Verbrechen gegen die Menschheit - Ursachen, Formen und Prävention von Völkermord

Verbrechen gegen die Menschheit - Ursachen, Formen und Prävention von Völkermord

Organisatoren
Heinrich Böll Stiftung; Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik; European Network of Genocide Scholars
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.11.2005 - 05.11.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Marianne Zepp, Heinrich Böll Stiftung

Seit einiger Zeit werden Holocaustforschung, die Auseinandersetzung mit anderen Genoziden des 20. Jahrhunderts und die Frage der Prävention von Völkermorden bzw. von Verbrechen gegen die Menschheit zunehmend miteinander in Beziehung gesetzt. Nicht zuletzt das 2004 erschienene Buch von Harald Welzer über Täterschaft im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg in Osteuropa1 hat der Erforschung der Genese unterschiedlicher Menschheitsverbrechen einige Aspekte aus sozialpsychologischer Sicht hinzugefügt. Der Krieg auf dem Balkan, der Völkermord in Ruanda und ihre rechtliche Bearbeitung durch internationale Gerichtshöfe hat eine neue Phase des Völkerrechts eingeleitet. Seitdem das Stockholmer „International Forum on the Holocaust“ 2000 den Versuch unternahm, demokratische Verfasstheit und die Auseinandersetzung mit einer genozidalen Vergangenheit exemplarisch am Holocaust durchzudeklinieren, ist die Debatte um eine internationale – nicht nur europäische Verständigung – über den Umgang mit Menschheitsverbrechen nicht mehr abgerissen. Allen diesen Gesichtspunkten versuchte eine Konferenz der Heinrich Böll Stiftung Rechnung zu tragen.
Unterstützt wurde die 3-tägige internationale Konferenz „Verbrechen gegen die Menschheit. Ursachen, Formen und Prävention von Völkermord„ neben der Peter-Weiß-Stiftung von dem europäischen Netzwerk für Genozidforschung (ENoGS).

Mit vier Foren, die jeweils unterschiedliche Perspektiven eröffneten – die Typologien von Völkermord, die ideologischen Implikationen, die völkerrechtliche Perspektive der Verarbeitung und erinnerungs- und geschichtspolitische Zugänge – wurde ein umfangreiches Programm aufgelegt.
Den Auftakt machte Zygmunt Bauman, der bekannte polnisch-britische Soziologe, der den von ihm geprägten Begriff „des kategorialen Mordes“ erläuterte. Anschließend an seine Modernitätsthese der Einbettung des Holocaust in die Entwicklung des modernen Staates und seinem Grundgedanken der Durchsetzung einer selektiven Ordnung, erweiterte er die Singularitätsthese dahingehend, dass er dem Mord an den Juden Europas die Bedeutung eines exemplarischen Falles zuerkannte, der die der Moderne inhärenten Möglichkeiten der Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen anhand von Klassifizierungsmerkmalen in totale Vernichtung zu überführen versuchte. Mit dem Begriff des „categorial murder“ fasst Bauman die Völkermorde des 20. Jahrhunderts als eine Erscheinung, die die Opfer in einem ersten Schritt kategorial als das Andere, als das zu Beseitigende definierte, um ihre Beseitigung dann mit der Unterstützung staatlicher Mittel in die Tat umzusetzen. Ein wesentliches Element des kategorialen Mordes ist Baumans Auffassung zufolge die Einseitigkeit der Ordnungsbestimmung durch die Täter, die Unausweichlichkeit ihres Schicksals und Unabwendbarkeit durch die in ihren Handlungsmöglichkeiten gehinderten Opfer. Das Erschrecken, das die Erfahrung des Holocaust auslöste, hatte verschiedene Folgen. Bauman beschreibt Prozesse des Erinnerns als in Formen von Banalisierung und „sacralisation“ gegossen, zwei entgegengesetzte Reaktionen, die die Einzigartigkeit des Einzelfalles zum Verschwinden bringen, es gesellschaftlichen Aneignungsprozessen unterwerfen, die die Erfahrungen der Opfer negieren. Sie nehmen dem Geschehen, wie Bauman mit dem Verweis auf Tzvetan Todorov ausführt, seine Einzigartigkeit. Das Beispiel dient in der Folge der moralischen und politischen Rechtfertigung von politischen Entscheidungen, die auf gänzlich anderen Machtverhältnissen beruhen. Als Beispiel des Holocaust führt er Clintons Rechtfertigung des NATO-Einsatzes im Kosovo durch die Parallele Milosovics mit Hitlerdeutschland an. Man könnte an dieser Stelle auch Fischers Auschwitz-Vergleich anführen. Wenn in dieser Weise Erinnerung als politisches Argument eingesetzt wird, so Baumans Schlussfolgerung, täuscht dies über reale Machtverhältnisse hinweg und ist deshalb unethisch, weil es Entscheidungsvarianten und die Situation der Betroffenen aus dem Blick verliert. Die Erfahrung totaler Verfügungsgewalt über die definierten Opfergruppen kann nur dann als Lehre aus dem Holocaust dienen, wenn die Stimmen der Opfer gegen die Machthaber gehört werden, sei dies in Tschetschenien, in Lateinamerika oder in Ruanda.
Indessen schlägt Bauman eine Lesart dieser von ihm beschriebenen instrumentellen Rationalität vor, die sich aus der Moderne ergibt. Die Auflösung von traditionalen Settings, von sozialen Bindungen und dem Bedürfnis, diese ständig neu zu schaffen, erzeugt neue Vergemeinschaftungen. Der „Abfall“ dieser Vergemeinschaftungsprozesse ist die Definition von „überflüssigen“ Gruppen.2 Die Schaffung von Ordnungssystemen, so eine vielfach beschriebene These von Bauman, in modernen Staaten ohne die Herrschaft des Rechts in Ausübung absoluter Gewalt über die Bewohner eines bestimmten Territoriums ist die Voraussetzung für den kategorialen Mord, dem Kennzeichen der Moderne.

