Forum: W. Schmale: Historische Grundwissenschaften international

Von
Wolfgang Schmale, Institut für Geschichte, Universität Wien

Eva Schlotheuber und Frank Bösch sprechen eine zentrale Problematik an. Die These, dass die Historischen Grundwissenschaften ausgebaut, statt abgebaut werden müssen, ist treffend. Die angeführten Gründe sind zutreffend. Mein Kommentar geht aufgrund der grundsätzlichen Übereinstimmung darauf ein, wo weitere Probleme liegen und welche Umsetzung Chancen haben könnte.

Es macht im Jahre 2015 nur bedingt Sinn, den nationalen, das heißt bundesdeutschen, Wissenschaftsraum so in den Vordergrund zu stellen, wie dies im Positionspapier geschieht. England und Österreich werden zu Recht ausdrücklich dafür erwähnt, dass die Historischen Grundwissenschaften dort nach wie vor eine wenigstens angemessene institutionelle Existenz führen. Außer der École des Chartes in Paris ließen sich weitere hier einschlägige Einrichtungen erwähnen, die in einer europäisch gedachten wissenschaftlichen Ausbildungslandschaft ihre Rolle spielen oder wenigstens spielen könnten.

Da der Kommentator an der Universität Wien tätig ist und sich derzeit als Vizedekan für den Geschäftsbereich Lehre mit solchen Fragen auseinandersetzt, läge es nahe, darauf zu verweisen, dass etwa in den Wiener Altertumswissenschaften die gesamten Historischen Grundwissenschaften inklusive der inzwischen beinahe einzigartigen Numismatik, der Epigraphik und Papyrologie gelehrt werden. Dasselbe gilt für die Ägyptologie, die Etruskologie, die Judaistik, oder, auch in Richtung Archiv, Bibliothek, Digitalisate, einschließlich klassischer Felder der Grundwissenschaften, für den Master „Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft“, der durch ein „Erweiterungscurriculum“ im BA-Studiengang Geschichte vorbereitet bzw. ergänzt wird. Studierende aus Deutschland würden ein Studium dieser Kompetenzen in Wien wohl nicht verschmähen – aber in Bezug auf eine europäische Betrachtungsweise wäre das dennoch zu kurz gedacht.

Es bedarf also ergänzend einer entsprechenden Sprachkompetenz für England, Frankreich und andere nicht deutschsprachige Länder, um die an europäischen Universitäten vorhandenen Ausbildungskapazitäten in Historischen Grundwissenschaften breit nutzen zu können. Anders ausgedrückt: In die Studierenden und damit künftigen Forscherinnen und Forscher müsste massiv investiert werden. Weiter gedacht, heißt dies, dass die meisten Studienpläne, beginnend beim BA, verändert werden müssten: Mehr Grundwissenschaften, mehr Sprachkompetenzen aufbauen/fördern, mehr praktische Forschung schon im BA, um die Kompetenzen zu festigen. Mehr die Frage nach der Relevanz von Forschung stellen, und das, was den Studierenden vermittelt wird, mehr auf die tatsächliche praktische Anwendung ausrichten, damit Studierende schon im Studium (ja: auch im BA-Studium) Forschungsergebnisse erzielen, mit denen sie nach Außen gehen können.

Das Problem liegt tatsächlich tiefer: Grundwissenschaftliche Kompetenzen haben sich durch das Auftreten genuin digitaler Quellen wie auch sehr unterschiedlicher Praktiken der Digitalisierung von Quellen vermehrt, während die bisherigen alles andere als obsolet sind. Schon in der Beziehung muss schlicht mehr erlernt werden, was sich auch in Studienplänen niederschlagen muss. Aber damit ja nicht genug: Auch die Geistes- und Kulturwissenschaften dürfen sich nicht dem Umstand verschließen, dass die – ich drücke es bewusst ganz einfach aus – Natur selber eine ausdifferenzierte und umfassende historische Quelle ist. Die Forschung an dieser Quelle ist weitgehend den Naturwissenschaften überlassen, höchstens übernehmen die Geistes- und Kulturwissenschaften von dort Ergebnisse (z.B. für die Umwelt- und Klimageschichte). Ihre eigene Kompetenz, mit solchen Quellen selber umzugehen, steckt noch nicht einmal in den Kinderschuhen. Die damit verbundene interdisziplinäre Forschungsweise müsste sich ebenfalls institutionell niederschlagen, das heißt in Professuren/Lehrstühlen mit entsprechender Doppel- oder Mehrfachkompetenz. Dasselbe gilt mit Blick auf Digital Humanities und Informatik – noch sind Geisteswissenschaftler/innen, die auch ‚genuine‘ Informatiker/innen sind, abzählbar.

Die Digitalisierung von historischen Quellen hat eine gewisse Eigendynamik gewonnen, an der DFG-Programme, wie Schlotheuber und Bösch herausstellen, einen wichtigen Anteil haben. Handelt es sich dabei aber um die Digitalisierungen, die wir für die kommenden großen Forschungsfragen brauchen? Ich kann hier keine Szenarien erstellen, obwohl dies sehr verlockend wäre, aber die Frage an sich gehört diskutiert. Fragen wir uns selbstkritisch, in welche Forschungsdynamiken wir eingebunden sind und ob die tatsächlich etwas wert sind! Vielleicht wäre es wichtiger, die Quellen der Gegenwartsgeschichte unter Einsatz grundwissenschaftlicher Methoden zu digitalisieren bzw. genuin digital entstandene/vorliegende Quellen grundwissenschaftlich zu begleiten und aufzubereiten?

Daher noch einmal: Das Problem liegt tiefer, als es im Paper angedacht wird. Im Grunde ist die Debatte über Historische Grundwissenschaften ein Hebel, ein paar Fragen an den Stand und das Selbstverständnis des Faches zu stellen, die zu wenig gestellt werden.

Eine Übersicht über alle Beiträge des Diskussionsforums finden Sie hier: <http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2890>.