Zwischen Nostalgie, Amnesie und Allergie: Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa

Zwischen Nostalgie, Amnesie und Allergie: Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa

Organisatoren
Ulf Brunnbauer (Osteuropa-Institut, FU Berlin); Stefan Troebst (GWZO, Leipzig)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.12.2005 - 03.12.2005
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Von
Ulf Brunnbauer, Osteuropa-Institut, FU Berlin

Noch keine Generation ist vergangen, seit dem der Staatssozialismus auch in Südosteuropa von der Bildfläche verschwunden ist. Daher ist die Präsenz der sozialistischen Periode nicht nur im kollektiven Gedächtnis, sondern auch in der politischen Auseinandersetzung zwischen post- und antikommunistischen Parteien in der Region nicht verwunderlich. Mehr zum Staunen erregt jedoch die bisherige geringe Intensität der wissenschaftlichen Reflexion sowohl über die Erinnerung an den Sozialismus als auch die Natur der untergegangenen Systeme in Südosteuropa. Vor diesem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Aktualität einerseits und der wissenschaftlichen Desiderata andererseits organisierten Ulf Brunnbauer vom Osteuropa-Institut der FU Berlin sowie Stefan Troebst vom Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig mit Förderung der Fritz Thyssen Stiftung eine internationale und interdisziplinäre Tagung an der FU Berlin, die sich mit dem Platz des Kommunismus und der realsozialistischen Zeit in den Erinnerungskulturen Südosteuropas auseinandersetzte.1 Leitende Fragen waren einerseits die Modi der Erinnerung an den Realsozialismus, ihre Medien, Inhalte und Vermittlungsformen, sowie andererseits deren soziale und politische Determiniertheit als auch Rückwirkungen auf aktuelles Handeln und Erwartungen an die Zukunft.

Im Auftaktvortrag über „Bildgedächtnis und Nation“ verdeutlichte die Bildwissenschaftlerin Monika Flacke (Deutsches Historisches Museum, Berlin) die Rolle von Bildern für die Tradierung und Formung des kollektiven Gedächtnis. Anhand von zahlreichen Beispielen (Briefmarken, Schulbuchillustrationen, Plakaten, Filmausschnitten), die den Zweiten Weltkrieg repräsentierten, zeigte die Referentin, dass Bilder nicht nur Erinnerungsinhalte archivieren, sondern auch präfigurieren. Entsprechend sind Erinnerungstopoi häufig transzendent und seitens ideologisch ganz unterschiedlich ausgerichteter Akteure parallel oder sukzessive nutzbar. Im zweiten Einleitungsvortrag diskutierte der Historiker Holm Sundhaussen (Osteuropa-Institut der FU Berlin) Dimensionen der kollektiven Erinnerung und Fragen des Zusammenhangs von Erfahrungen und Gedächtnis, wobei er auf die Gegenwartsgebundenheit von Erinnerungen sowie auf Dimensionen der Vergessens hinwies.

