Fortschritt und Verlust: Transformationen – Deutungen – Konflikte

Fortschritt und Verlust: Transformationen – Deutungen – Konflikte

Organisatoren
Institut für Europäische Kulturgeschichte, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Augsburg; Heimatpflege des Bezirks Schwaben; Schwabenakademie Irsee
Ort
digital (Augsburg)
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.06.2021 - 11.06.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Theresa Hauck, Bezirksheimatpflege Schwaben, Augsburg

Gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Wandel, Transformationsprozesse und Veränderungen unterliegen Ausdeutungen und Bewertungen. Sie werden als „Fortschritt“ propagiert oder als „Verlust“ beklagt, ja bekämpft. Nicht nur die historischen Wissenschaften, deren genuiner Gegenstand der Wandel ist, befassen sich implizit oder explizit mit Fortschritten und Verlusten, auch in anderen Wissensdisziplinen werden entsprechende Narrative untersucht oder auch generiert. Nicht selten steht dabei der Fortschritt im Mittelpunkt des Interesses, werden Fortschrittsnarrative auch in der Wissenschaft fortgeschrieben oder unkritisch übernommen. Verluste werden seltener thematisiert, und wenn, dann oft im Rahmen einer nostalgischen Rückschau auf die vermeintlich „gute alte Zeit“. Die interdisziplinär angelegte Tagung rückte nun den Fokus auf Fortschritt wie auch Verlust. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses standen einerseits die Markierung von Fortschritt und Verlust im Rahmen von Transformationsprozessen, andererseits die Ausdeutung von Veränderung als Fortschritt und/oder Verlust in verschiedenen Kontexten bzw. durch unterschiedliche Gruppen. Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde die Tagung, ursprünglich für den Herbst 2020 geplant, als Online-Konferenz realisiert.

Nach den begrüßenden Worten des neuen Bezirksheimatpflegers CHRISTOPH LANG (Augsburg) führte sein Vorgänger PETER FASSL (Augsburg) thematisch in die Tagung und ihre Leitfragen und -überlegungen ein. Er führte aus, dass Fortschritten stets Verluste gegenüberstünden. In vielen Bereichen gebe es Verlusterfahrungen, beispielsweise in der Denkmalpflege, im naturwissenschaftlich-ökologischen Bereich oder auch in der Arbeitswelt. Was als Fortschritt und was als Verlust interpretiert werde, sei dabei stets der jeweiligen Zeit und ihrem Zeitgeist unterworfen. So wandle sich das Narrativ von Fortschritt ebenso wie das von Verlust. Verlustnarrative repräsentierten oftmals Grenzen und dienten der Verdeutlichung der Kosten des Fortschritts, beispielsweise in der Medizin oder angesichts des weltweiten Ressourcenverbrauchs. Fassl argumentierte, insbesondere der sich immer schneller wandelnde Alltag fordere zu einer Auseinandersetzung mit Fortschritts- und Verlustgeschichten heraus. Die Tagung setze sich exemplarisch anhand dreier Themenfelder mit diesem Fragenkomplex auseinander und schärfe damit – so seine abschließende These – auch den Blick auf gegenwärtige und zukünftige Entscheidungen über Fortschritt und Verlust.