Sein Gesprächspartner des ersten Abends, Henry Huttenbach, lehnte in seiner Einleitung zum ersten Panel einen Definitionsversuch von Völkermorden ab, um ihn im gleichen Atemzug zu versuchen. Er verweist am Beispiel Dafur auf die politische Dimension, die die Festlegung eines Massenverbrechens als Genozid hat. Huttenbach wendet sich gegen die kategoriale Abgrenzung der „Endlösung“ von anderen Völkermorden. Seine – unausgesprochen moralische – Kritik an der Einteilung in Holocaust, einen Begriff, den er durch Endlösung (aufgrund der Eindeutigkeit dieses Begriffes) ersetzt sehen will, und anderen Völkermorden, stehe einer rationalen Erforschung im Wege. Stattdessen sucht er nach gemeinsamen Merkmalen: ein ideologischer Impuls, der in einem ungehinderten Vernichtungswillen mündet. Kontextualisierung, d.h. die Vorgeschichte, die Anatomie des Geschehens selbst und die Verarbeitung sind die Phasen, die jeden Genozid als singuläres Geschehen auszeichnen. Darüber hinaus sei jeder Völkermord in Beziehung zu setzen zu seiner Zeit. Als Beispiel führt er die Verfolgung und Vernichtung der Armenier an, denen zwei Massentötungen im osmanischen Reich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorausgingen, bis es zum eigentlichen genozidalen Geschehen von 1915 kam. Am Ende beantwortet Huttenbach die Frage nach der Kategorisierung mit der anthropologischen Konstante, die Genozide als ein weiteres Beispiel für radikale nihilistische Massengewalt als Möglichkeit menschlichen Verhaltens beschreibt. Den Versuch zu wagen, Genozide, die sich in unterschiedlichen Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Bedingungen abgespielt haben, zu vergleichen, hält er für ein wissenschaftlich kaum durchzuführendes Unternehmen, dem zudem die immense Disproportionalität, mit der der Holocaust erforscht worden sei, im Wege steht, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass die rationale Erforschung einer „fabricated information based on non-academic criteria“ in jedem Fall vorzuziehen sei.

Bauman hat Huttenbach nicht nur die Eleganz des großen Wurfs voraus: Seine aus der soziologischen Sicht abgeleitete strukturelle Analyse führt das Massenverbrechen als eine Variante menschlichen Verhaltens in existentielle Kategorien zurück. Sein Blick auf den Holocaust als Sonderfall ist nicht moralisch grundiert, sondern er sieht ihn als den reinsten Ausdruck einer in der Moderne angelegten Entwicklung, die in dem Vorhaben der Vernichtung der Juden Europas ihren Höhepunkt fand.
Eine Antwort auf die Frage nach der rechtzeitigen Verhinderung von genozidalen Entwicklungen könnten allerdings alle Versuche der kategorialen Analyse und der Verlaufserforschung von Genoziden nicht geben, so die These von Gerd Hankel. Hankel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, erteilte in seiner Einführung des zweiten Panels dem Phasenmodell Gregory H. Stantons eine Absage, weil dies eine Eindeutigkeit und Zwangsläufigkeit suggeriere, die es so sehr verallgemeinere, dass es seine Aussagekraft verliere. Die Klassifizierung nach stufenweiser Eskalation beginnend mit der Hierarchisierung von Menschengruppen über die propagandistische Spaltung einer Gesellschaft bis zur Ausrottung wird oft von anderen Beschleunigungsfaktoren begleitet wie (externen) Eskalationsschüben, politischen Gründen oder kriminelles Bereicherungsstreben. Dennoch diagnostiziert Hankel allgemein abzuleitende Übereinstimmungen. Die „Wir-Sie-Dichotomie“, die in einer Gesellschaft eine (Minderheits)bevölkerung bis zu deren völliger Vernichtung stigmatisiert, Krieg oder Bürgerkrieg als Begleiterscheinung und Verstärkungselement des Ausgrenzungsprozesses, ein auslösendes, eher zufällig sich ereignendes beschleunigendes Ereignis, im Falle Nazideutschlands der Kriegseintritt der USA, lässt ein Bedrohungsszenarium entstehen, das ein Ventil sucht und es in den Opfergruppen findet. Bleibt noch die anthropologische Ebene, warum beteiligen sich Menschen an Massentötungen? Hankel beantwortet dies anhand der Welzerschen These vom „Referenzrahmen“, der Gewaltausübung nicht nur erleichtere wie in Kriegszeiten, sondern auch das Töten durch andere moralische Begründungen (scheinbar) legitimiert. So wird der Widerspruch erklärbar, dass Massenmörder in anderen Bereichen des Lebens völlig normal agierten, bekanntestes Beispiel sind die KZ-Schergen, die treusorgende Familienväter waren. Die Dehumanisierung der Opfer, der Vernichtungswille gegenüber einem als übermächtig imaginierten Gegner sind Merkmale von genozidalen Eskalationsszenarien. Dennoch, und auch darauf geht Hankel ein, bleibt die Frage, warum einige Menschen widerstehen und andere zu Massenmördern werden.

