Forum "Hochschule und Studienreform": Der Goldene Mittelweg. Ein Plädoyer für die sinnvolle Synthese nordamerikanischer und deutscher Universitätsstrukturen

Von
Hans Stallmann, Ruhr-Universität Bochum Universitätsstrasse 150 44780 Bochum

Der Goldene Mittelweg. Ein Plädoyer für die sinnvolle Synthese nordamerikanischer und deutscher Universitätsstrukturen

von Hans Stallmann, Bochum

In der Diskussion um die Reform und Erneuerung der deutschen Hochschulen gewinnen Ansätze, das hiesige System nach angelsächsischem Vorbild zu verändern, immer mehr an Bedeutung. Da werden Juniorprofessuren, B.A./M.A.-Studiengänge, Credit-Point-Systeme und ein Mehr an Wettbewerb zwischen den Hochschulen gefordert oder bereits in der Praxis erprobt. So sehr viele dieser Vorschläge, die vor allem auf eine Annäherung an das amerikanische Modell hinauslaufen, im Prinzip zu begrüßen sind, scheinen die Befürworter solcher Reformen die damit verbundenen Implikationen häufig nicht wirklich zu Ende gedacht zu haben. So zeigt die jüngste Debatte über die Einführung der Juniorprofessuren nur zu deutlich, wie fatal sich die Übernahme einzelner Versatzstücke des amerikanischen Universitätssystems auswirken kann, wenn sie einfach den deutschen Verhältnissen übergestülpt werden ohne die bestehenden Unterschiede zu berücksichtigen.

Oftmals werden auch falsche Vergleichsmaßstäbe verwendet, indem immer wieder die meist privaten, efeubewachsenen amerikanischen Eliteuniversitäten als leuchtende Vorbilder präsentiert werden. Dabei berücksichtigen die Reformer freilich weder deren heute in Deutschland nicht mehr zu realisierende finanzielle Ausstattung, noch wollen sie deren horrende Studiengebühren übernehmen. Deshalb sollte man sich bei der Reformierung der deutschen Hochschulen nach nordamerikanischem Vorbild immer der Unterschiede der beiderseitigen Hochschulsysteme bewußt sein und sich in erster Linie an den z.T. hervorragenden staatlichen amerikanischen Universitäten wie Berkely und Michigan oder den führenden kanadischen Universitäten wie der University of Toronto orientieren, die in ihren Strukturen viel eher unseren Massenuniversitäten entsprechen als die zahlenmäßig begrenzten Universitäten der Ivy-League. Das heißt beileibe nicht, das Mittelmaß zur Richtschnur zu erheben oder die privaten Top-Universitäten und ihre vorbildliche Ausstrahlungskraft gänzlich aus den Augen zu verlieren, nur müssen die strukturellen Unterschiede eben immer mitgedacht werden.

Aufwertung der Lehre
Wenn man sich schon an anderen Systemen orientiert und Versatzstücke übernimmt, sollte man auch wirklich das herausgreifen und sinnvoll umsetzen, was in der Tat überlegen ist. Bezogen auf das angelsächsische System heisst das: Intensive Betreuung der Studenten sowie Identifikation der Studierenden und Lehrenden mit ihrer Hochschule. Eine stärkere corporate identity entsteht nur dort, wo sich die Universitäten und Fachhochschulen ihre Studenten und diese sich ihre alma mater selbst aussuchen können. Hat man die wie auch immer gearteten Aufnahmetests überstanden, gehört man dazu und entwickelt ein ganz anderes Verhältnis zu seiner Ausbildungsstätte als dies bisher in Deutschland der Fall war. Dazu muss sich die Hochschule allerdings von einem anonymen Massenbetrieb zu einem Dienstleistungsunternehmen wandeln, das sich seinen Studenten verpflichtet fühlt. So wie es eben nicht nur an den kleinen privaten, sondern auch an den großen nordamerikanischen Universitäten der Fall ist, an denen eine bessere Betreuung infolge einer viel günstigeren Zahlenrelation zwischen Dozenten und Studenten ermöglicht wird.