In seinem einleitenden Vortrag stellte LOTHAR SCHILLING (Augsburg) aus wissensgeschichtlicher Perspektive die Frage nach Akteuren des Fortschritts. Am Beispiel von Innovationsexperten der Ökonomischen Aufklärung fragte er, auf welcher Grundlage diese Akteure Expertenstatus beanspruchten bzw. von Zeitgenossen als Experten anerkannt wurden und welche Rolle sie an Fortschritten und Verlusten hatten. Nach kurzen Überlegungen zur Expertenrolle in der Frühen Neuzeit, die er als lange Zeit nicht auf einen konsistenten Begriff gestütztes soziales Konstrukt und Ergebnis von Selbst- und Fremdzuschreibungsprozessen deutete, konkretisierte Schilling die Begriffe der ökonomischen Aufklärung und der Innovationsexperten. Anschließend präsentierte er mehrere Landwirtschaftsexperten, wobei er deutlich machte, in welch hohem Maße ihr Einfluss und ihr Expertenstatus auf erfolgreichen Medienstrategien beruhte und teilweise sogar unabhängig war vom Erfolg der von ihnen propagierten Neuerungen in der Praxis. Dann ging er auf die Frage ein, inwieweit die vorgestellten Experten Wissensfelder und -bestände (etwa lokale Voraussetzungen wie die Bodenbeschaffenheit) und externe Effekte (wie zusätzliche Belastungen für Arbeitskräfte und Zugtiere) vernachlässigten oder sogar gezielt ausblendeten. Abschließend resümierte Schilling, dass auch das Streben nach „vernünftigen“ und „erprobten“ Verbesserungen nicht davor gefeit ist, Verluste zu ignorieren und Kritik mundtot zu machen, wenn hegemoniale Diskursmacht im Spiel ist.

Die erste Sektion „Landschaftswandel als Verlust?“ eröffnete ALFRED RINGLER (Rosenheim), der in seinem Vortrag Tourismus und Landschaftswandel im Alpenraum beleuchtete. Anhand von zahlreichen Bildbeispielen zeigte er den Wandel innerhalb weniger Jahrzehnte auf. Im Alpenraum seien in Regionen mit Massentourismus, allen voran dem Skitourismus seit den 1970er-Jahren, die alten Kulturlandschaften verlorengegangen, in Almregionen mit Berglandwirtschaft hingegen – nicht zuletzt dank staatlicher Förderprogramme – vergleichsweise stabil geblieben. Während beispielsweise auf der Oberkaseralm im Chiemgau oder in den Ammergauer Alpen uralte Weidegemeinschaften bestünden, seien die Talregionen zersiedelt und Flüsse reguliert worden.

EBERHARD PFEUFFER (Augsburg) befasste sich mit dem Lech und dessen Umgestaltung vom Wildfluss zum „technischen System“. Nach einem historischen Rückblick erläuterte er die Funktionen des Lechtals als natürliche Biotopbrücke und Schnittpunkt für Zuwanderungsarten zahlreicher Pflanzen und Tiere. Anschließend zeigte er die historische Verbauung und Kanalisation des Lechs auf, die ab 1852 einsetzte und heute ein kilometerlanges technisches System mit 24 Staustufen bildet. Differenziert arbeitete er die gegensätzlichen Seiten heraus: So habe die Verbauung einerseits die Minderung der Hochwassergefahr, Landgewinnung und Energieerzeugung ermöglicht. Diesen „Fortschritten“ ständen andererseits Verluste auf dem Feld der Biodiversität, die Auflösung der Biotopbrücke Lechtal und andauernde (und unlösbare) wasserbauliche Probleme gegenüber. Am Beispiel neuerer Renaturierungsprojekte problematisierte Pfeuffer die Reversibilität der Eingriffe in Flusslandschaften.

Als weiteres landschaftliches Element fügte CORINNA MALEK (Augsburg) das durch seine menschliche Nutzung geformte Schwäbische Donaumoos zwischen Donauwörth und Neu-Ulm hinzu. Hier begann mit der Korrektur der Donau ab 1815 in mehreren Phasen die Kultivierung des Donaumooses. Nach Erlass der bayerischen Wassergesetze und Genossenschaftsbildungen war es bis in die 1930er-Jahre zum größten Teil kultiviert und galt für die Bürger, die bis ins 20. Jahrhundert ein Torfstichrecht besaßen, als Flächen- und Rohstofflieferant. Seit den 1960er-Jahren traten das Absinken des Grundwasserspiegels, das Schwinden der Artenvielfalt und Bodenerosionen in den Fokus von Naturschützern. Als Reaktion auf diese Schäden gründete sich die Arbeitsgemeinschaft Schwäbisches Donaumoos, die sich einer landschaftsverträglichen Nutzung des Donaumooses verschrieben hat.

