihre Quellen

Daniel Gneckow (Kassel): Praktische Erfahrungen mit der digitalen Transkription

Michael Schonhardt (Kassel): Die digitale Edition. Potential und Umsetzung

Anmerkung:
1 Hartmut Hoffmann / Rudolf Pokorny, Das Dekret des Bischofs Burchard von Worms. Textstufen – frühe Verbreitung – Vorlagen (Monumenta Germaniae Historica. Hilfsmittel 12), München 1991.


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