Forum: H. Müller: Schlüsselkompetenzen der Quellenkundigkeit

Von
Harald Müller, Lehrstuhl für Mittlere Geschichte, RWTH Aachen

Dem Positionspapier des VHD kann man mit Blick auf die Situationsanalyse nur zustimmen. Die Kombination aus Grundwissenschaften (die man im modernen Jargon treffender „Schlüsselkompetenzen“ nennen sollte, weil ohne sie der eigenständige Zugang zu den Medien der Vergangenheit und den von ihnen transportierten Inhalten verstellt bleibt) und der in breitester Offensive vorgetragenen Digitalisierung von Kulturgut offenbart in der notwendigen Deutlichkeit die Dimension des Problems: Noch nie standen die Bemühungen zur Sicherung und Verfügbarmachung des historischen Erbes in einem so krassen Missverhältnis zur Aufschlüsselbarkeit wie heute; und erst recht morgen, sofern der Kurs nicht noch deutlich korrigiert wird. Damit droht die Digitalisierungsoffensive in einen medialen, technisch hochwertigen und gut verfügbaren Illustrationsfundus zu münden, der letztlich nurmehr bestaunt, kaum noch bearbeitet werden kann.

Das Papier ist im Kern in einem positiven Sinne konservativ, ohne dass es bei der bloßen Forderung nach Bewahrung stehen bliebe. Die zutreffenden Einzelbeobachtungen müssen hier ebenso wenig wiederholt werden wie die einleuchtende Schlussfolgerung, dass die Hinwendung zu den Digital Humanities und die technisch begünstigte flächendeckende Zurverfügungstellung historischer Originalüberlieferung fundierte Quellen- und Medienkunde sowie Quellenkritik nicht überflüssig machen, sondern im Gegenteil den Ausbau von deren Erforschung und Vermittlung erfordern. Der Appell, den Schlüsselkompetenzen im direkten Umgang mit den jeweiligen Medien der Vergangenheit eine ihrer fundamentalen Rolle in der Wissenserschließung angemessene Aufmerksamkeit und strukturelle Verankerung in Lehre und Forschung zu gewähren, ist folgerichtig. Dabei sollte man allerdings nicht stehen bleiben.

Eine „Verankerung der Grundwissenschaften an möglichst allen Historischen Seminaren“ ist unbestritten wünschenswert, aber in der Perspektive noch sehr vage. Denn es stellen sich für ein solches Vorhaben drei drängende Fragen: erstens welche Disziplinen diesen „Grundwissenschaften“ zuzurechnen sind, ob sie zweitens überhaupt eine Einheit bilden und nicht zuletzt drittens: in welcher Konstellation sie an den Universitäten und Forschungseinrichtungen wissenschaftlich verfolgt und auch gelehrt werden können.

Die sukzessive Reduzierung institutionell verankerter hilfswissenschaftlicher Spezialkompetenz an den Hochschulen, die das Papier konstatiert, und der mangelnde Raum für deren Vermittlung in den eng geschnittenen Curricula der Bachelor- und Masterstudiengänge hat in den letzten Jahren semistrukturelle Auffangmaßnahmen provoziert, die vor allem den Ausbildungsstand des eigenen Nachwuchses in Richtung umfassender Quellenkompetenz durch Sommerschulen oder ähnliches zu heben suchen. Für den Bereich der mittelalterlichen Geschichte sind hier die Blockveranstaltungen etwa der Münchener Professur für Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde oder der Mittelalter-Lehrstühle in Aachen, Düsseldorf und Wuppertal zu nennen, die jeweils in Kooperation mit den Monumenta Germaniae Historica in München durchgeführt werden. Sie demonstrieren beides: die forcierte Randständigkeit, in die die Grundlagenausbildung zusehends geraten ist, und den Kampf dagegen. Diesen Sommerschulen gelingen methodische und theoretische Sensibilisierung und Anleitung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer für Urkundenlehre und die Eigenheiten des Briefs, für die heuristische Problematik einzelner Quellengattungen oder das Aussagepotenzial von Bildquellen auch, weil sie sich konzentrieren, sich spezialisieren auf bestimmte Betrachtungsobjekte, deren Materialität, Überlieferung und Interpretationsmöglichkeiten.