Außerdem besitzt dort die akademische Lehre einen viel höheren Stellenwert als in Deutschland. Hier liegt der eigentliche Vorzug angelsächsischer (Aus)bildung, der aber in der hiesigen Diskussion kaum Beachtung findet. Deutschland braucht mehr Hochschullehrer, die eine gezielte Studienberatung und -betreuung gewährleisten, um den Studenten Hilfestellungen nicht nur in den ersten Semestern zu geben. Denn die Veränderung der Studienstruktur allein durch die Einführung von Bachelor-Studiengängen garantiert noch keine Reduktion der Abbrecherquoten oder eine Verkürzung der Studienzeiten. Aber während hierzulande gute Hochschullehrer für eine engagierte Lehre durch übervolle Seminare, die mehr Arbeit für Lehr- und Prüfungstätigkeiten und weniger Zeit für die Forschung bedeuten, "bestraft" werden, erhalten Professoren in anderen Ländern Auszeichnungen für gelungene Lehrtätigkeit, die auch bei Berufungen eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Ein Umdenken wird hier nicht von heute auf morgen möglich sein, aber eines scheint klar: Dass nur ein guter Forscher auch ein guter Hochschullehrer sein kann, gehört zu den aus dem deutschen Idealismus stammenden Mythen, die heute noch weniger als vor 200 Jahren der Realität entsprechen. Warum sollten sich nicht manche Hochschullehrer mehr auf die Lehre, andere eher auf die Forschung konzentrieren ohne das jeweils andere gänzlich aufgeben zu müssen? Die Einheit von Forschung und Lehre muß nicht mehr in jedem Hochschullehrer, sondern in der Institution Universität verwirklicht werden. Dies könnte dazu führen, dass deutsche Professoren ein wenig realitätsnäher werden, sich intensiver um ihre Studenten kümmern und diese nicht länger als lästiges Beiwerk neben ihrer Forschungstätigkeit betrachten. Denn es ist ja nicht so, als seien die deutschen Professoren weniger fleißig als ihre angelsächsischen Kollegen, nur leiden sie unter einem größeren Studentenandrang und setzen bei dem Spagat zwischen Forschung und Lehre im Zweifelsfall ihre Prioritäten eher im Forschungsbereich. Die meisten Professoren sind eben in erster Linie Forscher und erst in zweiter Linie Hochschullehrer, so dass eine intensive Betreuung der Studenten nur im Einzelfall möglich ist und gute Lehrveranstaltungen eher die Ausnahme als die Regel sind.
Da die Bundesregierung zudem die Studentenzahlen in Deutschland erhöhen will, brauchen die Hochschulen hierzulande nicht weitere Stellenkürzungen, sondern im Gegenteil eine Ausweitung ihrer Lehrkörper, damit die Professoren nicht zwischen Forschung und Lehre zerrieben werden und den Studenten die Aufmerksamkeit zu Teil wird, die ihnen gebührt.