Auf die Funktion der juristischen Bearbeitung von Genoziden und der Rolle des Völkerrechts ging das dritte Panel ein, das von David Tolbert, dem stellvertretenden Ankläger des ICTY (International Criminal Tribunal for the former Yugoslawia) eingeführt wurde. Nach der Einsetzung des Internationalen Gerichtshofes 1993 wurde zum ersten Mal nach Nürnberg der Versuch gemacht, Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen und Völkermord, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien seit 1991 begangen worden waren, zu ahnden, indem die Hauptverantwortlichen vor Gericht gebracht und angeklagt werden. Die Anklagepunkte umfassen den Krieg in Kroatien und Bosnien, den Kosovokonflikt von 1999 und die Zwischenfälle in Mazedonien 2001. Die politische Voraussetzung ist die Kooperation der Nationalstaaten, in diesem Fall die Nachfolgestaaten der jugoslawischen Föderation. Nur auf gemeinsamen Druck der EU, der USA und der internationalen Staatengemeinschaft ist es gelungen, diese Staaten zur Unterstützung der Ermittlungs- und Verfolgungsinstanzen zu bewegen. Die anfänglich 20 gesuchten Kriegsverbrecher sind auf sieben gesunken, allerdings sind mit Karadizic und Mladic zwei zentrale Figuren des Verbrechensszenarios noch in Freiheit.
Die Grenzen, die dieser Art von Gerichtsbarkeit gesetzt sind, liegen zum einen in dem Ausmaß der begangenen Verbrechen, die im Gegensatz zu der Ausstattung und der Reichweite des Gerichts stehen. Ihr erklärtes Ziel ist, so machte Tolbert deutlich, nicht die Lösung von Konflikten, nicht die Einsetzung einer Friedensordnung, sondern die Straflosigkeit der Hauptkriegsverbrecher zu verhindern und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie sind ein Mittel in einer Reihe von Instrumentarien, die die Auseinandersetzungen beenden, Verbrechen verhindern und Post-Konfliktsituationen bewältigen sollen. Kurz verwies er auch auf andere Instrumentarien wie Wahrheitskommissionen, die im gesellschaftspolitischen Raum Rekonstruktionsprozesse begleiten können.

Die Opfer in ihr Recht setzen, die Erinnerung als individuellen und kollektiven Aneignungsvorgang und die Bedingungen für den Übergang in eine Friedensordnung, dies war der Gegenstand des letzten Panels. Alfred Grosser stellte den Terminus der Verantwortung in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, von denen er die Opfer für die Durchsetzung einer demokratischen Verfasstheit nicht ausnimmt. Während einerseits die Erinnerungspolitik des Holocaust europäische Dimensionen annimmt und die Bedeutung transnationaler Standards sich immer deutlicher abzeichnet, skizzierte die Schriftstellerin Slavka Drakulic für Kroatien das Bild einer (neu geschaffenen) Nation, die sich dem Umgang mit der eigenen belasteten Vergangenheit noch fast vollständig entzieht.
Obgleich der Bogen der Konferenz sehr weit gespannt war, zeichneten sich die neuen Strömungen der Genozidforschung, die nach interkulturellen Vergleichbarkeiten der Ursachen, nach Verstärkung von Interventionsmöglichkeiten und nach interkulturellen und supranationalen Standards der Bearbeitung fragen, ab. Menschenrechtspolitik, verstärkt durch ausgehandelte staatliche Interventionen und die juristische Bearbeitung individueller Schuld von Menschheitsverbrechen waren die positiven Signale, die sich in dieser Debatte um eines der dunklen Kapitel der Menschheit ausmachen ließen.

Anmerkungen:
1 Harald Welzer. Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt a.M. 2005.
2 Beschrieben in seinem neuesten Buch, Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg 2005.


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