Den „Grundwissenschaften“ als Ganzes wird dies kaum gelingen. Zu vielfältig sind die Anforderungen, die die Vielzahl der Quellengattungen in ihren variablen Erscheinungsformen den Interessierten abverlangen. Medienwandel und Medienwechsel, dazu die Umstellung auf digitale Arbeitsweisen produzieren zudem stets neue Schleier, die es professionell zu lüften gilt. Sie lassen aber auch den Kanon der Disziplinen anwachsen, die zur Aufschlüsselung der Quellen beherrscht werden müssten und die je nach Objekt stark variieren können. Die „Grundwissenschaften“ sind ein gutes Stück weit Werkzeugkasten, aus dem sich Historikerinnen und Historiker situativ angemessen bedienen. Schon das gesamte traditionelle Spektrum der Disziplinen von der Paläografie bis zur Numismatik und von der Kodikologie bis zur Heraldik und Insignienkunde verlangt ein hohes Maß an Spezialisierung in der Forschung. Sie ist in den Hilfswissenschaften deshalb oft sektoral stark fokussiert, mitunter in der Addition der Kennerschaften besonders erfolgreich. Das Disziplinenbündel als Ganzes erscheint dagegen kaum lehrtauglich. Nicht von ungefähr gibt es hier eine hohe Quote von Lehraufträgen für Spezialisten, die das universitäre Angebot mit ihrer forschungspraktischen Expertise anreichern.

Aus diesem Grunde ist es mit dem Plädoyer für eine systematische Verankerung allein nicht getan. Eine solche Verankerung setzte die Ergänzung der noch bestehenden grundwissenschaftlichen Lehrstühle voraus bzw. besser noch den zeitgemäßen Wiederaufbau der mit diesem Namen umschriebenen historischen Disziplinen. Dass dies unter Einschluss einer umfassenden Quellenkunde des Digitalen erfolgen muss, steht außer Frage. Die Faszination des Machens überwiegt auf diesem Feld oft noch zu deutlich die kritische Durchleuchtung der spezifischen Bedingungen der Informationsgenerierung und Kommunikationsgestaltung. Schon deshalb kann es bei der Umsetzung des Positionspapiers kaum um eine bloße Wiederverankerung der „Grundwissenschaften“ alter Schule gehen.

Vielmehr sollten die immense Variabilität der Quellenzugriffe mit den daraus resultierenden vielfältigen methodischen Anforderungen und zugleich die Lehrproblematik bei der Neugestaltung ernst genommen werden. Beides verlangt aus praktischen Gründen eher nach Schwerpunktbildung statt nach kanonorientierter Breite. Dass an den Universitäten mit Blick auf das Mittelalter Kerndisziplinen des Quellenzugriffs wie Paläografie, Diplomatik oder Epigrafik – andere werden mit gutem Grund anderes nennen – zum selbstverständlichen Bestand der Lehre gehört, ist erfreulich oft zu beobachten. Dies lässt sich sicher ausbauen, hierauf lässt sich aber auch aufbauen. Mit Originalüberlieferung zu arbeiten, ist zunächst eine Haltung. Sie setzt die Auseinandersetzung mit und die Aneignung der notwendigen Kenntnisse und Kritikfähigkeit in Gang. Wenn dies an allen Historischen Seminaren und durch alle Epochen als Grundkultur geschichtswissenschaftlichen Arbeitens spürbar würde, wäre für eine Wiederverankerung der Grundwissenschaften der Boden gut bereitet: Quellenkundigkeit allüberall.

Bei der strukturellen Umsetzung sollte man freilich einem Schwerpunktkonzept den Vorzug geben. Nicht an jedem Universitätsstandort kann und muss Diplomatik im Fokus stehen, Paläografie ist von fundamentaler Bedeutung, aber ihre Erforschung hochspeziell. Editionsproblematiken haben mit den Monumenta Germaniae Historica einen weltweit anerkannt kompetenten Ort, das frisch bewilligte Graduiertenkolleg in Wuppertal könnte ein weiterer Nukleus der Thematik werden. Nicht überall kann Kodikologie überzeugend gelehrt und weiter erforscht werden, sicher aber an den großen Bibliotheken mit Handschriftenabteilungen. Für Münzen, Siegel, Bildkunde sind ähnliche Kopplungen denkbar und ist die Bildung von Kompetenzzentren wünschenswert. Denkt man an Verfahren zur Datierung von Objekten, gerät gar die Bindung an geisteswissenschaftliche Institutionen in Zweifel.

Die Wiederverankerung der Grundwissenschaften an den Historischen Seminaren und Instituten ist ein sinnvolles Ziel mit hoher Dringlichkeit. Dem VHD gebührt Dank dafür, dass er das Thema explizit aufgegriffen hat, den Verfassern des Positionspapiers dafür, dass sie dabei die gesamtkulturelle Bedeutsamkeit der Überlieferungskompetenz so entschieden in den Vordergrund gerückt haben. Der Erfolg der hier angestoßenen Ideen wird neben dem Willen der Politik in meinen Augen von zwei Dingen abhängen: der Festigung einer überlieferungsbezogenen und überlieferungskritischen Fachkultur in Forschung und Lehre und der Entwicklung struktureller Umsetzungsvorschläge, die sich von der Vorstellung eines einheitlichen oder durch einen Disziplinenkanon beschriebenen Faches lösen und am spezifischen Quellenzugriff orientierte Spezialisierungen ins Auge fassen.

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