Forum: J. Johrendt: Digitalisierung als Chance

Von
Jochen Johrendt, Historisches Seminar - Mittelalter, Fachbereich A, Bergische Universität Wuppertal

Das Papier beginnt als Klageschrift. Dabei könnte es ein Aufruf sein, ein glücklicher Aufruf zur Nutzung der neuen Chancen für die scheinbar verstaubten Hilfswissenschaften. Denn die Digitalisierung bietet ungeheure Chancen für die traditionell als Hilfswissenschaften bezeichneten Bereiche historischer Forschung und Methode. Diese von ihrem Duktus her vor allem deskriptiv ausgerichtete Teildisziplin hat im deutschen Sprachraum Erhebliches geleistet. Es mag richtig sein, dass die Fähigkeiten, mit Quellen in ihrer originalen Gestalt umgehen und das Erkenntnispotenzial damit voll ausschöpfen zu können, zurückgegangen ist, was zum Teil auch an einer immer stärkeren Konzentration auf den besten Text beruhte. Je perfekter Editionen wurden, desto mehr schoben sie sich zwischen den Forscher und die Quelle, deren Materialität immer stärker in den Hintergrund trat. Doch bekanntlich sind nicht Texte die Grundlage historischer Erkenntnisse, sondern Quellen. Aber diese Entwicklung war sicherlich keine Folge der Politik der Hochschulen, die grundsätzlich eher an wie auch immer gearteten Erfolgen interessiert sind und weniger an der konkreten Ausformung einzelner Fächer. Der beklagte Verlust hilfswissenschaftlicher Fähigkeiten ist durch die Historikerinnen und Historiker hausgemacht, zum Teil auch durch die Hilfswissenschaften selbst, die sich immer stärker von der allgemeinen Geschichte abgesondert haben, indem sie oftmals weniger für das eigene Anliegen werbend sondern vielmehr als der vermeintlich einzig wissende Hüter reiner Wissenschaft auftrat. Das hat der Sache, um die es gehen sollte, sicherlich geschadet. Doch was das Fach ausmacht, welche Fähigkeiten es erfordert, wird von uns geformt – in unserer Forschung, in unserer Lehre. Forschung und Lehre sind frei.

Ein im Papier zu wenig beachteter Aspekt ist nach meiner Einschätzung die potenzielle Scharnierstelle der Hilfswissenschaften zu anderen philologisch-historisch arbeitenden Fächern. Nicht erst durch den material turn sind die Hilfswissenschaften hier das geradezu natürliche Verbindungsglied. Sie stellen das notwendige Instrumentarium für geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung zur Verfügung, die sich mit der Aufarbeitung von Quellen im weitesten Sinne auch jenseits von Editionen beschäftigt.

Wer als Historikerin und Historiker gute Lehre machen will, wer den wissenschaftlichen Nachwuchs bestmöglich qualifizieren will, der wird nie allein mit Texten arbeiten, sondern immer auch mit Quellen in ihrer konkreten Überlieferungsform. Und hier bietet die Digitalisierung ganzer Bibliotheken und immer größerer Mengen von Archivgut enorme Chancen. Nach meiner Erfahrung wollen mit dem Original (in digitalisierter Gestalt) konfrontierte Studierenden in der Regel mehr über die Genese des konkreten Stückes wissen, besuchen freiwillig paläographisch-editorische Übungen oder nehmen an entsprechenden Sommerakademien teil. In Wuppertal existiert ein Masterstudiengang Editions- und Dokumentwissenschaften, in dem klassisch hilfswissenschaftliche Fähigkeiten und moderne informations- und medientechnologische Inhalte miteinander kombiniert werden. Und auch das soeben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligte Graduiertenkolleg „Dokument – Text – Edition. Bedingungen und Formen ihrer Transformation und Modellierung in transdisziplinärer Perspektive“ wird diesen Dialog fruchtbringend fortführen.

Die Zukunft der Hilfswissenschaften kann nicht allein im Bewahren des bisher Erreichten liegen. Die großen Pioniere des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – die sich niemals als Hilfswissenschaftler, sondern immer als Historiker sahen – hoben die Hilfswissenschaften auf ein zuvor unbekanntes Niveau, sie brachen mit alten Traditionen und setzten neue Standards. Sie sorgten dafür, dass diese Disziplin, wie die Autoren des Papiers zu Recht betonten, „zu den international angesehensten Disziplinen der deutschen Wissenschaft“ gehörte. Doch dies gelang sicherlich nicht allein durch ein starres Festhalten an Prinzipien, sondern durch Weiterentwicklungen. Und hier liegt für das Zusammenspiel aus Digital Humanities und Hilfswissenschaften – sei es bei der (computergestützten) Schrifterkennung, der Datierung von Dokumenten, der zuvor nicht gegebenen Vergleichbarkeit von Materialien und vielem mehr – eine erhebliche Chance. Die Chancen, die Hilfswissenschaften mit einer interdisziplinären Ausrichtung wieder zu einer international angesehenen Disziplin zu machen, stehen daher sehr gut – es kommt auf uns Historikerinnen und Historiker an, ob wir diese Chance nutzen wollen.

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