An diese theoretischen und methodologischen Überlegungen anknüpfend, gab der Historiker Stefan Troebst (GWZO und Universität Leipzig) im einleitenden Panel „Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik“ einen Überblick über die Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungskulturen im postsozialistischen östlichen und südöstlichen Europa. Er wies insbesondere auf Kontinuitätslinien der Erinnerung hin, wobei die religiöse Grundierung von Formen der Erinnerung und ihrer Symbolsprache deutlich wurden. Abschließend bot Troebst eine viergliedrige Klassifizierung der Erinnerungskulturen im postsozialistischen Europa in Bezug auf den Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit an: (1) Gesellschaften, in denen die negative Bewertung dieser Periode im kollektiven Gedächtnis weitgehend Konsens ist; (2) Gesellschaften, in denen negative und positive Erinnerungen in der Öffentlichkeit miteinander konkurrieren; (3) indifferente Erinnerungen an den Sozialismus und (4) die weitgehende positive Bewertung der sozialistischen Periode. Hagen Fleischer (Professor für Zeitgeschichte an der Universität Athen) machte deutlich, dass auch im niemals kommunistischen regierten Griechenland der Kommunismus einen wichtigen Bezugspunkt des kollektiven Gedächtnisses darstellt, allerdings entweder als (privat erinnertes) Tabu oder unter dem Motto „Was wäre gewesen, wenn?“ (d.h. wenn die Kommunisten den Bürgerkrieg von 1946–49 gewonnen hätten). Erst mit zunehmender Distanz zum Bürgerkrieg wurde die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema in Griechenland möglich. Erinnerungskulturell fand in den letzten beiden Jahrzehnten der Einschluss auch der Kommunisten (insbesondere in Bezug auf den Widerstand gegen die Besatzer während des Zweiten Weltkriegs) in die nationale Meistererzählung statt. Eine einseitige Siegergeschichte macht einer integrativen Erinnerung Platz. Der Historiker Dietmar Müller (GWZO, Leipzig) diskutierte anhand des rumänischen Beispiels die Zusammenhänge zwischen politischen Interessen und Erinnerung an den Sozialismus. Der Umgang mit dem hypertrophen, von Ceausescu in Angriff genommenen „Palast der Republik“ im Stadtzentrum Bukarests zeige, so Müller, wie in der öffentlichen Debatte selbst ein derart massiver Erinnerungsort an kommunistische Repression zum Symbol der Nation werden kann (Müller sprach von einer „Nostrifizierung“). Für Rumänien wie auch für andere Länder gilt darüber hinaus, dass viel mehr noch als die Zeit des Realsozialismus diejenige des Zweiten Weltkriegs in der Erinnerungskultur umstritten ist. Revisionistische Bemühungen in Rumänien machen sich hauptsächlich an der Rehabilitation des Hitler-Verbündeten und Diktators, Marschall Antonescu, fest. Insgesamt zeigt der Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit in Rumänien, dass letztlich die Nation den Fluchtpunkt der Erinnerung bildet.

Im darauf folgenden Panel „Denkmalkultur und Erinnerung“ stellte der Kulturwissenschaftler Nikolaj Vukov (Institut für Folklore, Sofia) den Umgang mit sozialistischen Monumenten in Bulgarien nach 1989 dar. Einen letzten Höhepunkt erlebte der postsozialistische Ikonoklasmus 1999, als das Dimitrov-Mausoleum in Sofia gesprengt wurde. Darüber hinaus entstanden auch Denkmäler, die des repressiven Charakters des Realsozialismus erinnerten, insbesondere in türkischen Orten, wo der Zwangassimilierung und ihrer Opfer der 1980er-Jahre gedacht wird. Eine staatlich gelenkte Denkmalpolitik präsentierte der Romanist Vasile Dumbrava (Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig) am Beispiel der Republik Moldau. Seitdem dort seit 2001 wieder die Kommunisten regieren, erfreuen sich Lenin-Denkmäler erneut größter Beliebtheit, während gleichzeitig staatlicherseits Monumente zur Fixierung der Erinnerung an die moldauische Nation aufgestellt werden, um ihre Tradition über die sowjetische Periode (die eigentliche Zeit des moldauischen Nation-building) fortzuschreiben. Pro-rumänisch orientierte Intellektuelle wiederum antworten mit Denkmälern für die Heroen der rumänischen Nationalgeschichte. Die Kulturwissenschaftlerin Éva Kovács (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien) beschäftige sich in ihrem Beitrag mit einem sehr privaten Monument der Erinnerung an den Sozialismus: einer CD mit Fotos über das Leben in einem ungarischen Pionierlager am Balaton, in welcher der Autor seine private Sicht der Dinge zeigt. In der Interpretation dieses visuellen Materials wies Éva Kovács auf die typischen Erinnerungsstrategien des „Homus Kadaricus“ hin, der auch in seiner Erinnerung weder fähig ist, über seine Beteiligung am System zu reflektieren noch eine Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem zu ziehen.

