Forum: Interview mit Martina Winkler (Univ. Bremen) und Gudrun Wirtz (Bayerische Staatsbibliothek München)

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Martina Winkler, Universität Bremen; Gudrun Wirtz, Bayerische Staatsbibliothek München

H-Soz-Kult: Herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft zu unserem Gespräch über die entstehenden Fachinformationsdienste (FID). Als Professorin für Kulturgeschichte Ostmitteleuropas mit Schwerpunkt Geschichte der CSSR möchten wir Sie gerne um eine Einschätzung zu, FID Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa bitten; nachstehend finden Sie dazu eine Projektskizze zu dem FID von Gudrun Wirtz, eine der Projektverantwortlichen an der Bayerischen Staatsbibliothek München. Welche Zielstellungen des FID begrüßen Sie und welche schätzen Sie eher kritisch ein?

Martina Winkler: Grundsätzlich habe ich den Eindruck, das Projekt FID Osteuropa versucht, die positiven Elemente der Umstellung von Sondersammelgebieten auf FID zu nutzen und zu füllen und zugleich die Gefahren dieses Prozesses aufzufangen. Neben der Konzentration steht also das vorsorgliche Sammeln. Positiv fällt auch auf, dass Besonderheiten der Region und des Forschungsfeldes, z.B. in Bezug auf e-books, berücksichtigt werden. Nicht ganz klar ist mir, welche Rolle das Sammeln von Quellen, konkret Ego-Dokumenten, in der Gesamtstruktur spielt. Dies erscheint mir einmal strukturell asymmetrisch (es geht doch eigentlich um das Zur-Verfügung-Stellen von Forschung?) und zudem auch inhaltlich sehr eng gedacht.

Gudrun Wirtz: Bei der Literaturbeschaffung im FID geht es – ebenso wie früher im SSG – nicht allein um die Bereitstellung von Forschungsliteratur, sondern auch um die Bereitstellung forschungsrelevanter Quellen. In erster Linie handelt es sich dabei um gedruckte Materialien – in vielen Ländern des östlichen Europa erscheinen beispielsweise seit 1990 in großem Umfang Memoiren. Es war ausdrücklicher Wunsch der von uns befragten Fachcommunity, insbesondere aus den Fachgebieten Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie, dass wir weiterhin umfassend solche Memoiren erwerben und über Fernleihe zur Verfügung stellen. Die digitale Bereitstellung von Ego-Dokumenten führt diesen Wunsch sozusagen weiter, indem auch bislang nicht publizierte Materialien ins Auge gefasst werden, die voraussichtlich auch nicht im Druck erscheinen werden. Um diese überregional zu Verfügung zu stellen, bedient sich die FID-Bibliothek der Mittel der Digitalisierung bzw. des elektronischen Open-Access-Publizierens. Schätzungsweise gehört etwa 80 Prozent der im FID bereitgestellten Literatur zur Forschungsliteratur, etwa 20 Prozent sind Quellen, wobei die Trennlinie zwischen beidem allerdings häufig nicht eindeutig zu ziehen ist.

H-Soz-Kult: Ihre jüngsten Veröffentlichungen beschäftigten sich u.a. mit der tschechischen Geschichtskultur und Bildungspolitik in den 1950er-Jahren sowie der globalen Wissensgeschichte im 19. Jahrhundert. Für unsere Leserschaft möchten wir Sie zunächst bitten, Ihre aktuellen Forschungsthemen etwas näher vorzustellen. Dabei sind wir insbesondere daran interessiert zu erfahren, wie Ihre persönlichen Recherchestrategien aussehen und inwiefern Sie auf die bisher zur Verfügung stehenden Informationsangeboten von Bibliotheken und Informationsdienstleistern zurückgreifen.

Martina Winkler: Gerade abgeschlossen habe ich ein Forschungsprojekt zur Geschichte Alaskas/Russisch Amerikas im 18. und 19. Jahrhundert. Dabei ging es vor allem um Fragen der Globalgeschichte: Imperiale Strategien, Territorialisierung, Raumkonzepte.