Einen überregionalen Blick warf MARTIN STUBER (Bern) auf die kollektive Wald- und Weidenutzung in der Schweiz seit 1700. Historisch hatten sich seit dem Spätmittelalter kollektive Körperschaften formiert, die den vorhandenen Grundbesitz gemeinschaftlich nutzten. In der Frühen Neuzeit hätten sich diese Körperschaften in der jeweiligen Heimatgemeinde konsolidiert. Stuber machte gleichzeitig deutlich, dass die Kollektivnutzung im Laufe der Zeit vor allem mit dem Übergang in die Industrie- und schließlich in die Konsumgesellschaft nicht mehr ins Fortschrittsnarrativ passte und massiv kritisiert wurde. Als häufige Kritikpunkte nannte er beispielsweise die ineffiziente Aufteilung, die eigennützige Ausrichtung und fehlende Unterhaltsarbeiten. Heute hingegen werden diese Kooperationsgemeinden vielfach wieder als fortschrittlich, ja, zukunftsweisend bewertet.

Abschließend untersuchte JOHANN KIRCHINGER (Regensburg) die bäuerliche Landwirtschaft im Industriezeitalter. Zu Beginn erläuterte er die historische Entwicklung des Begriffs des Bauern. Dieser habe sich von der Bezeichnung eines Standes zum Synonym für in der Landwirtschaft tätige Personen entwickelt. Während es sich beim Bauernhof in der Vormoderne noch um einen Familienbetrieb gehandelt habe, gebe es heute einen deutlichen Anstieg fremder Arbeitskräfte und eine Tendenz zur Entbäuerlichung, hin zum technisierten Großbetrieb. Arbeit und Eigentum fielen auseinander, und gleichzeitig gehe das landwirtschaftliche Wissen in der Gesellschaft zurück. Auf der anderen Seite sei Smartfarming nur in größeren Betrieben rentabel. Ein fundamentales Problem sieht Kirchinger in der Tendenz der öffentlichen Diskussion zu Vereinfachung und Klischees.

In der zweiten Sektion „Gesellschaft und soziale Mobilität“ widmete sich ULRICH NIGGEMANN (Augsburg) der Umstrittenheit von Migration in der Frühen Neuzeit. Erstmals sei Bevölkerungspolitik seit dem 16. Jahrhundert in den Fokus der Traktatliteratur wie auch politischer Praktiker gerückt. Im deutschsprachigen Raum hätten die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Kriegs Bevölkerungsdiskurse verstärkt. Insbesondere die Ansiedlung hugenottischer Immigranten sei in diesem Kontext zu verorten. Neben der Bevölkerungsvermehrung habe Immigrationspolitik auch Repräsentationszwecken, dem Landesausbau und der Gewerbeförderung gedient. Die landesherrliche Migrationspolitik sei allerdings nicht nur mit Fortschritts- und Zukunftsvorstellungen einhergegangen, sondern habe auch heftige Konflikte mit der ansässigen Bevölkerung ausgelöst, die sich um traditionelle Gewerbeprivilegien, Nutzungs- und Landrechte gesorgt habe.

MÁRTA FATA (Tübingen) beschäftigte sich mit den Folgen der Auswanderung insbesondere für die Zurückgebliebenen anhand der Migration der sogenannten Donauschwaben nach Ungarn. Nach einer Definitionsannäherung an die dichotomischen Begriffe „Verlust“ und „Gewinn“ beleuchtete sie das Ritual des Abschiednehmens, das bis weit ins 18. Jahrhundert von den Betroffenen unreflektiert blieb. Ob ein Abschied erzwungen oder freiwillig erfolgte, habe nur eine untergeordnete Rolle gespielt, da der Abschied für die Zurückgebliebenen wie auch die Gehenden eine emotionale Trennung und einen tiefen Einschnitt bedeutet habe. Dennoch habe man weiter Kommunikationsverbindungen in die Heimat unterhalten, auch bedingt durch Streitigkeiten, die mit dem zurückgelassenen Hab und Gut einhergingen. So sei es oft zu langwierigen Verhandlungen um den Verkaufspreis und die Auszahlung der erzielten Gelder gekommen. Abschließend stellte Fata fest, dass Fortschrittsdiskurse vor allem auf Bevölkerungsvermehrung, nicht jedoch auf Abwanderung gezielt hätten.

