Forum: Kommentar zu den "Konzeptionellen Überlegungen für die Ausstellungen der Stiftung 'Flucht, Vertreibung, Versöhnung'"

Von
Reinhard Rürup, Berlin

Ich begrüße nachdrücklich den Versuch, mit den gestern vorgelegten „Konzeptionellen Überlegungen“ eine öffentliche Diskussion über die geplante Dauerausstellung zu dem Themenkomplex Flucht und Vertreibung und über die damit verbundenen Wechselausstellungen anzustoßen. Diese Diskussion ist dringend, weil die Gründung der Stiftung und die Errichtung eines „sichtbaren Zeichens“ der Erinnerung an Flucht und Vertreibung politisch kontrovers waren und sind. Sie ist auch notwendig, weil es sich, ähnlich wie beim „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, um ein nationales Projekt handelt, nachdem die Gründung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ im Dezember 2008 vom Deutschen Bundestag beschlossen worden ist. Und sie ist nicht zuletzt deshalb geboten, weil die Stiftung es bislang versäumt hat, mit eigenen Planungen an die Öffentlichkeit zu treten.

Laut Stiftungsgesetz ist der Zweck der Stiftung, „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten“. Das ist eine stark gedrechselte Formulierung, der man anmerkt, dass sie möglichst vielen gerecht werden möchte. Dass es eine Kultur der Erinnerung heute nur noch „im Geiste der Versöhnung“ geben kann, ist eine von niemandem mehr bestrittene Selbstverständlichkeit. Auffälliger ist, dass zwar von „Erinnerung“ und „Gedenken“ die Rede ist, die „wachgehalten“ werden sollen, nicht aber von der historischen Aufarbeitung und der Aufklärung über Ursachen und Folgen, die eine aktive Auseinandersetzung mit dem damals Geschehenen erfordern, der Hinweis auf den „Kontext“ des Krieges und der NS-Politik wirkt in diesem Zusammenhang etwas gequält und nicht sehr erhellend. Als besonders problematisch muss schließlich die Aussage gewertet werden, dass es um Flucht und Vertreibung „im 20. Jahrhundert“ gehen soll, also nicht in erster Linie um die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik und die aus der militärischen Niederlage resultierende Flucht und Vertreibung von mehr als 12 Millionen Deutschen aus den östlichen Provinzen des Reiches und anderen deutschen Siedlungsgebieten, sondern um sehr unterschiedliche Vorgänge von Gewalt und Zwangsumsiedlung im Sinne einer ethnischen Homogenisierung bestimmter Staaten oder Territorien. Damit aber besteht die Gefahr, dass die Vertreibung der Deutschen mit ihrer höchst spezifischen Vorgeschichte eingeebnet wird in eine allgemeine Geschichte nationaler, ethnischer oder religiös-kultureller Konflikte und der Versuche ihrer gewaltsamen Lösung.

Mit dem gerade Gesagten dürfte deutlich sein, dass ich den Ausführungen in den „Konzeptionellen Überlegungen“ über die „Grundanforderungen“ an die künftige Ausstellung und über die „problemorientierten Zugänge“ in allen wesentlichen Punkten zustimme. Problematischer erscheint mir dagegen der Vorschlag einer „topografischen Modularisierung als Ausstellungsprinzip“, d.h. der Entscheidung für eine Reihe von Orten als zentrale Strukturelemente der Ausstellung. Es ist sicher richtig, dass sich die Komplexität der Probleme und des Prozesses der Vertreibung am „konkreten historischen Ort“ besonders gut und wirkungsvoll beobachten lassen, und die hier skizzierten Beispiele von Breslau, Aussig und Wilna demonstrieren auf eindrucksvolle Weise das Potential „mikro-regionaler Studien“. Ich habe aber Zweifel, ob sich das alles in dem Medium einer Ausstellung ebenso präzise wie publikumsfreundlich darstellen lässt. Darüber hinaus scheint es mir nicht möglich, bei einem so großen und bewegenden Thema wie Flucht und Vertreibung auf die „Groß-Erzählung“ zugunsten der Mikroanalyse ganz zu verzichten, also lediglich Geschichten und nicht Geschichte zu erzählen. Eine historische Ausstellung braucht Anschauung, sie braucht biographische und lokale/regionale Details, aber sie muss auch große Eindrücke und übergreifende Einsichten vermitteln und den Gesamtvorgang zur Anschauung bringen.