Aktuell befasse ich mich mit der Zeitgeschichte der Tschechoslowakei – fokussiert auf erstens Kindheitsgeschichte – wobei vor allem Konzepte von Kindheit sowie Normen und Werte, die mit dieser Lebensphase verbunden wurden, im Zentrum stehen. Konkret schaue ich mir dabei die Nutzung von Kindern/Kindheitsbildern in der Propaganda an, Kinderliteratur, Kinderfilme, Erziehungsratgeber etc. Die Rahmenhypothese besteht in der Annahme, Kindheit in sozialistischen Ländern (konkret der CSSR) sei als eine Variante moderner Kindheitskonzepte zu betrachten und nicht als radikaler Gegensatz zu „westlichen“ Kindheiten. Ich betreue in diesem Rahmen ein Post-DocProjekt zu Kinderheimen und habe verschiedene Doktorandenstellen für die Erforschung von Kinderliteratur sowie zum Thema Kindheit und/oder disability beantragt. Im Kontext dieser Umfrage ist vielleicht nicht ganz unwichtig, dass hier ein klassisches Sondersammelgebiet von zentraler Bedeutung ist: Die Kinderbuchabteilung der Berliner Staatsbibliothek.

Des Weiteren steht die Fotografiegeschichte im Mittelpunkt meines Interesses: Dieses Thema und die entsprechenden Quellenbestände überschneiden sich teilweise mit dem Kindheitsthema. Darüber hinaus befasse ich mich mit Bildern der Invasion der Warschauer Pakt Staaten im Sommer 1968, ihrer Ästhetik, der Schaffung von Konventionen und ihrer kurz- wie langfristigen Rezeption.

H-Soz-Kult: Bitte verraten Sie uns auch noch, welche forschungspraktische Bedeutung das bisherige Sondersammelgebiet und das an der BSB München schon seit langem verfügbare Portal VifaOst für Sie haben bzw. hatten.

Martina Winkler: Für mich persönlich sehr nützlich in der Lehre ist das Digitale Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, schon nahezu unbezahlbar die digitale Version der Bohemia sowie Volltexte über BSB München. Darüber hinaus waren für meine Forschungen aber auch zahlreiche andere Portale sehr wichtig, so beispielsweise das GDZ Göttingen oder die digitalen Kartensammlungen verschiedener US-amerikanischer Universitäten. Letztlich bleibt man bei der Materialsuche nicht bei einem Portal, deshalb erscheint mir ein „Querzugang“, also die Möglichkeit, über eine schlichte, google-ähnliche Suche in Datenbanken einzusteigen, sehr wichtig.

H-Soz-Kult: Die Geisteswissenschaften unterliegen einer digitalen Transformation, die sich in medialen Veränderungsprozessen niederschlägt und zu neuen Formen der Fachinformation geführt hat. Erwarten Sie für sich in den nächsten Jahren eine Hinwendung zu digitalen Publikationsformaten im Open Access?

Martina Winkler: Angesichts der Komplexität des Themas kann ich das nicht wirklich einschätzen. Da gibt es rechtliche Fragen des copyrights, die Interessen der Verlage, und nicht zu vergessen die Tradition des Faches, welche ein gebundenes Buch bei einem renommierten Verlag noch immer sehr schätzt.

Grundsätzlich aber halte ich eine Hinwendung zu digitalen Publikationen und zu Open Access für begrüßenswert: Dies führt zu einer, wenn man so sagen will, Demokratisierung des Wissens und macht den Zugang einfacher und praktischer. Es würde das deutsche Wissenschaftsverlagssystem grundlegend verändern, dies muss aber nicht unbedingt schlecht sein. Es ist ja nicht so, als seien „renommierte“ Verlage eine Garantie für Qualitätskontrolle und vor allem für ein zuverlässiges Lektorat. Zumindest aus Forschersicht ist die Politik deutscher Wissenschaftsverlage, das System der sehr hohen Druckkostenzuschüsse etc. nicht unbedingt immer nachvollziehbar.