Mit der Heiratspolitik welscher Kaufleute im Augsburg des 18. Jahrhunderts erweiterte BARBARA RAJKAY (Augsburg) den Blick auf die Auswanderer selbst. Die Reichsstadt Augsburg war im 18. Jahrhundert dank ihrer günstigen Verkehrslage und niedriger Steuern ein attraktives Ziel für Kaufleute, deren Herkunftsort grob im südlichen Alpenraum und den daran angrenzenden Gebieten verortet werden könne. So hätten beispielsweise die Brentano und Obwexer als katholische Unternehmerfamilien im sonst protestantisch dominierten Augsburg Fuß gefasst. Trotz ihres fortschrittlichen Geschäftsgebarens mit der Bildung von Aktiengesellschaften habe sich die konservative Grundhaltung dieser Familien bei der Partnerwahl gezeigt. Heiraten seien mit wenigen Ausnahmen mit Partner:innen aus ihren Herkunftsgebieten zustande gekommen. Spätestens mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Revolutionskriege sei der Niedergang der welschen Handelsleute eingeleitet worden.

PETER FASSL (Augsburg) ging der Frage nach, wie Menschen sich erinnern und wie Erinnern im digitalen Zeitalter und im weltweiten Netz funktioniert. Während die persönliche Erinnerung zumeist an die Sinne gebunden sei, sei die digitale Welt ein umfassender Datenspeicher. Das menschliche Gedächtnis gleiche stets Informationen ab, digitale Medien und Träger veralteten hingegen binnen kurzer Zeit. Gleichzeitig verändere sich mit der Digitalisierung auch das soziale Gedächtnis. Fassl unterschied zwischen drei Gedächtnistypen, dem kulturellen Gedächtnis, dem Gedächtnis der Dinge und dem kommunikativen Gedächtnis. Er ließ die Frage offen, wie die beiden Welten zusammenpassen.

Mit Entwicklungen der gesprochenen und geschriebenen Sprache setzte sich EDITH BURKHART-FUNK (München) auseinander. Sie arbeitete insbesondere die konträre Stellung des Dialekts zur Hochsprache bzw. zur dominierenden Sprachvarietät heraus. Anhand verschiedener Beispiele zeigte sie, wie hochsprachliche Wörter Dialektwörter verdrängten, obwohl Dialektwörter teilweise ein größeres Verbreitungsgebiet hätten. Dialekten hafte stattdessen häufig eine kulturelle Inferiorität an, während die Nutzung der Hochsprache in vielen Kontexten das Ansehen der Sprecher fördere. Solche Werturteile bestünden erst seit Beginn einer größeren geographischen und sozialen Mobilität. Da viele Menschen lange Zeit nur ihren eigenen Dialekt kannten, habe sich die Hochsprache erst herausgebildet, als mit wachsender Vernetzung das Bedürfnis aufgekommen sei, nach Regeln zu schreiben. Sprachwandel, so betonte Burkhardt-Funk auch in der Diskussion, begleite den Menschen seit jeher; die sich wandelnden Bewertungen sprachlicher Varietäten hingen von komplexen, jeweils zu analysierenden historischen bzw. gesellschaftlichen Kontexten ab.