Unklar ist mir, welcher Ausstellungstyp in diesem Falle eigentlich angestrebt wird. Ich hatte bisher stets angenommen, dass es sich um eine Ausstellung handeln werde, die mit dreidimensionalen Originalobjekten arbeitet. In den „Konzeptionellen Überlegungen“ heißt es aber, dass es hauptsächlich um „filmische, auditive, fotografische und schriftliche Quellen“ gehen soll und dreidimensionale Objekte nur „eine untergeordnete Rolle“ spielen sollen. Dem entspricht, dass Staatsminister Neumann in diesen Tagen von einer „Dokumentationsstätte“ gesprochen hat. Für eine solche dokumentarische Ausstellung, die ganz oder doch überwiegend mit reproduzierbaren Quellen und interpretierenden Schriftsätzen arbeitet, spricht, dass sich auf diese Weise sehr viel genauer und direkter argumentieren lässt, weil alle überlieferten Quellen im Prinzip uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Wer auf die Originalobjekte setzt, muss in einem weit höheren Maße exemplarisch und auch assoziativer arbeiten, hat dafür aber den Vorteil, dass die Besucher der Ausstellung den Zeugnissen der Vergangenheit unmittelbar gegenüberstehen und in ihren oft sehr unterschiedlichen Reaktionen auf diese Zeugnisse die Ausstellung auf je individuelle Weise mitgestalten. Für eine Einrichtung, die über keine eigenen Sammlungen verfügt, wird es allerdings immer sehr schwer sein, für eine Dauerausstellung aussagekräftige Objekte in ausreichender Zahl zusammenzutragen. Dennoch sollte meines Erachtens der Versuch unternommen werden, die Geschichte von Flucht und Vertreibung in originalen Ausstellungsobjekten zu erzählen – das entspricht der Bedeutung des Themas und dem Anspruch der Ausstellung als nationales Projekt. Denkbar ist immerhin, dass viele Objekte, auch solcher von großer historischer und künstlerischer Bedeutung, von Museen und anderen Einrichtungen, nicht zuletzt auch von Privatpersonen, Familienverbänden oder Organisationen unterschiedlicher Art als Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt werden. Die Wechselausstellungen, die die Dauerausstellung thematisch ergänzen und auch als Wanderausstellungen einsetzbar sind, sind dagegen sinnvollerweise als Dokumentationen mit der Reproduktion von Bild- und Textquellen zu planen.

Noch ein Wort zum Träger der Ausstellung und zu der europäischen Vernetzung des Ausstellungsvorhabens: Die Verantwortung für diesen Ort der Erinnerung und seine Gestaltung liegt, wie immer die Zusammenarbeit vor allem mit den angrenzenden Ländern des östlichen Mitteleuropa sein mag, auf der deutschen Seite. Es ist ein deutsches Projekt: Der Bundestag hat entschieden, dass es diesen Ort als eine Dauereinrichtung geben wird, und die Bundesregierung hat die Finanzierung sichergestellt. Dabei geht es um die Aufarbeitung und Darstellung einer nationalen Verlustgeschichte in ganz und gar ungewöhnlichen Dimensionen: um den Verlust von Territorien, Geschichte und Kultur in einem bis dahin in der deutschen Geschichte nicht gekannten Umfang und um das Schicksal von über 12 Millionen Menschen, die ihre Heimat verloren haben und auf der Flucht oder im Zuge der Vertreibung stellvertretend für die Gesamtheit der Deutschen leiden mußten. Dabei muss ganz unmissverständlich gezeigt werden, dass die Ursachen dieser Verlustgeschichte in der aggressiven und rassistischen Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes und in der Unterstützung dieses Regimes durch die große Mehrheit der Deutschen zu suchen sind. Das alles so darzustellen, dass es der historischen Wahrheit entspricht und auch für die Angehörigen der mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten akzeptabel ist, ist eine Aufgabe, die von deutschen Historikern und Ausstellungsmachern zu leisten ist und nicht an die Fachleute anderer Länder weitergegeben werden kann. Man kann und muss vor allem mit den Nachbarn kooperieren, muss aber die Verantwortung für das, was in der nächsten Zeit als „sichtbares Zeichen“ geschaffen wird, selber tragen.