Gudrun Wirtz: Die Formen des Open Access und wie sie sich auf den Aufbau eines Fachinformationsdienstes auswirken, sind mannigfaltig: Der Fachinformationsdienst ist heute für seine Zielgruppe nicht mehr nur Lieferant von Informationen, vielmehr ist er mit den Erwartungen konfroniert (die er auch teilweise schone seit Jahren erfüllt) als Verlag zu fungieren. Er kann jedoch meist nur das Pendant einer guten Druckerei sein: Ersetzen kann er allenfalls einen schlechten Verlag, der ohne ernsthafte Redaktion arbeitet, indem er die Qualitätskontrolle entweder gar nicht durchführt oder auf ein Herausgebergremium verlagert, Satz und Korrektur wiederum auf die Autoren selbst abwälzt und seinen Namen auf druckfertige Manuskripte schreibt. Wo dies zusammentrifft mit hohen Kosten aufgrund zu erwartender niedriger Verkaufszahlen, und schlechter Zugänglichkeit wird in den kommenden Jahren die reine Open Access Publikation in der deutschen Osteuropaforschung aller Voraussicht nach zunehmen. Das gilt insbesondere für Kongress- und Sammelbände, aber auch für wissenschaftliche Zeitschriften, wobei letztere, sofern sie bereits etabliert sind, auf einige Jahre hinaus sicherlich noch parallel im Print erscheinen werden. Für beides bietet die ViFaOst mit dem Repositorium OstDok eine Plattform.

Die Erfahrung des vergangenen Jahres zeigt, dass auch namhafte, etablierte Verlage im Bereich der deutschsprachigen Osteuropaforschung sich in Richtung Open Access bewegen und Möglichkeiten der parallelen Publikation anbieten. Allerdings verringern sich die Druckkosten i.d.R. für die Wissenschaftsseite dadurch nicht, sondern sie steigen, weil die Verlage das vemeintliche Risiko des Open-Access-Publizierens auf die Wissenschaft verlagern. Ähnlich wie bei den Zeitschriften stellt sich die Situation lediglich dann anders dar, wenn Reihen neu gegründet werden, die Open-Access-Publikation im Vordergrund steht und nicht primär beim Verlag liegt, der Interesse am Verkauf der Print-Publikation hat.

Eine große Herausforderung für den Fachinformationsdienst sind die Open-Access-Angebote in den Ländern Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas. Sie nachzuweisen und zugänglich zu machen, ist enorm schwierig. Der selbst von Bibliothekaren bisweilen vertretene Glaube, Open-Access mache die Bibliothek überflüssig, ist sehr weit gefehlt. Eine „Erwerbung“ und Erschließung ganz analog zum Geschenk in Print-Zeiten ist notwendig, damit ein Wissenschaftler diese Publikationen findet. Kennt er den Titel, den er sucht, mag er ggf. auch über eine Suchmaschine fündig werden, andernfalls ist es derzeit zumindest fast aussichtslos und enorm zeitaufwändig, im Internet gute Ergebnisse zu erzielen. Die Erschließung innerhalb eines wissenschaftlichen Osteuropakontextes ist hier wesentlich. Diese reicht wiederum aber nicht aus, denn sowohl aus politischen als auch aus finanziellen Gründen sind Open-Access-Publikationen im östlichen Europa häufig nicht zuverlässig langfristig verfügbar. Die Bibliothek muss hier also auch ganz analog zum Print-Buch möglichst die Archivierung gewährleisten. Im Gegensatz zum Print-Buch, bei dem die Aufbewahrung selbstverständlich zum Kauf gehört, geht dies jedoch leider nur mit Zustimmung der Rechte-Inhaber. Auch das Auffinden relevanter Open-Access-Publikation ist ein eigenes Problem: Es gibt keine zuverlässigen umfassenden (landesweiten) Informationsmittel über Open-Access-Publikation – eine funktionierende „Pflichtablieferung“ elektronischer Publikationen analog zum Print-Buch in den jeweiligen Nationalbibliotheken gibt es faktisch bislang kaum. Wo kein kommerzielles Interesse ist, gibt es auch keine Werbung, so dass Buchhandelsprospekte hier auch wenig hergeben.

Selbst wenn man das kaum kleinere Problem der kommerziellen E-Medien beiseite lässt, zeigt sich, dass eine seriöse Fachinformationsversorgung in Zeiten des digitalen Wandels der Bibliothek unvergleichlich viel mehr als noch vor wenigen Jahren abverlangt.

H-Soz-Kult: Kommen wir zur Vorbereitungsphase der neu entstehenden Fachinformationsdienste. Frau Wirtz, wie sind für den FID Osteuropa WissenschaftlerInnen eingebunden worden bzw. wie haben Sie die Bedürfnisse erhoben?