Die dritte Sektion „Wirtschaft, Verkehr und Administration“ eröffnete REGINA DAUSER (Augsburg). Mit dem Augsburger Weberaufstand von 1794 skizzierte sie divergierende zeitgenössische Perspektiven auf den Wandel von Gewerbe und Produktionsstrukturen. Ursache des Aufstands seien massive Absatzschwierigkeiten der Augsburger Weber gewesen, angesichts wachsender Importe von Baumwollstoffen für den Kattundruck in den Augsburger Manufakturen. Der Unternehmer Johann Heinrich Schüle, der unter Einsatz neuer innovativer Verfahren am intensivsten Stoffe importierte, sei zur Hassfigur der Augsburger Weber geworden. Anhand eines Gutachtens für den Augsburger Rat, verfasst von einer im Kontext des Aufstandes eingesetzten Deputation, zeigte Dauser die verhärteten Fronten auf, die bis ins Patriziat reichten. Das Gutachten stellte das gängige Narrativ vom Fortschritt durch den Ausbau und die Innovationskraft des Textilmanufakturwesens infrage – mit der Behauptung, diese hätten die kommunale Gemeinschaft nicht glücklicher gemacht. Mit dem Gegenmodell einer stadtbürgerlichen Gemeinschaft, in der jeder ökonomische Akteur auf seiner zugewiesenen Position seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung des gemeinen Glücks zu leisten habe, gingen freilich ebenso Pointierungen, Vergröberungen und die Ausblendung wirtschaftlicher Dynamiken einher.

Anhand eines Fallbeispiels aus Thierhaupten zeigte CHRISTINA EIDEN (Augsburg) die Auswirkungen von Fortschritt und Verlust auf eine Müllerfamilie. Die Mühle an der Friedberger Ach war seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Besitz der Müllerfamilie Reiter. Im Laufe der Zeit waren unterschiedliche technische Neuerungen erforderlich, damit die Mühle als wirtschaftlich-innovativer Betrieb erhalten werden konnte. Trotz ihrer Bemühungen fiel die Mühle in den 1950er-Jahren dem Mühlensterben zum Opfer. Kleine Mühlen waren in Verruf geraten, Großbetrieben die Aufträge wegzunehmen. Nach einigen Jahren des Verfalls wurde die Mühle verkauft. Heute ist sie als überregionaler Museumsstandort fest im Ort verankert.

MARCUS POPPLOW (Karlsruhe) erweiterte den Blick auf die Fahrradgeschichte. Zu Beginn diskutierte er den Begriff „Fortschritt“ in der Technikgeschichte, wo Fortschrittsnarrative nicht mehr als zeitgemäße Form der Analyse angesehen werden. Häufig seien Fortschrittsgeschichten unterkomplex, denn der technische Wandel erfolge oftmals weit diskontinuierlicher. Auch würden Verlustgeschichten häufig nicht komplett erzählt. Mit der Entwicklung der Laufmaschine, des Tretkurbelrads, des Hochrads und letztlich des Sicherheits-Niederrads zeichnete er die Entwicklung des modernen Fahrrads nach und betonte die große Vielfalt der frühen Fahrradgeschichte, die durchaus nicht von einer vielfach unterstellten „Zwangsläufigkeit der Entwicklung“ geprägt sei. Auch seien nachträgliche Reinterpretationen stets problematisch. Er forderte deshalb Konzepte, die weniger moralisch aufgeladen sind.

GÜNTHER KRONENBITTER (Augsburg) untersuchte das bayerische und österreichische Militär zwischen 1792 und 1866 im Hinblick auf deren Traditionen und deren Anpassung an veränderte Zeitumstände. Er stellte die Problematik von Konzepten historischen Wandels heraus, da diese Narrative, wie das Beschwören einer militärischen Tradition oder einer Heroengeschichte, sich im Laufe der Zeit veränderten oder ganze Wissensbestände ausblendeten. Vor allem beim Militär seien Bezugspunkte historischen Wissens, wie beispielsweise die Wehrpflicht, teilweise verloren gegangen. Um die Wirkung solcher Narrative aufzuzeigen, verglich Kronenbitter die bayerische und österreichische mit der preußischen Armee, die stets als besonders fortschrittlich dargestellt wird. Bei diesem Vergleich wurden die Grenzen der bayerischen und österreichischen Armee in der Anpassung an veränderte Zeitumstände deutlich.