Da mit der Präsentation der „konzeptionellen Überlegungen“ eine öffentliche Diskussion über die Struktur und Gestaltung der Dauerausstellung beginnen soll, mag es erlaubt sein, abschließend in wenigen Stichworten anzudeuten, wie man die Ausstellung in vier thematischen Blöcken sinnvoll strukturieren könnte: 1. Flucht und Vertreibung der Deutschen bei Kriegsende: Ausgangssituation vor Ort; Trecks und Transporte; erste Ankunft und spätere Zielorte – dazu biographische Materialien, Familiengeschichten, einzelne Orte, besondere Vorkommnisse. 2. Ursachen der Vertreibung: NS-Politik und Verbrechen; Krieg und Gewalterfahrung; Nationalitätenkonflikte in der Zwischenkriegszeit, Minderheitenpolitik und ethnische/religiöse/kulturelle Homogenitätsvorstellungen – dazu einzelne Orte und Regionen, individuelle Schicksale, bestimmte Personengruppen, besondere Vorkommnisse. 3. Langfristige Wirkungen: Verlust deutscher Geschichte und Kultur; materielle Not, Lastenausgleich und Integration; Vertriebenenorganisationen; Unterschiede zwischen DDR und Bundesrepublik; Umsiedlungen in Polen; Neusiedler in früher deutschen Gebieten – dazu besondere regionale Entwicklungen, einzelne Berufsgruppen, Familienverbände, Biographisches, Generationenwechsel. 4. Perspektiven: Friedenspolitik, Anerkennung der bestehenden Verhältnisse und Grenzgarantien, neue Formen der Zusammenarbeit, Europäische Union und die schwindende Bedeutung nationaler Grenzen, auch wirtschaftlicher und kultureller Abgrenzungen; Aufarbeitung und Anerkennung deutscher Geschichte und Kultur in den heute polnischen, frühen deutschen Gebieten; wirtschaftliche Verflechtungen, kulturelle Zusammenarbeit – dazu Orte der Begegnung und des Austausches, Beispiele von Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern und Unternehmern, die erfolgreich grenzüberschreitend tätig sind und in ihrer Arbeit für die jeweils anderen Länder von Bedeutung sind.

Entscheidend bleibt, dass die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, wie immer sie gestaltet wird, der historischen Wahrheit, so weit sie sich ermitteln lässt, und einer gemeinsamen Zukunft aller Völker, die in der einen oder anderen Weise einen Anteil an dieser Geschichte haben, verpflichtet ist.

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Reinhard Rürup studierte Geschichte, Germanistik, Rechtswissenschaften und Theologie in Freiburg und Göttingen. 1962 promovierte bei Percy Ernst Schramm über "Johann Jakob Moser. Pietismus und Reform". Bis zu seiner Habilitation 1970 war er Oberassistent am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, wo er anschließend zum Professor berufen wurde. Er lehrte als Gastprofessor u.a. in Berkeley, Stanford, Harvard und Jerusalem. Reinhard Rürup hatte seit 1975 bis zu seiner Emeritierung 1999 den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin inne und war bis 2004 Leiter der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ in Berlin.

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Die Beiträge zum Diskussionsforum „Vertreibungen ausstellen. Aber wie? Debatte über die konzeptionellen Grundzüge der Ausstellungen der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ können Sie auf der Webseite von H-Soz-u-Kult einsehen unter der Adresse: http://www.hsozkult.de/index.asp?pn=texte&id=13501350