Gudrun Wirtz: Die Konzeption des FID stützt sich auf über Jahrzehnte gesammelte Erfahrungen der BSB als Sondersammelgebietsbibliothek für die Länder des östlichen und südöstlichen Europa, im Rahmen derer die BSB bereits eng mit zahlreichen Forschungs- und Infrastruktureinrichtungen kooperierte, sowie auf eine Reihe weiterer Maßnahmen, die eigens zur Bedarfsermittlung der Osteuropaforschung durchgeführt wurden. Im Interesse möglichst belastbarer Ergebnisse wurden dabei gezielt unterschiedliche methodische Ansätze gewählt: In Hinblick auf die Verhandlungen von FID-Lizenzen für elektronische Medien, aber auch zur Festlegung des Profils des FIDs sowie für die anstehende Öffentlichkeitsarbeit wurde 2014 eine umfangreiche Community-Analyse erstellt. Erfasst wurden insgesamt 792 an Universitäten und außeruniversitären Institutionen tätige Wissenschaftler mit Status, institutioneller Zugehörigkeit, Kontaktdaten sowie fachlichen und regionalen Schwerpunkten. Der fachlichen und geographischen Profilbestimmung des FIDs bzw. des FID-Portals diente weiterhin eine Analyse der laufenden Abonnements des Osteuropa-Neuerwerbungsdienstes der BSB. Zum selben Zweck wurden Nutzungsanalysen (Aus- und Fernleihen, Dokumentlieferung) der Zeitschriften und Monographien der Osteuropasammlung seit 2010 durchgeführt. Des Weiteren wurden in sechs außeruniversitären Forschungseinrichtungen Gesprächsrunden veranstaltet und zahlreiche persönliche und telefonische Einzelgespräche mit Hochschullehrern, Vertretern von Fachverbänden und Bibliothekaren geführt. Eine ausführliche Abstimmung mit der 2010 gegründeten Arbeitsgemeinschaft außeruniversitäre Forschungs- und Infrastruktureinrichtungen der historischen Ostmitteleuropaforschung, in der die BSB aktives Mitglied ist, erfolgte im Rahmen des Jahrestreffens Anfang 2015. Mit den Institutsdirektoren der in gemeinsamen DFG-Projekten kooperierenden Einrichtungen (CC, HI, IOS) wurden im Rahmen eines Workshops Möglichkeiten und Erwartungen an den künftigen FID diskutiert und abgestimmt. Auf Informationsveranstaltungen für Nachwuchswissenschaftler wurden außerdem gezielte Gespräche zur Bedarfsermittlung geführt. Schließlich wurde Anfang 2015 eine ausführliche Umfrage durchgeführt, die dem fachlichen Zuschnitt sowie der endgültigen Konzeption des FID-Portals diente. Um bessere Ein-blicke in die Literaturversorgung der Osteuropaforschung durch Hochschulbibliotheken in Bezug auf Grund- und Spitzenbedarf zu gewinnen, wurden von einer Reihe unterschiedlich großer Bibliotheken Erwerbungszahlen und Profilangaben erbeten und ausgewertet. Auf einschlägigen osteuropaspezifischen bibliothekarischen Veranstaltungen wurden zudem die anstehenden Fragen in unterschiedlichen Formaten diskutiert.

H-Soz-Kult: Frau Winkler, wie ist dieser Abstimmungsprozess im Fach wahrgenommen worden und wie kann er Ihrer Meinung nach fortgesetzt werden bzw. welche Schwerpunkte wären darin zu setzen?

Martina Winkler: Aus meiner Perspektive gab es eine relativ große Skepsis gegenüber den FID, nicht unbedingt gegenüber den Vorbereitungsprozessen. Ich war selbst allerdings an keiner dieser Befragungen beteiligt und kann deshalb nicht viel dazu sagen.

Gudrun Wirtz: Die Skepsis seitens der Wissenschaft war in der Tat groß, bezog sich allerdings in erster Linie auf die von der DFG angekündigten Veränderungen. Es gab große Befürchtungen des Verlusts an Substanz, des Einkehrens amerikanischer Verhältnisse (der Reichtum der Universität bestimmt die Qualität der Forschung), des Ausschlusses von Studierenden von der Nutzung wichtiger elektronischen Ressourcen etc. Daran, wie unterschiedlich die DFG-Vorgaben in den bewilligten FIDs umgesetzt werden, sieht man, dass diese Befürchtungen teils zu Recht bestanden. Einige FIDs verzichten heute weitestgehend auf die Erwerbung von gedruckter Literatur und konzentrieren sich allein auf die Etablierung von Services. Damit entsteht einerseits ein höherer Druck auf Universitätsbibliotheken, die im FID fehlende Literatur, selbst anzuschaffen, andererseits werden gerade abseitigere ausländische Publikationen schlicht unerreichbar. Die Vorstellung, bei Bedarf per internationaler Fernleihe beliebig ausländische Literatur beschaffen zu können, geht leider an der Realität vorbei. Ein Qualitätsverlust in der Wissenschaft scheint damit unvermeidbar.