Das den Tag abschließende Panel behandelte „Erinnerungskonflikte und Erinnerungstraumata“. Die Anthropologin Georgia Kretsi (Osteuropa-Institut, FU Berlin) zeigte anhand einer Fallstudie aus Südalbanien, wie stark die sozialistische Erfahrung und Position im Realsozialismus heutige Erinnerungen determiniert, was auf lokaler und nationaler Ebene zu Konflikten führen kann, denn mit den unterschiedlichen Erinnerungen gehen oftmals auch unterschiedliche politische Orientierungen einher. Kretsi diskutierte auf der Basis von narrativen Interviews auch narrative Strategien der ehemaligen Opfer in ihrem Bestreben, ihrer Biografie Kohärenz zu verleihen. Ebenfalls aus einer anthropologischen Perspektive wandte sich Stephanie Schwandner-Sievers (Applied Anthropology Ltd., London) der Erinnerungskultur in der Nachkriegsgesellschaft im Kosovo zu, wo die öffentliche Erinnerung heute durch den Heldenkult der kosovarischen Befreiungsarmee (UCK) dominiert wird. Bohrt man aber tiefer kann man insbesondere unter der älteren Generation zu „schweigenden und privaten Erinnerungen“ gelangen, in denen Tito und die 1970er und 1980er-Jahre positiv erinnert werden. „Wir hatten Arbeit“, fasst diese Generation zusammen, und ältere Frauen berichten von ihren Bildungs- und Erwerbschancen. Im Referat und der Diskussion wurde deutlich, dass die aufgrund der politischen Zwänge relativ einheitliche öffentliche Erinnerungslandschaft im Kosovo die Erfahrungen der Menschen nur unzureichend widerspiegelt. Das Panel wurde abgeschlossen von der klinischen Psychologin Oltea Joja (Bukarest), die auf der Basis von Interviews über die Verarbeitung der in Rumänien für viele traumatischen Erfahrung des Realsozialismus berichtete. Aus den Interviews schälten sich neben dem Verschweigen folgende typische Erinnerungstropen heraus: Überwältigung, Identifikation, Verharmlosung, Faszination und Idyllisierung. Abschließend stellte Joja die nicht nur für Rumänien relevante Frage nach dem passenden Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit. Der gegenwärtige aggressive Erinnerungsdiskurs in Rumänien gäbe allerdings wenig Hoffnung auf eine differenzierte, reflexive Diskussion dieser Zeit.

Den Samstagvormittag eröffneten die HistorikerInnen („Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht“), wobei in den vier Referaten zum Platz des Sozialismus in der Geschichtsschreibung Südosteuropas deutlich wurde, dass es noch große Forschungsdesiderata gibt. Oto Luthar (Wissenschaftliches Forschungszentrum, Ljubljana) konzentrierte sich in seinen Ausführungen auf den historiografischen Revisionismus in Slowenien, der sich insbesondere an der Frage der Beurteilung der Kollaboration mit den deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkriegs festmacht, da rechtsgerichtete Historiker die kollaborationistische slowenische Heimwehr rehabilitieren wollten. Manche der heutigen Revisionisten haben einst die revolutionäre Lehre gepredigt, was die Anpassungsfähigkeit vieler Historiker zeigt, die ihr Fähnchen nach dem Wind richten. Ulf Brunnbauer (Osteuropa-Institut, FU Berlin) betonte in seinem Überblick über die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Realsozialismus in Südosteuropa, dass diese nur einen geringen Platz in der historiografischen Produktion einnimmt. Am meisten Aufmerksamkeit finden noch die Jahre der Etablierung der jeweiligen kommunistischen Regime, während die Zeit nach dem Stalinismus noch kaum untersucht wurde. Als dominante Modi der Repräsentation (neben dem Verschweigen) identifizierte Brunnbauer die Revision (die sich allerdings mehr auf die Korrektur des sozialistischen Geschichtsbildes denn die Erforschung des Sozialismus konzentriert) sowie die offene Affirmation, vor allem im Rahmen einer Modernisierungs-Meistererzählung. Péter Ápor (Central European University, Budapest) nahm einen Skandal um die Veröffentlichung der Namen von 90 Agenten des ungarischen Geheimdienstes aus der Zeit des Sozialismus im Februar 2005 zum Anlass, um die sowohl in der öffentlichen als auch der geschichtswissenschaftlichen Repräsentation des Sozialismus populäre Vorstellung von der klaren Dichotomie zwischen politischer Macht und Gesellschaft zu dekonstruieren. In einer solchen Interpretation verschwimmen die zahlreichen Interaktionen zwischen Staat und Gesellschaft und die Anpassungsleistungen der „einfachen Menschen“. Augustina Dimou (Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig) schließlich analysierte die Darstellung der sozialistischen Zeit in den Schulbüchern in Südosteuropa, insbesondere in Serbien, Kroatien und Makedonien. In den ex-jugoslawischen Republiken kann dabei die auch in der Geschichtswissenschaft dominante Tendenz beobachtet werden, dass die sozialistische Zeit vor allem als Kulisse für die Konsolidierung der Nation beschrieben wird. In kroatischen Schulbüchern gibt es darüber hinaus einen starken anti-jugoslawischen Grundzug (Jugoslawien als „Völkergefängnis“).