FERDINAND KRAMER (München) zeigte anhand der bayerischen Gebietsreform von 1972, wie sich Raumstrukturen, Macht und Ressourcen verschoben haben. Als Reaktion auf den Urbanisierungsprozess Mitte des 20. Jahrhunderts sei in Bayern versucht worden, durch eine an der Einwohnerzahl orientierte Umstrukturierung wirtschaftlich leistungsfähigere Gemeinden zu schaffen. Mit dieser an den „aufgeklärten Reformabsolutismus“ erinnernden Maßnahme habe kein Bundesland mehr Gemeinden abgeschafft als Bayern. Die erhoffte Bürgernähe sei indes ausgeblieben, stattdessen seien Wappen und Identitäten verdrängt worden, Orte aus der Statistik verschwunden und Strukturdaten verloren gegangen. Erst heute würden solche Verluste historisch aufgearbeitet.

Mit ihrer breiten Themenauswahl machte die Tagung deutlich, wie komplex Deutungen und Aushandlungen von Wandlungsprozessen als Fortschritt oder Verlust sind. Werthorizonte und Interessenlagen von Akteuren und Akteursgruppen müssen dabei ebenso berücksichtigt werden wie mediale Entwicklungen. Gerade die moralische Aufladung der Begriffe erschwert die Beurteilung von Veränderungen – dem ist nur durch konsequente Historisierung und Kontextualisierung zu begegnen.

Konferenzübersicht:

Christoph Lang (Augsburg): Begrüßung

Peter Fassl (Augsburg): Thematische Einführung

Lothar Schilling (Augsburg): Akteure des „Fortschritts“? Beobachtungen zu Innovationsexperten der ökonomischen Aufklärung

Alfred Ringler (Rosenheim): Tourismus und Landschaftswandel im Alpenraum

Eberhard Pfeuffer (Augsburg): Der Lech. Ökonomisch und ökologisch betrachtet

Corinna Malek (Augsburg): Fortschritt und Verlust im Schwäbischen Donaumoos. Transformation – Deutung – Konflikte

Martin Stuber (Bern): Von der Modernisierungsverhinderin zur Nachhaltigkeitsgarantin. Zur Bewertung kollektiver Wald- und Weidenutzung in der Schweiz seit 1700

Johann Kirchinger (Regensburg): Die Erfindung der bäuerlichen Landwirtschaft im Industriezeitalter

Ulrich Niggemann (Augsburg): Bevölkerungspolitik als Fortschritt und Verlust. Zur Umstrittenheit von Migration in der Frühen Neuzeit

Márta Fata (Tübingen): Verlust oder Gewinn? Die Folgen der Auswanderung für die Zurückgebliebenen im 18. Jahrhundert

Barbara Rajkay (Augsburg): Wahlheimat und Partnerwahl. Welsche Kaufleute in Augsburg im 18. Jahrhundert

Peter Fassl (Augsburg): Erinnern im digitalen Zeitalter

Edith Burkhart-Funk (München): Von gesprochener und geschriebener Sprache, von den Dialekten zur Standardsprache. Identität, Diversität und Diskriminierung

Regina Dauser (Augsburg): Sind wir glücklicher geworden? Perspektiven auf den Wandel von Gewerbe- und Produktionsstrukturen im Umfeld des Augsburger Weberaufstands 1794

Christina Eiden (Augsburg): Biografie einer Müllerfamilie aus Thierhaupten

Marcus Popplow (Karlsruhe): Fortschritts- und Verlustwahrnehmung in der Geschichte der Fahrradnutzung

Günther Kronenbitter (Augsburg): Anpassung und Tradition. Das Militär in Österreich und Bayern zwischen 1792 und 1866

Ferdinand Kramer (München): Gemeindegebietsreform in Bayern und Baden-Württemberg. Verwaltungseffektivität versus politische Teilhabe und Verantwortung