Glücklicherweise erfuhr der FID Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa im Vorfeld der Antragstellung sehr starke Unterstützung seitens der Wissenschaft und das Konzept der weiterhin vorausschauenden Erwerbung überzeugte Gutachter und DFG. Ca. 30.000 Bücher und Aufsätze stellt die BSB jährlich Osteuropaforschern außerhalb Münchens per Fernleihe und Dokumentlieferung zur Verfügung (hinzu kommt der Zugriff auf ca. 80.000 digitalisierte Titel), und das wird in den kommenden Jahren voraussichtlich so bleiben.

Der Abstimmungsprozess in den Fächern soll in der jetzigen Förderphase „institutionalisiert“ werden: Die Kontakte zu Fachverbänden werden intensiviert, und es wird ein FID-Beirat einberufen, in dem die universitäre Forschung stärker als bislang in den Projekten ViFaOst und OstDok, wo wir in erster Linie mit außerunviersitären Institutionen der Osteuropaforschung zusammenarbeiten, vertreten sein wird.
Ihre Antwort, liebe Frau Winkler, verdeutlicht die Tücke von Umfragen, die per Mail versandt werden – unsere große Umfrage im Frühjahr 2015 ging laut unserer Dokumentation auch an Sie. Um das „Verschwinden“ in übervollen Mailkontos zu vermeiden, wird die 2017 oder 2018 durchzuführende Umfrage als kurze Online-Umfrage auf dem FID-Portal konzipiert werden.

H-Soz-Kult: Für die Osteuropaforschung ist der Umgang mit Quellen und Literatur in verschiedenen Sprachen eine Grundvoraussetzung. Daher spielt die Unterstützung von Mehrsprachigkeit in der Recherche und Materialbereitstellung in der Erschließung von Zeitschriften eine große Rolle im neuen FID. Welche Bedeutung haben Fachdatenbanken für Aufsätze bzw. Volltexte in dieser Hinsicht. Welche Erfahrungen haben Sie in der Nutzung gemacht und wo Sie sind auf Grenzen gestoßen?

Martina Winkler: Die Mehrsprachigkeit beispielsweise der auf VifaOst versammelten Datenbanken ist beeindruckend. Angesichts des sehr großen technischen Aufwands einer solchen Bereitstellung frage ich mich aber zuweilen, ob all dies wirklich notwendig ist. In der Forschungspraxis (zumindest in meiner) ist doch die eine hochsystematische Recherche eher die Ausnahme. Meist arbeitet man sich schrittweise in ein Thema ein, und das gute alte Schneeballsystem bleibt hier von entscheidender Bedeutung. Insofern sehe ich es auch nicht als so fürchterlich problematisch an, eine Datenabfrage in mehreren Schritten (d.h. in mehreren Sprachen) durchzuführen. Mehrsprachigkeit einer Datenbank ist für mich ein Luxus, keine Notwendigkeit.

Gudrun Wirtz: Dass die Mehrsprachigkeit einzelner Datenbanken ein Luxus ist, denke ich auch, insbesondere wenn es um deren Benutzungsoberfläche geht. Die verschiedenen Ansätze in den FID-Vorhaben zielen allerdings auf zwei Punkte, deren Mechanismen für die Nutzer weitgehend im Verborgenen liegen:

1. Das einheitliche Suchen von Dokumenten in kyrillischer und lateinischer Schrift

2. Einen einheitliche sachliche Suche nach Aufsätzen in west- und osteuropäischen Sprachen

Ad 1.) Um gute Suchergebnisse zu erzielen, muüssen die NutzerInnen von Osteuropa-Fachinformationsangeboten bislang streng genommen wissen: Sind die Metadaten in Originalschrift oder in Transliteration? Welche Transliteration wird verwendet – deutsch, amerikanisch, französisch? Gibt es außer den Metadaten andere durchsuchbare Daten, die ggf. nicht transliteriert sind und die anders gesucht werden müssen (Volltexte, Inhaltsverzeichnisse etc.)? Und wenn NutzerInnen parallel mehrere Datenquellen durchsuchen möchten, müssen sie sich fragen, ob die Daten identisch aufbereitet sind, was natürlich nie der Fall ist. Bei der Datenfülle heutiger Kataloge und Datenbanken sind NutzerInnen erfahrungsgemäß hiermit völlig überfordert. Leider aber bekommen sie häufig zugleich wenig Indizien dafür, dass sie auf andere Weise bessere Ergebnisse hätte erzielen können – er bekommt ja bei der Datenfülle meistens irgendetwas. Ich betrachte es als Aufgabe der Fachinformationsbibliothek, die NutzerInnen dieses Problems möglichst zu entheben.