Das erste Nachmittagspanel („Kunst, Kultur und Kontinuitäten der Erinnerung“) am Samstag war kulturwissenschaftlichen Perspektiven gewidmet, wobei es um visuelle sowie literarische Repräsentationen des Sozialismus und der Erinnerung an ihn ging. Der Kunstwissenschaftler Zoran Terzić (Berlin) begann mit einer theoretischen Einführung in die Zusammenhänge von Erinnerung und Zeitverständnis. Anhand von Beispielen aus der ex-jugoslawischen Kulturproduktion zeigte er dann unterschiedliche Modi der Visualisierung von Sozialismus sowie der Nation, wobei er auch auf Strategien der Verbannung aus dem Gedächtnis sowie der Ironisierung einging. Die Literaturwissenschaftlerin Anne C. Kenneweg (GWZO, Leipzig) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Auseinandersetzung der kroatischen, aber seit den 1990er-Jahren im Exil lebenden Autorin Dubravka Ugrešić mit der sozialistischen Vergangenheit. Diese Schriftstellerin praktiziert den aktiven Eingriff in die Gedächtnisarbeit, wobei sie gleichzeitig auch ihre eigene Autobiografie – und somit ihre Erfahrungen mit dem jugoslawischen Sozialismus – verarbeitet. Ugrešić will die Erinnerung nicht den Mächtigen überlassen und marginalisierte Erinnerungen wieder an das Tageslicht holen. Der Historiker Wilfried Jilge (GWZO, Leipzig) versuchte am Beispiel von Kyrill und Method als „trivalente Erinnerungsorte“ in Bulgarien, der Ukraine und der Slowakei einerseits die religiöse Fundamentierung von Medien und Inhalten der Erinnerung und andererseits Kontinuitäten zwischen den vor-, real- und postsozialistischen Erinnerungskulturen zu zeigen. Darüber hinaus machte dieses Fallbeispiel deutlich, dass an den selben Symbolen die nationalen Narrationen unterschiedlicher Nationen festgemacht werden können. Die Kunsthistorikerin Tasja Langenbach (Köln) präsentierte die „Erinnerungsarbeit“ des ungarischstämmigen, in den USA lebenden Medienkünstlers George Legrady, der im Jahr 1993 eine CD-Rom produzierte, welche seine privaten Erinnerungen an den Kalten Krieg mit anderen Bildbeispielen aus/über diese Zeit kombinierte. Legrady schuf ein virtuelles Museum der Erinnerung an den Kalten Krieg und an die ungarische 1956er Revolution sowie andere Aspekte des ungarischen Sozialismus, welches sich an der Struktur des ehemaligen Museums der Arbeiterbewegung in Budapest orientierte. Damit erzeugte er ein Inventar und eine Archäologie marginalisierter Stimmen, die individuelle Erfahrungen mit politischen Ereignissen verbinden.