Einführung von Studiengebühren
Das alles wird Geld kosten. Geld, das nicht noch zusätzlich den Steuerzahlern abverlangt werden darf. Deshalb muss zur Finanzierung oben skizzierter Veränderungen die Drittmitteleinwerbung der Hochschulen enorm ausgeweitet und die "heilige Kuh" Studiengebühren endlich geschlachtet werden, auch wenn das Kabinett erst jüngst die Gebührenfreiheit des Erststudiums beschlossen hat. Dies erinnert an den berühmten Kampf mit den Windmühlen und entspricht so gar nicht der Tendenz, andere Länder ständig für mehr oder weniger schiefe Vergleiche als Vorbilder anzuführen. Denn fast alle Staaten erheben Gebühren von den Studierenden, so dass Deutschland in dieser Hinsicht immer noch eine Insel der Seligen darstellt, die sich bei zunehmender internationaler Konkurrenz auf dem tertiären Sektor einen Verzicht auf reguläre Studiengebühren nicht mehr lange wird leisten können. Selbstverständlich muss die Einführung von Studiengebühren von einem umfassenden Stipendiensystem flankiert werden, so dass es auch weiterhin allen geeigneten jungen Menschen aus sozial benachteiligten Familien möglich bleibt, zu studieren. So könnte ein bestimmter hoch anzusetzender Prozentsatz an Studenten von den Studiengebühren befreit werden. Erhielten beispielsweise 25% eines Jahrgangs einen Gebührenerlaß, käme man bei Studiengebühren von 500 € pro Semester und einer Gesamtzahl von z.Zt. etwa 1,9 Mill Studierenden auf ca. 1,425 Milliarden € pro Jahr, bei steigenden Studentenzahlen und entsprechend höheren Beträgen von ausländischen Studierenden auf erheblich mehr. Dieses Geld müsste den Hochschulen direkt zugute kommen und für (neues) Personal und eine bessere Ausstattung zur Verfügung stehen. Denn wenn die Studenten für ihre Ausbildung zumindest teilweise aufkommen, können sie dafür auch bessere Serviceleistungen was Öffnungszeiten und Ausstattung der Bibliotheken und Labors angeht sowie eine bessere Lehre erwarten. Und behaupte niemand, es könne nicht sichergestellt werden, dass das Geld auch wirklich den Hochschulen zugute käme und nicht doch in den Taschen des Finanzministers zum Stopfen etwaiger Haushaltslöcher lande - wir leben ja nicht in einer Bananenrepublik!
Die Einführung von Studiengebühren ist notwendig und keineswegs unsozial, wie die im letzten Jahr erschienene OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" zeigt. Zusammen mit der Möglichkeit der Hochschulen, sich die Studenten selbst auszusuchen, bilden Studiengebühren eine Grundbedingung, um eine verbesserte Lehrtätigkeit und vorteilhaftere Forschungsbedingungen zu erhalten. Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wird alles Gerede von mehr Wettbewerb, Profilbildung und Effizienz nur Makulatur bleiben. Exzellenz kann nur dort entstehen, wo die Studierenden das Gefühl haben, ernst genommen zu werden, und den Wissenschaftlern ausgezeichnete Forschungsbedingungen zur Verfügung stehen. Hier bleibt noch viel zu tun, wie nicht zuletzt das Beispiel der letzten vier Physik-Nobelpreisträger aus Deutschland beweist, die allesamt in den Vereinigten Staaten forschen.
Dies gesagt zu haben, bedeutet aber nicht, die deutschen Universitäten in Bausch und Bogen zu verdammen. Trotz aller Schwächen müssen wir uns auch der Vorzüge unseres Systems bewußt werden, das ja so schlecht nicht ist. Immerhin sind die vier Nobelpreisträger zu einem Gutteil in Deutschland ausgebildet worden. Werden die Stärken sinnvoll durch die oben beschriebenen Veränderungen ergänzt, könnte man zu einer Synthese beider Systeme kommen, bei der die jeweiligen Vorzüge im Hegelschen Sinne aufgehoben, d.h. zu etwas qualitativ Neuem emporgehoben werden.