Ad 2.) Aufsatzdatenbanken kranken meist an fehlenden sachlichen Suchmöglichkeiten, weil diese zu erstellen, personell extrem aufwändig ist. Umgekehrt gibt es tausende für die Osteuropaforschung relevanter Zeitschriften, die in keiner Aufsatzdatenbank erschlossen werden, und demnach auch leider wenig genutzt werden. Will man hier Abhilfe schaffen, müssen automatisierte Verfahren zum Einsatz kommen. Bei automatisierten Verfahren zur sachlichen Erschließung ist es entscheidend, dass andere Sprachen im Rahmen der eingesetzen Mechanismen „verstanden“ werden, d.h. für eine deutsche Beschlagwortung deutscher und russischer Aufsätze, muss das eingesetzte System Russisch umgehen können. Dass dabei dann neben deutschen auch russische Schlagwörter „abfallen“ bzw. die Datenbank selbst vielsprachig wird, ist sozusagen ein Nebenprodukt. Den einheitlichen sachlichen Sucheinstieg in einer Sprache halte ich für eine multidisziplinäre und transnationale Osteuropaforschung mit potentiell relevanten Publikationen in mindestens 20 Sprachen hingegen gewissermaßen einen ziemlich essentiellen Luxus – wir würden für die Aufsätze das leisten, was wir für unsere Monographien seit Jahrhunderten tun.

H-Soz-Kult: Welche Veränderungen erwarten Sie nach der Bereitstellung der neuen FID-Angebote und welche Wünsche und Vorschläge würden Sie an eine Weiterentwicklung des FID Ost-, Ostmitel- und Südosteuropa knüpfen?

Martina Winkler: Ich begrüße das Engagement und die Professionalität, mit der dieses Projekt angegangen wird. Das lässt hoffen, dass wir hier tatsächlich eine entscheidende Verbesserung gegenüber manchen altenverstaubten Fachlesesälen erleben werden. Auch die Bündelung halte ich grundsätzlich für gut, vereinfacht sie doch die Suche nach Literatur. Hochproblematisch finde ich an der ganzen Sache die Wettbewerbsstruktur, die Einbindung eines Bibliotheks-Service in das Ausschreibungssystem der DFG. Es steht zu befürchten, dass die Bibliotheken – ganz ähnlich wie Forscher – in Zukunft vor allem mit dem Schreiben von Anträgen, Gutachten und Evaluationsberichten befasst sein werden und kaum noch Zeit haben werden für ihre eigentlichen Aufgaben.

In ganz anderer Weise bleibt interessant, wie das Gebiet „Osteuropa“, das wir wieder und wieder dekonstruiert haben, hier nochmals und mit verstärkter Bedeutung rekonstruiert wird.

Gudrun Wirtz: Wir sind sehr froh über die gute Resonanz unserer Bemühungen in der Wissenschaft und dankbar für Ihre positive Einschätzung. In der Tat war der Aufwand für unseren ersten FID-Antrag vergleichsweise hoch. Kurzzeitig hatten wir die Hoffnung, dass auf der anderen Seite im Vergleich zum früheren SSG-System, wo wir jährlich Berichte und Anträge schrieben, eine Bewilligung für drei Jahre etwas Luft verschaffen würde. Dies hat sich aber leider als illusorisch erwiesen: Nach anderthalb Jahren ist ein Zwischenbericht fällig, nach zweieinhalb Jahren ein wiederum aufwändiger Folgeantrag und nach drei Jahren ein Abschlussbericht. Während dieser Zeit aber müssen die anspruchsvollen Ziele auch umgesetzt werden. Es bleibt zu hoffen, dass eine Lösung für eine Förderung der Fachinformationsdienste über sechs Jahre hinaus gefunden werden wird.