Das abschließende Panel behandelte „Private und alltägliche Erinnerungen“. Die Sozialwissenschaftlerin Natalija Bašić (Osteuropa-Institut, Berlin) präsentierte eine Untersuchung von Kindheitserinnerungen aus Jugoslawien, basierend auf reichhaltigem Interviewmaterial aus unterschiedlichen ehemaligen Teilrepubliken. Obwohl ihre Interviewpartner durchwegs Kombattanten der jugoslawischen Kriege der 1990er-Jahre waren, fanden sich in ihren Kindheitserinnerungen in der Regel positive Schilderungen des jugoslawischen Sozialismus. Einige hoben besonders die zwischenethnische Harmonie hervor. Bašić wies auf die Wirksamkeit der vom jugoslawischen Sozialismus geformten normativen Vorstellungen und Redeweisen über den Sozialismus hin, die internalisiert worden waren. Die Soziologin Breda Luthar (Universität Ljubljana) behandelte in ihrem Referat, das auf einem Interviewprojekt basierte, die Erinnerung an die zuerst in Slowenien und dann im ganzen Jugoslawien so populären Einkaufsfahrten ins italienische Triest. Anhand dieser Konsumpraxis und ihrer Repräsentation in den Interviews analysierte Breda Luthar Interaktionsmodi zwischen Beherrschten und Staat, informelle Praktiken sowie Mechanismen der Konstruktion einer jugoslawischen Mittelschicht, die sich unter anderem über differenzierende Konsumpraktiken konstituierte. In den 1970er-Jahren gewannen die Einkaufsfahrten auch eine ethnische Dimension, als sich slowenische Einkaufstouristen von den in ihren Augen „balkanischen“, schmutzigen und ungehobelten Landsleuten aus dem Süden, die ebenfalls nach Triest einkaufen fuhren, abzusetzen versuchten. Die Historikerin Daniela Koleva (Universität Sofia) diskutierte in ihrem Beitrag, inwieweit in Bulgarien die Versuche der Kommunistischen Partei, die ideologischen Erinnerungsnarrative in der alltäglichen Praxis zu verankern, von Erfolg gekrönt gewesen waren, was sie am Beispiel der Frage untersuchte, welche Feiertage in biografischen Interviews erinnert werden. Dabei zeigte sich, dass neben den wichtigsten sozialistischen Feiertagen auch viel von traditionellen Feiertagen erzählt wird. Allerdings wurden manche dieser Feiertage auch vom Staat anerkannt, nachdem sie ihrer christlichen Symbolik entledigt worden waren. Die Erinnerung an Feiertage im Sozialismus reflektiert somit den ausgehandelten Charakter vieler Elemente des realsozialistischen Alltags. Den Abschluss der Tagung bildete das Referat des Historikers Predrag Marković (Institut für Zeitgeschichte, Belgrad), der sich auf die Spur der nicht nur im heutigen Serbien weit verbreiteten Nostalgie für den Sozialismus begab. Als Ursache machte er die gesellschaftliche Akzeptanz der sieben „S-Werte“ des Sozialismus aus, die heute viele Menschen mit den für sie tristen Lebensrealitäten des Postsozialismus kontrastieren: „Solidarität, Sicherheit, Stabilität, soziale Inklusion, Selbstachtung, Soziabilität, Solidität“. Obwohl es sich durchaus um Mythen handelte, hatten sie dennoch (vor allem in der Retrospektive) ein reales Fundament. Laut Marković haben diese Einstellungen aber auch negative Folgen für die Entwicklungsperspektiven der heutigen Gesellschaft, unter anderem aufgrund einer „infantilen“ Erwartungshaltung gegenüber dem Staat.

Die Referate und die lebhaften Diskussionen, die sie auslösten, machten deutlich, dass post-sozialistische Erinnerungskulturen in Südosteuropa nicht nur ein an sich interessantes Forschungsfeld darstellen, sondern auch wesentlich zum Verständnis der gegenwärtigen kulturellen und politischen Verhältnisse in der Region beitragen. Angesichts der intensiven gesellschaftlichen Transformationen ist das Gedächtnis umstritten, und politische Akteure suchen in der Vergangenheit nach Legitimation für die Zukunft. Die Zeit des Sozialismus spielt dabei eine zentrale Rolle, obwohl (oder vielleicht eher weil) die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr in Südosteuropa noch wenig fortgeschritten ist. Der Schritt vom „kollektiven“ zum „historischen“ Gedächtnis ist noch nicht gemacht, was die außerordentliche Dynamik und Widersprüchlichkeit der Erinnerungskulturen in der Region erklärt.

Anmerkungen:
1 Tagungsprogramm bei H-Soz-u-Kult siehe http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4548

Kontakt

Ulf Brunnbauer

Osteuropa-Institut, FU Berlin
Garystr. 55, 14195 Berlin
030/83852028
030/83854036
ulf@zedat.fu-berlin.de


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