Exemplarisches Lernen
Aber was zeichnet das deutsche Universitätssystem gegenüber dem angelsächsischem aus? Das exemplarische Lehren und Lernen sowie eine gewisse Lernfreiheit der Studenten, zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften. In Zeiten, in denen sich das Wissen der Menschheit alle 5-7 Jahre verdoppelt, bietet ein solches Lernen sicherlich einen entscheidenden Vorteil gegenüber der auf Fleiß und Einpauken basierenden Undergraduate-Ausbildung der angelsächsischen Colleges und Universitäten. Dies sollte man auf keinen Fall leichtfertig aufgeben. Denn es ist einem jungen Menschen mehr damit gedient, an einigen wenigen Beispielen einmal tief in die Materie einzudringen, als jede Woche eine andere Arbeit, die man in der Nacht zuvor zusammengeschustert hat, abgeben zu müssen. Zudem sollte bei den Studierenden ein Maß an Eigenverantwortung und Selbständigkeit gefördert und nicht durch zu genaue Studienpläne gehemmt werden. Hier sollte man nicht bei der Einführung der Bachelor-Studiengänge das Kind mit dem Bade ausschütten und die wenn auch nur flüchtige Begegnung mit der Wissenschaft zugunsten von Fleißarbeiten und eines bis ins Detail vorgeplanten Studienaufbaus aufgeben. Denn unreflektiertes Einpauken hat nichts Bildung zu tun.
Andererseits könnte es vielen deutschen geistes- und sozialwissenschaftlichen Studenten nicht schaden, einmal durch stärkere Leistungskontrollen, die auch als Anreiz und Orientierungshilfe für den Studenten gedacht sind, zu intensiverem Studium und termingerechter Abgabe von Seminararbeiten gezwungen zu werden. Lernfreiheit bedeutet eben nicht Freiheit vom Lernen, sondern eine größere Freiheit bei der Wahl der Themen, denen man sich widmen will. Hier den goldenen Mittelweg zwischen Anleitung und Freiheit zu finden, der keinen Kompromiss, sondern einen Fortschritt auf höherer Stufe darstellt, ist eine ganz wesentliche Aufgabe der Hochschulen bei der Einführung der neuen Studiengänge.
Dieses strukturiertere Studium, das eben keine reine Verschulung sein darf, könnte tatsächlich die Abbrecherquoten senken helfen und die durchschnittlich Begabten zu einem schnelleren Abschluß führen, da die Regelstudienzeit nur 7 Semester bis zum Bachelor beträgt. Dafür müsste aber der B.A. der von den meisten Studierenden anzustrebende Abschluß werden, der auch von der Wirtschaft nicht als Schmalspurabschluß, sondern als die Regel anerkannt wird. Der darauf aufbauende Masterstudiengang sollte nur bei entsprechendem Bachelor-Abschluß möglich sein und sich an den Graduate Schools der amerikanischen (Top)Universitäten orientieren. Denn hier kommt man dem Humboldtschen Ideal der Einheit von Forschung und Lehre ziemlich nah, welches ja an sich noch längst nicht überholt ist, nur bei fast 2 Mill. Studierenden nicht für alle aufrechterhalten werden kann. Allerdings sollte auch hier wieder die Strukturierung nicht übertrieben werden, um der Selbständigkeit und Eigeninitiative der Graduierten genügend Raum zur Entfaltung zu lassen.

Um die deutschen Hochschulen auf dem immer stärker umkämpften Weltmarkt der tertiären Bildung attraktiver und wettbewerbsfähiger zu machen, muß es zu einer umfassenden Erneuerung der Hochschulen ohne Aufgabe sämtlicher Traditionen kommen. Die nur punktuellen Reformversuche der letzten 30 Jahre haben doch trotz bester Absichten oft eher das Gegenteil des Intendierten erreicht. Wichtig für die weitere Entwicklung unseres Hochschulwesens wird sein, sich der eigenen Stärken besser bewußt zu werden und das System dort, wo man etwas von anderen lernen kann, durch eine die strukturellen Unterschiede berücksichtigende Adaption zu verbessern und dabei nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Den goldenen Mittelweg zu finden heisst gerade nicht, falsche Kompromisse, die eher Rückschritte bedeuten, zu schließen, sondern bewährte und bewahrenswerte deutsche Traditionen mit den Vorzügen anderer Hochschulsysteme sinnvoll zu verbinden, um damit eine qualitative Verbesserung zu erzielen. Nur so können die deutschen Hochschulen aus ihrer defensiven Position herauskommen und die Anziehungskraft erlangen, die sie einmal besessen haben.

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